© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/04 09. April 2004

Der Markt kennt keinen Patriotismus
Abwanderung von Arbeitsplätzen: Um wettbewerbsfähig zu bleiben, kann sich die deutsche Industrie der globalen Tendenz der Auslagerungen kaum widersetzen
Alexander Griesbach

Als der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Ludwig Georg Braun, in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel erklärte: "Ich empfehle den Unternehmen, nicht auf eine bessere Politik zu erwarten, sondern jetzt selbst zu handeln und die Chancen zu nutzen, die zum Beispiel in der Osterweiterung liegen. Das ist letztlich auch ein Rezept zur Sicherung von Arbeitsplätzen und Lehrstellen in Deutschland", dürfte er sich kaum darüber im klaren gewesen sein, welchen Aufschrei der Empörung er mit diesen Äußerungen provozieren würde. Um aus dem vielstimmigen Geschrei, das auf diese Einlassung hin insbesondere aus dem rot-grünen Lager zu hören war, nur den neuen SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter zu zitieren: Er erklärte im MDR, der DIHK-Präsident betätige sich "vaterlandslos" und mißbrauche seine Stellung dafür, die Bundesrepublik und ihre Wirtschaft schlechtzureden. "Das ist eine unanständige Art und Weise, mit unseren Möglichkeiten umzugehen."

In den siebziger Jahren galt Benneter als Vertreter des sogenannten "Stamokap-Flügels", einer Gruppierung in der SPD und innerhalb der Jusos, die sich der Theorie eines "staatsmonopolistischen Kapitalismus" verpflichtet fühlte. Im aktuellen Stadium des Kapitalismus, so der Kern dieser Theorie, sei der bürgerliche Staat zwar Instrument der Konzerne und Banken. Durch eine aktive Konjunkturpolitik ("Keynesianismus") und durch die hohe Staatsquote übe er aber auch erheblichen Einfluß auf die kapitalistische Ökonomie aus. Damit würde die kapitalistische Ökonomie für politische Zugriffe geöffnet. In Deutschland wurde diese Theorie vor allem von der DKP vertreten, die sich in ihren Vorstellungen eng an die Sichtweise der SED anschloß.

Von einem derartigen Szenario ist der globalisierte Kapitalismus heute mehr denn je entfernt. Der staatliche Einfluß auf die Ökonomie schmilzt in Zeiten grenzenloser Faktormobilität (Arbeit und Kapital) wie Butter in der Sonne. Die heutige entgrenzte Ökonomie kennt keine nationalen Bindungen mehr, sondern wird von den Verwertungsinteressen des Kapitals gesteuert. Vor diesem Hintergrund wirken die Äußerungen eines Klaus Uwe Benetter und anderer rot-grüner Spitzenpolitiker seltsam hilflos. Daß ein Ex-Marxist wie Benetter, der nach seiner Wiederaufnahme in die SPD im Jahre 1983 vor allem als struktureller Opportunist auffiel, heutigen Unternehmern "Vaterlandslosigkeit" vorwirft, paßt in das Gesamtbild eines aalglatten Karrieristen, der sich mit Unterstützung des heutigen Bundeskanzlers in der Parteihierarchie heraufgedient hat.

Trend zur Verlagerung ins Ausland ungebrochen

Wie berechtigt ist denn überhaupt der Vorwurf der "Vaterlandslosigkeit" in Zeiten einer globalisierten Wirtschaft? Dieser Vorwurf fokussiert sich vor allem auf die Auslagerung von Zulieferungen und Dienstleistungen, die bislang innerhalb eines Unternehmens erbracht wurden, an externe Partner (vor allem im Ausland). Insbesondere Großunternehmen nutzen die Möglichkeit zur Auslagerung, um Kosten zu reduzieren und um sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren zu können. Jüngstes Beispiel hierfür ist die Siemens AG. Bei dem Münchener Elektro- und Elektronikkonzern werden derzeit alle Bereiche auf ihre Kosten hin überprüft. Sparten, die sich als zu teuer erweisen, müßten mit der Verlagerung ins Ausland rechnen. "Es geht längst nicht mehr um einfache Fertigungsarbeitsplätze, sondern um Hightech-Jobs", erklärte Ralf Heckmann, der Gesamtbetriebsrat des Unternehmens, gegenüber dem Berliner Tagesspiegel. Die Größenordnung, um die es hier geht, soll im fünfstelligen Bereich liegen, will die Nachrichtenagentur Reuters aus Gewerkschaftskreisen erfahren haben. Inzwischen ist nicht nur um die Mobilfunk- (ICM) und die Netzwerksparte (ICN) betroffen, sondern auch für die Verkehrstechnik (TS), die Automatisierungssparte (A&D) sowie der Bereich Energieübertragung (PTD). Im Gespräch sind alternative Standorte in Osteuropa und Asien. Überraschend kommt dies alles nicht: Die Siemens-Manager hatten seit längerem angekündigt, daß sich der Aufbau von Beschäftigung künftig primär im Ausland vollziehen wird, wo der Konzern knapp achtzig Prozent seiner Umsätze erwirtschaftet und sechzig Prozent seiner Mitarbeiter beschäftigt. Siemens steht hier nur pars pro toto. Das Thema Verlagerung steht bei vielen deutschen Unternehmen auf der Agenda. Sei es nun die Deutsche Bank, der Bus- und Lastwagenhersteller MAN, die Exxon-Mobil-Tochter Esso, die die europaweite Buchhaltung in Prag konzentrieren will, die Brillenfirma Rodenstock, die künftig in Tschechien produzieren lassen will, oder der Nähmaschinenhersteller Pfaff, der in Shanghai aktiv werden will: Der Trend zur Verlagerung scheint - gerade auch vor dem Hintergrund der bevorstehenden EU-Osterweiterung - einen neuen Höhepunkt zu erreichen. Dabei handelt es sich nicht um irgendwelche deutsche Unternehmen, die verlagern sollen, sondern um das "Who ist who?" der deutschen Wirtschaft.

Die Medizin, die gegen diesen Trend gefordert wird, ist immer die gleiche. Weitere Reformen in Deutschland seien notwendig, orakelten Verbandssprecher und Politiker aller Couleur. Um wettbewerbsfähig bleiben zu können, so der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz, müsse die Regierung dafür sorgen, daß die Unternehmen billiger produzieren könnten. "Mit der Osterweiterung steigt der Druck, denn viele der Beitrittsländer erheben nur einen Bruchteil der hierzulande üblichen Steuersätze", sagte Franz.

Komplexe Motive für ein Engagement im Ausland

So griffig diese Auskunft von Franz auch klingen mag: die Gründe für eine Verlagerung ins Ausland sind weitaus komplexer. Entgegen der weitverbreiteten Meinung gehören Steuern, Abgaben und Subventionen "nicht zu den drei wichtigsten Beweggründen für die Auslandansiedlung der Produktion", wie eine Erhebung des in Karlsruhe ansässigen Fraunhofer Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung (FhG ISI) feststellte (Mitteilungen aus der Produktionsinnovationserhebung PI, 26/2002). Die Begründung für den Aufbau eines ausländischen Produktionsstandorts sei in starkem Maße von der verfolgten Unternehmensstrategie abhängig, konstatieren die Autoren Kinkel, Erceg und Lay. "Bei Betrieben, die strategisch auf eine Preisführerschaft setzen, waren die Kosten der Produktionsfaktoren, wie nicht anders zu erwarten, das mit Abstand häufigste Motiv (78 Prozent) für den Aufbau einer ausländischen Produktionsstätte. Das Motiv Markterschließung folgt in dieser Gruppe mit deutlichem Abstand an zweiter Stelle (52 Prozent). Die Nähe zu Großkunden (27 Prozent) sowie die Technologieerschließung (sieben Prozent) sind nachrangige Motive."

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Projektträger Produktion und Fertigungstechnologien (PFT) in Auftrag gegebene Verbundprojekt "Bestand" (siehe www.standorte-bewerten.de ), das vom Fraunhofer Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung koordiniert wird, hat folgende typische Motive für Verlagerungen für Betriebe im verarbeitenden Gewerbe zusammengetragen:

l Zugang und Erschließung neuer Absatzmärkte. In sich entwickelnden Volkswirtschaften seien oft Handelshemmnisse anzutreffen, die eine reine Exportstrategie als Form des Markteintritts ausscheiden lassen. In entwickelten Wirtschaftsräumen dagegen erzwingen wettbewerbsintensive Märkte eine starke Kundenorientierung und somit häufig eine Präsenz vor Ort.

l Orientierung an Zusammenballungen (Clustern). In "Know-how-kritischen Branchen" seien Auslandsniederlassungen nahe regionaler Innovationscluster oft ein Mittel, um technologische Entwicklungen oder Branchentrends frühzeitig zu erkennen und erfolgreich zu nutzen.

l Dem Kunden folgen. Bedeutende Endkunden forderten von ihren meist kleineren Zuliefern weltweite räumliche Nähe (beispielsweise die Automobilindustrie). Vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen, die in Just-in-time-Belieferungssysteme eingebunden seien und stark vom Endkunden abhingen, sei dies Anlaß zur internationalen Ansiedlung ihrer Kapazitäten.

l Kostenreduzierung. Komparative Kostenvorteile einiger Weltregionen vor allem bei den Lohnstückkosten machten die Verlagerung von Wertschöpfungsstufen in Richtung dieser Länder lohnenswert. Allerdings sei zu beachten, daß bei einer Verlagerung von betrieblichen Tätigkeiten neben den Stückkosten weitere Kosten anfielen und auch Produktivitätsaspekte eine Rolle spielten.

l Sicherung der Vorleistungsbasis. Werden strategisch wichtige Produktkomponenten von spezialisierten Zulieferern bezogen, könne eine Verlagerung zum Standort der Zulieferer von produkttechnischer Seite aus nötig werden.

Neben den unternehmensstrategischen Motiven, die für eine Auslagerung in das Ausland sprechen, gibt es natürlich auch standortspezifische Argumente. Die Forschungsarbeiten am Fraunhofer Institut brachten an den Tag, daß - und dies gilt es gerade vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung im Auge zu behalten - in Osteuropa das Motiv der Kostenreduktion "eine überragende Rolle" spiele. "85 Prozent der Betriebe mit Produktionsstätten nennen diesen Grund", ist in den PI-Mitteilungen 26/2002 zu lesen, die schlußfolgern: "Scheinbar werden in Osteuropa immer noch eher 'Billiglohnländer' als zukünftige Wachstumsmärkte vermutet."

Das Motiv "Markterschließung" sei hingegen für die Errichtung von Produktionsstätten in Asien, Nord- und Mittelamerika sowie Westeuropa dominant. Diese Regionen würden als "entwickelte Märkte mit einem durch Vor-Ort-Produktion erschließbaren Potential" eingestuft. Die Technologieerschließung als Grund für eine Verlagerung spielt eigentlich nur in Westeuropa und Nord- bzw. Mittelamerika eine - wenn auch nur nachrangige - Rolle.

Im Hinblick auf Südamerika seien, so die PI-Mitteilungen 26/2002 weiter, die drei Motive Kosten, Markterschließung und "dem Kunden folgen" von Bedeutung. Daß allen drei Motiven eine gleichrangige Bedeutung zukomme, mache Südamerika zu einem Sonderfall. Die Osterweiterung der EU dürfte den zuletzt eher rückläufigen Verlagerungstrend wieder anziehen lassen. Das Verhältnis von Verlagerern zu Rückverlagerern, die es natürlich auch gibt, sank seit 1997 von einem Verhältnis von 6,5 zu eins über vier zu eins (1999) auf drei zu eins im Jahre 2001.

Jede dritte Firma kehrt nach Deutschland zurück

Als Ursachen für eine Rückverlagerung gibt es - so die Ergebnisse des Verbundprojektes "Bestand" - drei Faktoren zu nennen, die bei einer Standortbewertung kaum Berücksichtigung finden, in ihren Konsequenzen aber zu einer Rückverlagerung führen können:

- Beim Aufbau eines ausländischen Standortes fallen Kosten an. Diese Kosten werden dem Auslandsstandort nur selten richtig zugewiesen. So wird das teure Personal, das den Anlauf am ausländischen Produktionsstandort betreut, selten dem ausländischen Standort in Rechnung gestellt, sondern dem deutschen.

- Die Anlaufzeiten und -kosten, um die notwendige Qualität und Produktivität sicherzustellen, würden vielfach unterschätzt.

- Lohnkosten und Preise vor Ort (zum Beispiel für Vorleistungen, Mieten, Transport) sind möglicherweise nicht allzu weit von dem deutschen Niveau entfernt. Dies wird häufig nicht in die Kalkulation miteinbezogen. Oder diese Angleichung vollzieht sich merklich rascher als in der statischen Bewertung berücksichtigt.

Die Ergebnisse der Produktionsinnovationserhebung 2001 zeigten, so die conclusio, daß der "Unterhalt einer Auslandsproduktion wie auch die Verlagerung von Produktionskapazitäten ins Ausland nicht automatisch mit einem deutschen Beschäftigungsverlust einhergeht" (PI-Mitteilungen 26/2001). Vielmehr sei das Gegenteil der Fall: "Nur eine kleine Gruppe von Betrieben, die ausschließlich grenzüberschreitendes Outsourcing betreibt, weist insgesamt eine negative Beschäftigungsentwicklung aus." Nicht die Auslandsproduktion deutscher Firmen an sich scheine für die deutsche Industriebeschäftigung problematisch zu sein, sondern vielmehr "die Schließung von Betrieben bzw. die Komplettabwanderung ins Ausland", die die ISI-Studie nicht erfaßte.

Die Gründe für Verlagerungen in das Ausland müssen, dies kann als Fazit gezogen werden, sehr differenziert betrachtet werden. Ein bezeichnendes Licht auf das rot-grüne Geschrei um die angeblichen "vaterlandslosen Gesellen", die im Ausland ihr Heil suchten, wirft folgende Feststellung der ISI-Studie: "Vielmehr wäre die Zielsetzung, deutsche Unternehmen vom Aufbau von Produktionsstandbeinen im Ausland abhalten zu wollen, im Hinblick auf die damit in Deutschland wahrscheinlichen Beschäftigungseffekte sogar kontraproduktiv. Aus der Verbindung von inländischen und ausländischen Produktionsstätten ergeben sich offensichtlich Marktchancen und Steuerungsmöglichkeiten, die nicht nur für diese Unternehmen insgesamt Wachstumsimpulse setzen, sondern auch für Unternehmensteile, die in Deutschland angesiedelt sind, Beschäftigungschancen mit sich bringen."

Vor genau diesem Hintergrund ist die eingangs zitierte Aussage von Ludwig Georg Braun zu sehen, in der dieser dazu auffordert, doch die Chancen der Osterweiterung zu nutzen. Und zwar deshalb, weil dieser Weg "letztlich auch ein Rezept zur Sicherung von Arbeitsplätzen und Lehrstellen in Deutschland" sei.

Wer es noch deutlicher haben will, der halte sich an die Aussagen von Henning Kagermann, Vorstandssprecher des Walldorfer Softwarekonzerns SAP: "Wenn wir da nicht mitziehen, dann sind wir nicht wettbewerbsfähig, wir verlieren Marktanteile und letztendlich auch einen Teil der Arbeitsplätze in Deutschland." Es sei ein ökonomischer Zwang, in Niedriglohnländer zu gehen. Wer das nicht will, der muß auch die Globalisierung mit allen ihren Konsequenzen ablehnen und eine völlig andere Politik als bisher treiben. Er müßte sich - horribile dictu! - zu einem sozialistischen Nationalismus bekennen. Dies wäre die logische Konsequenz der Aussagen eines Klaus Uwe Benneter und anderer "Spitzengenossen" aus SPD und Gewerkschaften.

Foto: Der Slowakische Wirtschaftsminister Robert Nemcsics (3.v.li.), VW-Chef Bernd Pischetsrieder (2.v.re.) und VW-Manager feiern den millionsten in der Slowakei gefertigten VW Touareg am 28. Mai 2003 in Preßburg: Eher Billiglohnland als zukünftiger Wachstumsmarkt


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