© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/04 09. April 2004

Eisiger Wind aus dem Osten
Die EU-Erweiterung verschärft unsere Probleme im Wirtschafts- und Sozialbereich
Paul Rosen

In wenigen Wochen wird der Jubel kein Ende nehmen wollen: Regierung und Opposition in Berlin werden von der endgültigen Überwindung der historischen Spaltung Europas sprechen, wenn zehn mittel-, ost- und südeuropäische Länder in die Europäische Union aufgenommen werden. Es entsteht ein Wirtschaftsraum, der von der iberischen Halbinsel bis kurz vor St. Petersburg und von Lappland bis Zypern reicht. Entsprechend groß ist der Berg der Probleme, den sich die alten Mitgliedsländer ins Haus holen werden.

Mitte der 1990er Jahre wurde die Lage von deutschen Politikern völlig falsch eingeschätzt: Damals wurden besonders Edmund Stoiber und seine CSU nicht müde, vor Heerscharen osteuropäischer Gastarbeiter zu warnen, die den deutschen Arbeitsmarkt überrennen würden.

Schließlich hat das vereinigte Deutschland die längste Grenze mit den Beitrittsländern. Stoiber verlangte Einreiseverbote für Gastarbeiter und Dienstleister. Der Bayer irrte sich gewaltig. Die Reisewelle geht genau in die andere Richtung. Tausende deutscher Unternehmen ziehen hinter die alte Grenze, um bei niedrigen Steuersätzen, ohne Tarifverträge und mit willigen Arbeitnehmern Waren herzustellen, die unter den deutschen Wettbewerbsbedingungen nicht mehr lange produziert werden könnten. Zurück lassen sie ein größer werdendes Heer von Arbeitslosen und Frührentnern.

Der Chef eines deutschen Reifenunternehmens brachte die Dinge auf den Punkt: Er werde in Westeuropa keine Werke mehr bauen, da er in den neuen EU-Ländern Monatslöhne von 400 Euro zahle und dafür Arbeitskräfte mit Abitur und Fremdsprachenkenntnisse bekomme. In Deutschland müsse er seinem Personal 2.000 Euro bezahlen, Abitur habe keiner, und Fremdsprachenkenntnisse seien nicht verbreitet. Von den rund 1.200 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen, die in der Bundesrepublik jeden Tag wegfallen, dürfte ein großer Teil in den früher hinter dem Eisernen Vorhang liegenden Ländern neu entstehen.

Folgende Staaten werden vom 1. Mai an zur EU gehören: Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Malta und Zypern. Die zehn Länder schaffen mit einer Wirtschaftsleistung von rund 450 Milliarden Euro nur ein Zwanzigstel des zusammengerechneten Bruttoinlandsprodukts der heutigen EU-Länder. Aber die Neuen haben ihre Hausaufgaben für den Beitritt gemacht, während hierzulande nicht einmal eine Debatte über den Ernst der Lage geführt wurde. Vorbei sind die Zeiten, wo man für eine Deutsche Mark noch ein Bündel polnischer Geldscheine erhielt. Die Inflation wurde in allen Beitrittsländern erfolgreich bekämpft. So sank die Preissteigerung in Polen von 15 (1997) auf ein Prozent. Und gerade Polen, das das wirtschaftsstärkste und größte Beitrittsland ist, konnte seine Wirtschaftsleistung seit 1990 um gut 50 Prozent erhöhen. Die jährlichen Wachstumsraten in den baltischen Staaten liegen bei sechs Prozent, während Deutschland Stillstand meldete.

Darüber hinaus taten die Beitrittsländer etwas für ausländische Investoren: Fast überall liegen die Steuersätze erheblich unter westeuropäischem Niveau. Die Folge war ein Kapitalfluß ohnegleichen: "Investoren sind schon vor Ort", freute sich das Institut der Deutschen Wirtschaft und meldete, daß die Tschechische Republik allein 2002 8,2 Milliarden Dollar von ausländischen Investoren erhalten habe. Das sind 3.400 Dollar pro Kopf der Bevölkerung. Entsprechend stieg der Lebensstandard. Machte das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt je Einwohner 1995 gerade 40 Prozent des EU-Niveaus aus, so sind es heute fast 50 Prozent.

Vor diesem Hintergrund war es nur schlüssig, daß der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Ludwig Georg Braun, das deutsche Großkapital aufrief, "jetzt selbst zu handeln und die Chancen zu nutzen, die zum Beispiel in der Osterweiterung liegen". Kanzler Gerhard Schröder und die SPD zettelten daraufhin eine Patriotismus-Debatte an, was die Öffentlichkeit ein paar Tage erfreute, aber niemandem weiterhalf.

Denn die Probleme sind andere. Die Bundesrepublik hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht: Die Steuern sind zu hoch, das Tarif-, Arbeits- und Umweltrecht ist zu starr. Keine Rolle spielte es bisher in Berlin, daß die neuen Bundesländer weitgehend aus der EU-Förderung herausfallen werden, weil sie im Vergleich zu den hintersten Winkeln der Slowakei als "reich" gelten. Gefördert wird künftig östlich der deutschen Grenzen, und weil dies eine Herkulesaufgabe ist, wollen die Brüsseler Kommissare von 2007 bis 2013 rund 330 Milliarden Euro mehr für Strukturförderung ausgeben, 32 Prozent mehr als heute. Der deutsche EU-Bruttobeitrag würde von 22 auf 38 Milliarden in 2013 steigen. "Das überfordert uns. Das machen wir nicht mehr mit", wetterte Stoiber. Von der rot-grünen Koalition in Berlin wird das Ausmaß der Probleme nicht gesehen oder schöngeredet. "Deutschland soll sich nicht als Geizkragen Europas geben", sagte der Grünen-Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit.

Allerdings gibt es eine andere Seite der Medaille: Die so groß gewordene EU wird sich dem Zustand der Unregierbarkeit nähern. Die Umsetzung Brüsseler Verordnungen selbst im kleinsten lettischen Dorf kontrollieren zu wollen, dürfte sich als unmöglich herausstellen. Das europäische Haus wird Risse bekommen, weil seine Statik durch die Erweiterung nicht mehr stimmt. Der Wohlstand in Deutschland wird ohnehin nur noch auf Pump finanziert. Zurückgehende Einnahmen in Sozial- und Steuerklassen werden zu heftigeren Verteilungskämpfen führen.

Bei weiter sinkendem Wohlstand und geringem Wirtschaftswachstum wird sich die Zahlmeisterrolle Deutschlands in einigen Jahren von alleine erledigt haben. Dann sitzen nicht nur Südeuropäer, die bisher am meisten aus den EU-Töpfen bekamen, sondern auch die neuen EU-Staaten am leeren Brüsseler Tisch. An Reformen kommt die Bundesrepublik aber auch dann nicht vorbei: Denn die Konkurrenz mit gut ausgebildeten Arbeitnehmern und niedrigen Steuern ein paar Kilometer östlich bleibt.

Zu den Gewinnern der EU-Osterweiterung gehören auf jeden Fall osteuropäische Mafia und andere Formen der organisierten Kriminalität: Angesichts der nach dem 1. Mai weitgehend aufgehobenen Grenzkontrollen dürfte der Schmuggel und Menschenhandel drastisch zunehmen. Einen Spitzenplatz hat die wirtschaftlich darbende Hauptstadt Berlin wenigstens noch: Sie ist bereits heute europäische Drehscheibe des Zigarettenschmuggels. Diese Position wird Berlin nach dem 1. Mai festigen können.


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