© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/04 30. April 2004

Größe allein genügt nicht
EU-Osterweiterung: Europa wird wirtschaftlich und politisch geschwächt
Alain de Benoist

Seit der Verabschiedung des Maastricht-Vertrags 1992 scheint Europa sich völlig zu verzetteln. Eine schwerfällige Brüsseler Bürokratie, auseinanderklaffende Zukunftsvorstellungen der einzelnen Mitgliedsstaaten und die sorgfältig gepflegte Unklarheit über die Ziele der Union, die sich ausschließlich dem wirtschaftlichen Wettbewerb und der finanzpolitischen Orthodoxie verschrieben hat: Als wäre all das nicht schlimm genug, hat man sich auf einen hastigen Erweiterungsprozeß eingelassen, der sie dauerhaft lähmen wird.

Zehn neue Mitgliedsstaaten treten jetzt der Europäischen Union bei. Sie sind aufgenommen worden, ohne daß man einen Gedanken auf die Frage ihres Integrationsvermögens oder auf die neuen Grenzen der Union verschwendet hätte. Das Europa der 25 wird um 75 Millionen Einwohner größer sein. Es wird zum ersten Mal eine gemeinsame Grenze mit Rußland besitzen. Aber es wird weder stärker noch einiger sein, sondern im Gegenteil wirtschaftlich und politisch geschwächt.

Das durchschnittliche Monatseinkommen in den neuen Mitgliedsstaaten liegt bei etwa 500 Euro, die Einwohner sind um die Hälfte ärmer als die der fünfzehn alten Mitglieder. Mit der Osterweiterung wird das Durchschnittseinkommen der EU-Bürger also sinken und die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen und Staaten zunehmen. Unter solchen Bedingungen werden wirtschaftliche Rückschläge manche Mitgliedsstaaten härter treffen als andere, zumal der Euro ihnen sowohl auf nationaler wie auf EU-Ebene einen sehr schmalen Manövrierspielraum läßt, solange die Auswirkungen einer Krise nicht durch ein echtes Gemeinschaftsbudget gedämpft werden können.

Wirtschaftlich sind die neuen Mitgliedsstaaten in schlechtem Zustand. Nach den langen Jahren des Kommunismus, die ihre Spuren in den Gemütern der Menschen hinterlassen haben, erlebten sie mit voller Wucht den Schock eines brutalen Übergangs in die Marktwirtschaft. Für einige Schichten der Bevölkerung war es ein Übergang von der Armut ins Elend.

Mit der sozialen Ungleichheit hat auch die Arbeitslosigkeit zugenommen. In Polen liegt sie bei fast 20 Prozent und könnte nach Umsetzung der mit der Erweiterung verbundenen Reformen im landwirtschaftlichen und industriellen Bereich auf 30 Prozent ansteigen. Die soziale Absicherung ist einem "wilden Liberalismus" zum Opfer gefallen. Am schlimmsten sind Gesundheits- und Bildungswesen betroffen. Die Sozialversicherungen sind bankrott, die Rentenkassen leer. Besonders beunruhigt das Schicksal der Jugendlichen, der Rentner sowie der Bauern. Indes wird die Öffnung der Grenzen eine verstärkte Auswanderung zur Folge haben.

Genau wie die Länder der Dritten Welt versuchen diese Staaten ihre strukturellen Schwächen auszugleichen, indem sie Anreize für ausländische Investoren schaffen. Das führt zu einem regelrechten Preisdumping, hinzu kommen die sehr niedrigen Lohnkosten (ein Viertel bis die Hälfte der unseren in Polen, Ungarn, der Slowakei und der Tschechischen Republik) und die nicht oder kaum vorhandenen sozialen Gesetzgebungen. Seit dem 1. Januar ist der Steuersatz für Unternehmensgewinne in den neuen Mitgliedsstaaten auf unter zwanzig Prozent abgesunken, während er in den übrigen fünfzehn EU-Staaten durchschnittlich bei 31,3 Prozent liegt. (In Litauen und Lettland beträgt er 15 Prozent, in Ungarn 16 Prozent, in Polen und der Slowakei 19 Prozent.)

Als unmittelbare Folge wird es zu einer neuen Welle von Unternehmensverlagerungen kommen, die in den westlichen Ländern die Arbeitslosigkeit verschlimmern, während die mittel- und osteuropäischen Staaten zu riesigen Produktionsanlagen werden.

Die Entwicklung hat im übrigen längst begonnen: Im Laufe der letzten fünf Jahre hat sich das Investitionsvolumen von West- nach Mitteleuropa verdoppelt. Unternehmen aus der Automobil- und Textilindustrie, große Supermarktketten, Filmproduktionsfirmen usw. wandern bereits verstärkt nach Osten ab. Die Automobilhersteller PSA (Frankreich) und Hyundai (Südkorea) wollen Teile ihrer Produktion in die Slowakei verlegen. Schon 2006 wird dieser Staat weltweit die meisten Wagen pro Einwohner produzieren!

Auf politischer Ebene ist die Lage noch klarer. Die meisten der neuen Mitgliedsstaaten sehen die Europäische Union lediglich als Wirtschaftsraum und Geldquelle. Mit ihrem Beitritt hoffen sie Anschluß an die globale Marktwirtschaft zu finden. Darüber hinaus fordern sie überhaupt keine europäische Integration, geschweige denn eine Konstruktion Europas als politische Macht. Sie haben keinen anderen Ehrgeiz als den, über eine Nato-Mitgliedschaft zu Satellitenstaaten der USA zu werden, so wie sie früher Satellitenstaaten der Sowjetunion waren.

Mit der Erweiterung werden sich sämtliche Probleme verschlimmern, mit denen die Europäische Kommission schon vorher kämpfte: Wie sollen sich 25 einigen, wenn es mit 15 nicht gelang? Wie kann man gemeinsame politische Entscheidungen fällen, wenn jeder Staat etwas völlig anderes will?

Der logische Schluß dieser Entwicklung ist eine riesige Freihandelszone, in der Beschäftigung, sozialer Zusammenhalt und Umweltschutz fromme Wünsche bleiben: ein zur Bewegungsunfähigkeit verdammtes Europa bar jeder Möglichkeit, auf weltpolitischer Ebene irgendeine Rolle zu spielen.

Selbstverständlich haben sämtliche Staaten Europas einen Anspruch auf Mitgliedschaft in der Union. Es kommt aber darauf an, wie dieser Anspruch verwirklicht wird. Bevor man mit der Erweiterung begann, wäre es unabdinglich gewesen, sich Klarheit über die Zielsetzungen der europäischen Einigung zu verschaffen. Das ist nie passiert. Man hätte das politische Europa mit Geduld konstruieren müssen, indem man die vorhandenen institutionellen Strukturen stärkt und sicherstellt, daß unter den beteiligten Staaten Einigkeit über ihre Zielvorstellungen herrscht. Mit der Flucht nach vorne hat man das genaue Gegenteil getan.

Die Alternative, vor der wir stehen, ist in Wirklichkeit immer dieselbe: Entweder gibt Europa der Liberalisierung und der Dynamik eines großen Marktes den Vorzug und strebt nach Erweiterung - in diesem Fall würde der Einfluß der Amerikaner zunehmen. Oder es stützt sich auf eine Logik der Vertiefung seiner politischen Integrationsstrukturen, behält die kontinentale Perspektive im Visier und bildet auf diese Weise ein Gegengewicht zu den USA. Dann kann es hoffen, zur politischen Macht, zum Globalisierungsregulator und Zivilisationsentwurf zu werden.


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