© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/04 26. März 2004

Die Belastungen sind gewaltig
EU-Erweiterung: Das Osteuropa-Institut München legte eine Studie über die Konsequenzen des EU-Beitritts der Türkei vor
Alexander Griesbach

Wer das Ende der EU als politisches Projekt herbeisehnt, muß für die Aufnahme wei-terer Staaten plädieren, insbesondere der Türkei - dieses Urteil stammt von Ludwig Watzal, einem der profiliertesten deutschen Nahost-Experten. Die rot-grüne Bundesregierung, insbesondere Bundesaußenminister Joseph Fischer, macht sich seit geraumer Zeit für die Aufnahme der Türkei in die EU stark.

Hier mögen innenpolitische Erwägungen eine Rolle spielen: Von den knapp 500.000 türkischstämmigen Wahlberechtigten in Deutschland würden laut einer Umfrage 60 Prozent die SPD wählen, 17 Prozent Fischers Grüne, aber nur zwölf Prozent die Unionsparteien. Offiziell führt Rot-Grün in erster Linie sicherheitspolitische Argumente für einen EU-Beitritt der Türkei ins Feld. Angeblich bedeute es, so Fischer, einen "ungeheuren Zuwachs an Sicherheit", wenn es mit der Türkei gelänge, ein Beispiel dafür zu schaffen, daß der "islamische Glaube und die Werte der europäischen Aufklärung" keinen Gegensatz darstellten.

Welche Konsequenzen ein derartiger Beitritt für die EU und insbesondere für Deutschland nach sich ziehen würde, darüber verliert Stratege Fischer allerdings kein Wort. Und schon gar nicht dürfe dieses für die weitere Entwicklung der EU so folgenreiche Thema in Wahlkämpfe hineingezogen werden. Wer sich diesem "sanftem Totalitarismus" nicht beugen will, kann jetzt auf eine wissenschaftliche Grundlage bei der Beurteilung der Konsequenzen eines EU-Beitrittes der Türkei zurückgreifen. Diese wurde vom Osteuropa-Institut München (OEIM) herausgegeben und trägt den Titel "EU-Beitrittsreife der Türkei und Konsequenzen einer EU-Mitgliedschaft" (Working Papers 252/Januar 2004). Diese Arbeit wurde übrigens im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen erstellt - an dessen Spitze bekanntlich Hans Eichel (SPD) steht.

Vor welchem Problemhorizont die EU stünde, wenn die Türkei im Jahre 2013 Mitglied der EU würde, verdeutlicht der Vorspann zur Kurzfassung der OEIM-Studie ("Die Türkei in der Europäischen Union?", Kurzanalysen und Informationen 11/März 2004): Die Türkei wäre "eines der politisch einflußreichsten, wirtschaftlich indes eines der schwächsten Mitglieder. Mit einer Bevölkerung von zirka 79 Millionen käme ihr politischer Einfluß ... etwa dem Deutschlands gleich, während ihr Anteil an der Wirtschaftskraft nur zirka drei Prozent der erweiterten Union (EU-28) betrüge (Deutschland 2013 zirka 18 Prozent)". Die Studie läßt keinen Zweifel daran, daß die Mitgliedschaft der Türkei weitreichende Implikationen für die EU mit sich bringen würde. Schon die Aufnahme der Staaten Mittel- und Osteuropas (MOE) verändere die EU von einer Union "reicher Industrienationen" zu einem "heterogenen Klub mit einer beachtlichen Anzahl von Schwellenländern".

Käme es bis 2013 - einschließlich der Türkei - zu einer EU-28, stiege die Anzahl der Kohäsionsstaaten von drei auf mindestens 15, ihr Bevölkerungsanteil vergrößerte sich von 16 auf 36 Prozent, das Gewicht ihrer Parlamentsstimmen nähme von 18 auf 41 Prozent zu und die Bedeutung der Ratsstimmen auf 43 Prozent. Ihr Anteil an der Wirtschaftskraft bliebe aber mit zehn Prozent konstant. Wolfgang Quaisser, der Verfasser der Kurzstudie, folgert: "Hinter dieser im Verhältnis zur Wirtschaftskraft unverhältnismäßigen Machtverschiebung zugunsten der Kohäsionsländer stehen gewaltige Gefahren, insbesondere hinsichtlich der Ausdehnung kostenträchtiger Politikbereiche."

Visionäre wie Kanzler Gerhard Schröder oder Fischer weigern sich aus kurzsichtigem Kalkül heraus, diese Gefahren überhaupt anzusprechen. Dabei wird gerade ihnen weitgehendes Versagen bei der Thematisierung und Durchsetzung wichtiger Reformvorhaben im Vorfeld der EU-Osterweiterung nachgewiesen, die für einen EU-Beitritt der Türkei dringend notwendig wären: "Die Chance, weitreichende Reformen in der gemeinsamen Agrar- (GAP) und Strukturpolitik durchzuführen, wurde vor der Osterweiterung weitgehend verpaßt. Sie sind aber aus finanzieller und organisatorischer Sicht vor dem Beitritt der Türkei zwingend notwendig ... Die zunächst moderaten Kosten eines EU-Beitritts der Türkei (Einstiegsszenario: Nettotransfer 5,2 Milliarden Euro) stiegen bei vollständiger Integration in die bisherigen EU-Politiken aber deutlich (maximal 14 Milliarden Euro)."

Davon müßte Deutschland etwa 2,5 Milliarden Euro pro Jahr tragen. Hinzu käme das "Migrationspotential der Türkei", das insbesondere für Deutschland als "beträchtlich einzuschätzen" sei. Was dies konkret heißt, kann in der Langfassung der Studie nachgelesen werden: Dies gelte insbesondere für "Personen aus Anatolien und ländlichen Gebieten, jenen Regionen mit dem größten Migrationsdruck, die einen überproportionalen Anteil an der türkischen Bevölkerung in Deutschland haben".

Schon seit 1973 schlage sich die Zuwanderung nach Deutschland "nicht in einer höheren Anzahl von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen nieder", stellen die Autoren Wolfgang Quaisser und Alexandra Reppegather weiter fest. "Diese Entwicklung ist auch ganz deutlich an der türkischen Bevölkerung in Deutschland zu beobachten und auf die Zuwanderung zurückzuführen, die nicht an Arbeitsmigration gekoppelt ist." Das "zusätzliche Migrationspotential" für die Türkei wird, je nach Einkommensdifferenz zu den Staaten der EU, auf maximal 4,4 Millionen Türken geschätzt. Deutlicher gesagt: en passant wird hier festgestellt, daß sich das hochindustrialisierte Deutschland seit Jahrzehnten einen Unterschichtstransfer aus der Türkei leistet, der im Falle eines Türkei-Beitritts - ungeachtet aller möglichen Übergangsregelungen - noch einmal ansteigen würde.

Daß alle diese Zahlen bei der Entscheidung, ob die Türkei EU-Mitglied wird oder nicht, eine bestenfalls marginale Rolle spielen werden, zeigen die Ausführungen der Studie zu der Frage, wie realistisch ein Beitritt der Türkei zur EU überhaupt sei: "außen- und sicherheitspolitische Argumente" dürften den Ausschlag geben. Als denkbar wird ein Beitritt für die neue Finanzperiode ab 2013 angesehen, also nach dem geplanten Beitritt von Rumänien und Bulgarien, der im Jahre 2007 stattfinden soll. Um einen EU-Beitritt der Türkei verkraften zu können, werde allerdings eine "Neuregelung der inneren Verfassung der EU" benötigt.

Mit anderen Worten: Mit einem EU-Beitritt der Türkei muß trotz aller erdrückenden Gegenargumente gerechnet werden. Der eingangs zitierte Watzal sieht nicht als einziger das Projekt einer Einigung Europas dadurch tödlich gefährdet. "Der politische Masochismus, sich ohne Not gleichzeitig in mehrere Klingen zu stürzen und vitale Interessen der EU und ihrer Mitgliedstaaten rigoros zu mißachten", so stellte etwa der Historiker Hans-Ulrich Wehler fest, "sucht in der neueren Geschichte seinesgleichen."

Anstatt Beitrittsverhandlungen zu erwägen, sollte man, so Wehler, endlich über Kompensationen nachdenken, wie durch Assoziation, Zollunion, Finanzhilfen und andere Kooperationsformen die türkische Enttäuschung über die gebotene Absage auf längere Sicht auszugleichen wäre und der Türkei auf ihrem Weg in die westliche Moderne geholfen werden könnte.

Es steht zu befürchten, daß es diese EU und allen voran die Vertreter der rot-grünen Bundesregierung vorziehen, sich statt dessen in "mehrere Klingen zu stürzen". Die Rechnung hierfür wird vor allem Deutschland in Form eines weiter steigenden türkischen Migrationsdruckes und höherer Finanztransfers an die EU begleichen müssen.

Foto: EU-Kandidat Türkei: 2013 wahrscheinlich 79 Millionen Einwohner


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