© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/04 23. April 2004

Ein Pim Fortuyn der Literatur
Thor Kunkels Roman "Endstufe" ist wüst komponiert, läßt aber Talent erkennen
Günter Zehm

In alten Zeiten, an den mittelalterlichen Fürstenhöfen, mußte man sich als Narr verkleiden, um die Wahrheit sagen zu können. Heute empfiehlt sich eine Verkleidung als Schwein, als Obszönitätenhändler und Pornograph. Man denke nur an Pim Fortuyn. Er redete wie der schlimmste Saubeutel, konnte dadurch aber viele Wahrheiten an- und aussprechen und wurde populär, gewann Wahlen.

Eine Art Pim Fortuyn des aktuellen deutschen Literaturbetriebs ist Thor Kunkel (41), dessen soeben erschienener Roman "Endstufe" im nationalsozialistischen Deutschland um 1940 spielt, in einer Zeit also, über die man hierzulande an sich nur mit einem bestimmten Tremolo sprechen und schreiben darf und unter Beachtung strengster Meinungsauflagen. Kunkel nun hält sich weder an Auflagen noch ans Tremolo - und findet trotzdem Resonanz und Aufmerksamkeit. Das macht: Er führt sich als wilder Pornograph auf, tummelt sich grob und unverstellt mit Vorliebe in der Zone primärer Geschlechtsorgane, und sein Thema ist entsprechend: Pornographie im Dritten Reich, Verfertigung pornographischer Filme durch Mitarbeiter eines SS-Hygiene-Instituts.

Und Kunkel tut noch ein übriges. Gelernter Werbefuzzi von Beruf, erklärt er seinen Roman zur "Dokumentation", zumindest "Halbdokumentation". Es habe, behauptet er, im Dritten Reich tatsächlich eine von oben geförderte Pornofilm-Industrie gegeben. Die Machthaber hätten die Filme im neutralen Ausland im Austausch gegen kriegswichtige Rohstoffe verscherbelt. Er, Kunkel, habe den Fall sorgfältig "recherchiert", und sein Buch sei das ehrliche Resultat dieser Recherche.

Starker Tobak also. Beweise für Kunkels Behauptungen gibt es nicht, aber natürlich ist in den Medien sofort eine "Diskussion" darüber entbrannt, die der Verbreitung des Buches zugute kommt. Zusätzlich angeheizt wurde das Interesse durch den Umstand, daß der Rowohlt-Verlag, der den Kunkel-Roman ursprünglich herausbringen wollte und ihn in seinen Prospekten auch bereits groß angekündigt hatte, die Veröffentlichung aus Gründen der Political Correctness im allerletzten Moment zurückzog und Kunkel zum Eichborn-Verlag überwechseln mußte. Es gab also, wie inzwischen in der BRD üblich, bereits einen "Fall Kunkel", bevor das Buch überhaupt erschienen war.

Wie liest sich dieses Buch nun, wenn man von all dem Voraus- und Politgestöber absieht? Man hat es, wie gesagt, über weite Strecken mit unverblümter Pornographie zu tun, wird abgestoßen von dem dazugehörigen unsublimierten Stil, der sich mit größter Drastik von einer "Stelle" zur anderen bewegt und vor keiner Gemeinheit zurückschreckt. Aber man ist in dieser Hinsicht ja längst schon viel Schlimmeres gewöhnt. Henry Miller zum Beispiel war gemeiner.

Kunkels Buch bewegt sich in Sachen Porno etwa auf dem Niveau jener amerikanischen College-Romane, wo der Dozent eine seiner Studentinnen verführt oder von ihr verführt wird. Alle diese Romane werden von der deutschen Kritik bekanntlich als Meisterwerke gefeiert, aber jeder gerecht denkende Leser wird einräumen müssen, daß Thor Kunkel besser schreibt als die heute üblichen Meisterromanciers von drüben. Er erzählt viel objektiver als die US-Sexprofessoren, die immer nur über sich selber schreiben, bei Kunkel passiert viel mehr, es gibt bei ihm spannende, atemlos vorgetragene Geschichten, über deren Lektüre man die "Stellen" geradewegs vergißt.

Und die große, übergreifende Gesamtgeschichte, die Kunkel erzählt und in die sich die vielen Episoden bruchlos einordnen, ist am spannendsten: Es ist die Geschichte der jeunesse dorée im Dritten Reich, die Geschichte gutbetuchter, vergnügungs- und abenteuerlustiger junger Leute in Berlin und München, die sich zu Partys mit Kokain und Sex treffen, freche Witze über den Führer und seine Palladine reißen und eine überwiegend realistisch-zynische Weltsicht kultivieren, in der es nicht die schlichte Aufteilung in Gut und Böse gibt, sondern sehr gemischte Verhältnisse, über deren jeweilige Karate die Jungen erstaunlich gut Bescheid wissen.

Daß es eine solche jeunesse dorée im Dritten Reich gegeben hat, ist unbestritten; man denke nur an vergleichbare Mitteilungen aus dem Kreis des jungen Verlegers Axel Springer über die "teddyboys" im damaligen Hamburg. Kunkel weiß erstaunlich detailreich und interessant über derlei zu berichten. Von einigen zeitlich vorverlegten Modernismen abgesehen, sind seine Sittenbilder durchaus treffend und faszinierend, und das gilt fast noch mehr für die Jahre des Untergangs 1944/45, wo dem Autor apokalyptische Szenen, etwa aus dem von den Russen eingenommenen Berlin oder aus dem zertrümmerten Frankfurt am Main der unmittelbaren Nachkriegszeit, gelingen, die sowohl dokumentarischen als auch literarischen Rang beanspruchen dürfen.

Weniger gelungen ist die Zeichnung der Hauptfigur des Romans, in der die Ereignisse ihren Resonanz- und Reflektierboden finden: Dr. Karl Fußmann, Mitarbeiter am SS-Hygiene-Institut, wo er an einem Forschungsprojekt zur Malaria-Bekämpfung arbeitet und eher zufällig in die Pornofilmerei hineingerät. Eigentlich interessiert sich Fußmann für Elektromagnetismus und damit verbundene Lebensenergien, und er mausert sich im Verlauf der Handlung zu einer Art Pan-Sexologen, der den Weltlauf bestimmt sieht von einem ewigen Titanenkampf zwischen dem Sex (der für Leben und Wärme steht) und dem Geld (das für Tod und Kälte steht). Dieser Teil des Buches hat etwas komisch Sektiererisches, bleibt übrigens im philosophischen Niveau weit unter den Spekulationen, wie sie der französische Geistesverwandte Kunkels, Michel Houellebecq, in seinen Büchern anstellt.

Kunkels Buch ist ein Proteus, uneinheitlich und zerrissen, unwahrscheinlich wandlungsfähig von einer Seite zur anderen, wohl ein gutes Abbild des Autors selbst in seiner augenblicklichen Geistesverfassung. Was - neben den zweifellos vorhandenen literarischen Talentproben - sympathisch berührt, ist der sichtbare Wille des Autors, sich nicht von einer ausschließlich politisch angeleiteten Kritik das Denken und den Blick auf die wahren Verhältnisse verbieten zu lassen. Schön, daß der Eichborn-Verlag gleich zugriff, nachdem Rowohlt so schnöde den Schwanz eingezogen hatte.

Thor Kunkel: Endstufe. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2004, geb., 589 Seiten, 24,90 Euro


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