© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/04 16. April 2004

Der Westen gibt sich auf
Der demographische Niedergang wird den politischen und kulturellen nach sich ziehen
Dieter Stein

Die demographische Bombe zündet. Doch nicht mit einer großen Detonation werden unsere Gesellschaften erschüttert. Vielmehr in homöopathischen Dosen erreichen die Deutschen, ja alle europäischen, westlichen Nationen die Informationen über das demographische Ableben ihrer Völker. Die in der vorvergangenen Woche verbreitete Nachricht des Statistischen Bundesamtes über einen neuen Rekord des Geburtendefizits in Deutschland verschwand so auch meist in den Kurzmeldungen: 858.000 Sterbefällen stehen 715.000 Lebendgeburten gegenüber. Gegenüber 2002 sank die Geburtenzahl damit um 1,3 Prozent, die Sterbefälle stiegen um 1,6 Prozent. Das um 23.000 auf 143.000 Menschen gestiegene Geburtendefizit entspricht dabei in etwa der Anzahl der durch Abtreibung getöteten ungeborenen Kinder.

Angesichts der Dramatik der Entwicklung müßten alle Zeitungen tage-, wochenlang mit der demographischen Katastrophe aufmachen. Doch es handelt sich eben nicht um ein überraschendes, schockartiges Ereignis, sondern um eine biologisch-soziale Implosion einer Zivilisation, die noch nicht einmal im Zeitlupentempo stattfindet. Diese Revolution vollzieht sich mit derart sanfter Verzögerung, daß es für eine Umkehr unwiderruflich zu spät ist, wenn die gravierendsten Folgen zutage getreten sein werden.

Einen "Fall Tschernobyl" wie für die Atompolitik gibt es für die Bevölkerungspolitik somit nicht. Auf Samtpfoten schleicht die Entwicklung voran. Stündlich werden Menschen geboren, stündlich sterben Menschen. Jährlich verschwindet statistisch die Einwohnerzahl einer Stadt wie Freiburg im Breisgau in Deutschland von der Bildfläche - ohne Requiem, sang- und klanglos.

Die demographische Bombe besteht wohlgemerkt aus zwei Treibsätzen: Nämlich auf der einen Seite einer Geburtenrate, die immer weiter unter die zur Reproduktion einer Population notwendige Zahl von statistisch durchschnittlich 2,1 Kindern pro Frau sinkt (derzeit 1,4 Kinder pro Frau). Auf der anderen Seite wird der Bevölkerungsrückgang vorübergehend verschleiert durch die in Wohlstandsgesellschaften parallel immer noch weiter ansteigende Lebenserwartung. Nur deshalb - und wegen anhaltender Zuwanderung - bleibt die Einwohnerzahl von 80 Millionen in Deutschland noch für die nächsten Jahre relativ konstant. Somit kommt es zu einem sich multiplizierenden Alterungseffekt unseres Volkes. Der gravierende statistische Bevölkerungsrückgang erfolgt wie mit einem Zeitzünder erst verzögert.

Theoretisch denkbar wäre es, daß sich der Bevölkerungsrückgang Europas mit einem Wertewandel verbindet, wie ihn konservative Ökologen immer gefordert haben. An die Stelle eines quantitativen tritt ein qualitatives Wachstum. Die im Zeitalter der Industrialisierung immer dichter besiedelten Ballungszentren könnten menschen- und umweltfreundlich aufgelockert werden. Für einen solchen begrüßenswerten Wertewandel gibt es jedoch keinen Anhaltspunkt. Im Gegenteil: Der rasende Geburtenrückgang ist Konsequenz der immer noch fortschreitenden Individualisierung und des weiter expandierenden Konsums und Wohlstands im Westen.

Vor einem rapiden und im Alltag spürbaren Bevölkerungsrückgang werden wir jedoch in den kommenden Jahren vorerst einmal immer stärker die Folgen der Alterung unserer Völker erleben. Sie ist dem erfreulichen medizinischen Fortschritt und dem derzeit vorhandenen Wohlstand geschuldet.

Für diese Entwicklung steigt das wahrnehmende Interesse. Frank Schirrmacher, einer der FAZ-Herausgeber, hat mit seinem Buch "Das Methusalem-Komplott" jetzt versucht, der Alterung unserer Gesellschaft und ihren soziokulturellen Folgen einen Begriff zu geben. Schirrmacher fordert jedoch nicht eine demographische Wende, eine offensive Bevölkerungspolitik, sondern trommelt zu einer "militanten Revolution des Bildes des eigenen Alterns". Die Alterung der westlichen Gesellschaften ist also quasi, frei nach Boris Becker, einfach nur ein "mentales Problem".

Mit Anti-Aging-Wohlfühlseminaren à la Schirrmacher läßt sich die demographische Katastrophe aber nicht gesundbeten. Die Zeitbombe aus den beiden Treibsätzen Geburtenrückgang und Überalterung erhält nämlich durch eine dritte Komponente, über die man sich feige ausschweigt, noch explosivere Sprengkraft. Immer noch meint man nämlich, kurzfristig Linderung der demographischen Talfahrt durch anhaltende Zuwanderung zu erreichen. Die höhere Geburtenrate unter den Zugewanderten beschleunigt aber die ethnische Verschiebung in den Großstädten nur noch weiter. Neben eine vergreisende deutsche Bevölkerung treten die vitaleren Generationen der Zugewanderten oder Neu-Bundesbürger mit "Migrationshintergrund". Die EU-Osterweiterung wird hier übrigens nicht zu einer Verjüngung des "alten Europa" führen: Der Geburtenrückgang ist in den Beitrittsländern teilweise massiver als in Deutschland!

Es wird deshalb den Völkern des Westens und damit auch den Deutschen kaum beschieden sein, seelenruhig und altersweise ihre zubetonierten und zersiedelten Landschaften ökologisch zu rekultivieren. Es wird vielmehr ein Bevölkerungsaustausch stattfinden, den der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld "Ethnomorphose" nennt. Mit diesem Bevölkerungswandel haben wir es in Deutschland in den Großstädten wie Berlin, Frankfurt und Stuttgart bereits jetzt zu tun - mit all seinen dramatischen sozialen und kulturellen Verwerfungen.

Im außereuropäischen Raum ziehen sich die Konfliktherde der Welt auch entlang der Frontlinien demographisch expansiver Völker. Länder mit anhaltendem Geburtenwachstum, insbesondere im arabischen Raum, erhöhen den Druck auf das sich öffnende Vakuum an deren Rand.

Die Geschichte wird die Frage beantworten, ob die Werte des Westens, ob Individualismus und Liberalismus bestehen werden können, wenn sie in den Untergang von Gemeinschaften münden, wenn diese Werte nicht die Grundlage dafür bereiten, daß Familienverbände fortexistieren, sondern diesen sogar den Boden entziehen.

Es wird sich zeigen, ob nicht Tradition, Kultur, Religion aufs engste mit der Fähigkeit des Menschen verwoben ist, in Gemeinschaft zu leben, Gemeinschaften zu bilden und ihr Fortleben zu garantieren. Der Westen steht hier vor seinem historischen Scheitern. Allem Fortschrittsglauben und Machbarkeitswahn zum Trotz scheint die zur Tradition fähige Gemeinschaft über die Tradition mißachtende Gesellschaft letztlich zu triumphieren. Noch ist es Zeit, hier eine Wende einzuleiten.

Hände eines alten Mannes: Den Völkern des Westens steht ein epochaler Alterungsprozeß bevor


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