© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/04 16. April 2004

Büßertradition in Spanien: Das Ostertrommeln von Calanda
Bis die Hände bluten
Ellen Kositza

Dreieinhalbtausend Einwohner hat das Bergstädtchen Calanda. Man rühmt sich hier für seine hervorragende Pfirsichernte und für das angeblich beste Olivenöl Spaniens; nicht zuletzt dafür, einen der großen Filmkünstler des 20. Jahrhunderts hervorgebracht zu haben - Luis Buñuel. Wo immer der Regisseur auch weilte - die Karwoche habe er, immerhin ein ausgewiesen antiklerikaler Agnostiker, stets in seinem Heimatort verbracht: der Trommeln wegen, die ihn sein Leben lang verfolgten und häufig genug auf den Tonspuren seiner Filme zu hören sind.

Aragonien, Provinz Teruel, später Vormittag am Karfreitag 2004: Die Bergstraßen sind vielbefahren heute, eine Blechlawine wälzt sich die Ruta del Tambor y del Bombo entlang, die "Route der Pauke und der Trommel". In neun Kleinstädten und Dörfern dieser Region wird alljährlich zur Karwoche ein einzigartiger Brauch begangen, das Ostertrommeln. Anders als bei der berühmten Karfreitagsprozession im andalusischen Sevilla fehlen hier die ausländischen Touristen, Küste und Hotels sind weit entfernt, die Autokennzeichen weisen vielmehr auf Barcelona, Tarragona und Zaragoza hin. Getrommelt wird auch im größeren Alcañiz oder in Híjar, "aber nirgends geschieht es mit einer so geheimnisvollen und unwiderstehlichen Kraft wie in Calanda" (Buñuel). Die gilt es zu erkunden.

Gegen halb zwölf sammeln sich die etwa zweitausend Besucher und die sämtlich in violette Tunikas gewandten Einwohner Calandas auf der Plaza España vor der prächtigen Barockkirche des Ortes. Die umliegenden Balkone sind lila, weiß und mit spanischen oder katalanischen Flaggen geschmückt. Von einer Empore aus sind auf Stativen Kameras auf den Platz gerichtet; wie immer überträgt das spanische Fernsehen das Spektakel. Die Kirche selbst ist noch gefüllt, junge Männer mit ernsten Gesichtern knien vor dem mit violettem Tuch verhängten Kreuz, andere sitzen betend in den Bänken. Draußen staut sich längst die Masse bis in die umliegenden Gassen hinein. Bald gibt es weder ein Vor noch Zurück, bis ein minutenlanges kollektives "Pscht" die Menge zur völligen Ruhe mahnt und selbst das letzte Handyklingeln erstirbt. Zwölf Uhr, ein letztes Mal bis zur Auferstehung läuten die Glocken. Romper la hora nennt sich dieser Moment, es schlägt dem Herrn die Stunde: Der letzte Schlag bereits geht unter, verstummt unter dem Unerhörten, dem plötzlichen Einsetzen hunderter Pauken und Trommeln, zwei Meter hoch die größte, die kleinsten den Dorfjüngsten um den Bauch geschnallt. Der Boden dröhnt und auch die Luft, unter verspiegelten Sonnenbrillen laufen Tränen, kein Herz und keine Miene bleiben unbewegt. Minutenlang dröhnt ein einziger Trommelrausch, wild und atemlos. Bald bildet sich ein Rhythmus heraus, ein einziger, beschwörender. Eine Zeitlang verharrt die Menge im unentwegten Rauschen und Beben, bis sich Gruppen von Trommlern zusammenfinden, mal zu einem Dutzend, mal mehr oder weniger, sich Wege durch die Menge bahnen und nach und nach in die Straßen Calandas verströmen.

Unentwegt wird getrommelt, jede Gruppe, an Abzeichen als verschiedene Bruder- oder Schwesternschaften erkenntlich, findet ihren eigenen Rhythmus, dumpf und paukendominiert der eine, rasselnd und scheppernd der andere. An der kleineren Pfarrkirche treffen einige Formationen aufeinander, Rhythmen prallen aufeinander, bis schließlich wieder ein einziger die Oberhand gewinnt. Die erste Stunde ist vergangen, und bereits jetzt haben die rostbraunen Flecken vorjährigen Blutes auf den Fellen der größeren Pauken frische rote Ergänzung gefunden. Ungerührt und stolz rühren die Trommler mit blutiger Rechter ihren Stock weiter. Es sind junge, wilde Burschen, die mit ihren Schlägen die Felle schier zum Platzen bringen wollen, aber auch gepflegte Damen höheren Alters, die keinen Schmerz zu spüren scheinen. Eine graumelierte Mittfünfzigerin mit adrettem Pagenkopf und Perlmuttohrringen trommelt mit ihrem Enkel um die Wette, während das Blut von den Fingern tropft, eine Greisin steht am Ende des Ortes mit jungen Mädchen in einem Hauseingang und gibt einen Rhythmus vor, der bald den Straßenzug dominiert.

Zum Nachmittag hin wird es ruhiger, bis man sich gegen fünfzehn Uhr wieder auf der Plaza España sammelt. Die aberhundert Lilagewandeten tragen nun eine kapuzenähnliche Kopfbedeckung, das Trommeln wird leiser, bis Trompetenstöße völlige Stille einfordern. Der Pregon ruft über Lautsprecher den Tod Christi aus. Nach einer Sekunde völliger Stille setzt abermals Trommeln ein, mit gleicher unvergeßlicher Wucht wie drei Stunden zuvor. Die Büßer - längst sind nurmehr die wenigen behandschuhten Händen unverwundet - formieren sich nun zu einer Prozession. In langen Reihen ziehen sie trommelnd durch Calanda, in regelmäßigen Abständen unterbrochen durch Trompetenrufe, denen die Totenklage folgt - und wieder lassen daraufhin tausendfache Trommelschläge die alten Mauern der Stadt erbeben. Dem Zug der Trommler folgen festlich gewandete Mädchen, Symbole tragend, die die Schöpfungsgeschichte versinnbildlichen und auf Biblisches verweisen: Himmel und Erde am Anfang, die Arche Noah, später die Gesetzestafeln, Wein und Wasser, Brot und Fische. Ein Junge dann hat als Jesus Christus ein Holzkreuz geschultert, ihm folgen römische Legionäre und schließlich die heimische Schwesternschaft der Schmerzhaften Mutter Gottes. Die jungen Frauen sind komplett schwarz gekleidet, nur Schlitze im Stoff lassen die Augen frei. Sie schwanken unter schwerer Last; auf ihren Schultern tragen sie eine hölzerne Bahre mit einer Marienfigur. Weißgewandete Kapuzenfrauen im Gefolge der Dunklen geben ihren Schritten mit dumpfen Paukenschlägen den Takt und beenden den Zug, der noch bis in den frühen Abend durch die Ortschaft führt. Getrommelt wird weiter, die Nacht hindurch, bis am Karsamstag mittags die Schläge so plötzlich verstummen, wie sie begonnen haben.

Informationen: Die spanische Bevölkerung ist zu 95 Prozent katholisch. Die Feier der Semana Santa, der heiligen Woche, wird in ganz Spanien durch kraftvolle und mystische Riten bestimmt. Diese Tradition geht auf zweierlei historische Hintergründe zurück: Im Jahre 1127, heißt es, wurde im Rahmen der Reconquista ein maurischer Stoßtrupp abgewehrt, indem Hirten von den umgebenden Bergen her die Einwohner durch lautes Trommeln alarmierten. Das sich an diese Begebenheit anlehnende alljährliche Trommelfest wurde später vom streng mariengläubigen Calatrava-Orden als heidnisch verboten.

Foto: Karfreitagsprozession: Angehörige von Bruder- und Schwesternschaften mit Tunicas verhüllt


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