© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/04 30. April 2004

"Die Grenze ist nicht zu sichern"
Der Euro-Kritiker und ehemalige Regierungsberater Wilhelm Hankel über die unterschätzten Gefahren der EU-Osterweiterung
Jörg Fischer / Moritz Schwarz

Herr Professor Hankel, der Journalist Udo Ulfkotte warnte unlängst im Interview mit dieser Zeitung - und kurz darauf auch in der Sendung "Sabine Christiansen" - vor einer Kriminalitätswelle, die infolge der zunehmenden wirtschaftlichen Probleme der neuen EU-Länder über uns hereinzubrechen droht. Wird es tatsächlich zu der von Ulfkotte vorausgesetzten Zuspitzung der ökonomischen Situation im neuen Osten der EU kommen?

Hankel: Die Kriminalität folgt der Verarmung. Die EU-Osterweiterung wird auf beiden Seiten dazu beitragen. Schon Friedrich List warnte, daß Freihandel - ein älteres Wort für Globalisierung - und gemeinsame Märkte nur unter Gleichstarken funktionieren. Das Produktivitätsgefälle zwischen den alten und neuen EU-Ländern ist riesig, fast noch größer als zwischen Bundesrepublik und früherer DDR zur Zeit der Vereinigung. Deswegen wird sich im Osten der EU das Schicksal der früheren DDR wiederholen: Viele der dortigen Unternehmen werden der West-Konkurrenz zum Opfer fallen. Das wiederum wird die Wanderung in den Westen verstärken und hier - vor allem in Deutschland - die Arbeitslosigkeit weiter anwachsen lassen. Nur daß diesmal kein "reicher Onkel" aus dem Westen bereitsteht, die Schäden zu bezahlen. Dazu reichen die EU-Strukturfonds mit Mitteln der westlichen EU-Staaten in Höhe von maximal 1,3 Prozent des Bruttoinlandspruduktes nicht aus. Sie sind ein Tröpfchen auf den heißen Stein.

In Deutschland war zuletzt ständig von der kommenden Abwanderung vieler Firmen in osteuropäische Niedriglohnländer die Rede - Stichwort "Patriotismus-Debatte". Wie paßt das zu Ihrer Prognose, die schwachen Beitrittskandidaten werden unterm Strich zu den Verlieren zählen?

Hankel: Das Vaterland der Unternehmer ist ihr Betrieb. Die in die neuen EU-Länder exportierten Arbeitsplätze sind zwar ein Gastgeschenk. Aber es wiegt die Arbeitsplatzverluste aufgrund des mörderischen Wettbewerbs aus dem Westen mitsamt der daraus folgenden Anschluß-Konkurse nicht auf. Die Anstoßeffekte aus diesem Outsourcing sind marginal. Die Endmontage der verlagerten Produktionen wird ohnehin im Westen vorgenommen.

"Der Mittelstand droht zum Integrationsverlierer zu werden"

Sie sprechen von einer "Wanderung in den Westen". Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zum Beispiel geht allerdings von einer Steigerung der Zuwanderung aus Osteuropa um "nur" 500.000 Menschen aus.

Hankel: Es gibt auch andere, bedrohlichere Zahlen. Zum Beispiel das Ifo-Institut in München oder das IZA-Institut der Bonner Universität rechnen mit einer Zuwanderung in den nächsten drei Jahren in Millionenhöhe, etwa aus Polen, der Tschechei, Slowakei, Ungarn und dem Balkan, vor allem nach Deutschland. Laut DIW-Berlin stellt die für die Verhältnisse in diesen Ländern üppige hiesige Arbeitslosen- und Sozialhilfe einen permanenten Zuwanderungsanreiz dar, da dort die Durchschnittseinkommen weit unter unseren Hilfesätzen liegen. Die Oder-Neiße-Linie wird zum Rio Grande der erweiterten EU werden. Nur daß sie mitten durch diese hindurchgeht und nicht wie in der Neuen Welt zwei unabhängige Staaten trennt. Zusätzlich wird sie noch von Personen aus Ländern jenseits der neuen EU-Staaten überrannt werden, denn die neuen Außengrenzen der EU sind kaum zu sichern.

Als Folge des Zustroms wird unter anderem mit einem Lohndumping in den alten EU-Staaten gerechnet.

Hankel: Nicht nur das. Westeuropas technologischer Fortschritt wird durch den Massenzustrom billiger Arbeitskräfte aus dem Osten des Kontinents - aber auch aus dem Mittelmeerraum - stark gebremst. Die Wirtschaft mag sich noch so sehr billige Arbeitskräfte wünschen: Verlangsamt sich das Ersetzen teurer menschlicher Arbeit durch billiges Maschinen- oder Roboterkapital, geht der unternehmerische Anreiz für forcierte Innovationen verloren. Die USA sind durch ihre teure Arbeit zur technologischen Supermacht aufgestiegen. Europa könnte durch zu billige, reichlich zuwandernde Arbeitskräfte zu einem technologischen Entwicklungsland werden.

Besonders hart werden die Folgen angeblich für den Mittelstand sein.

Hankel: Der Mittelstand droht aus mehreren Gründen zum Integrationsverlierer zu werden. Er ist dem gnadenlosen Wettbewerb der sowohl beweglichen wie kapitalintensiven Großanbieter nicht gewachsen. Gerade seine Bodenständigkeit wird ihm zum Verhängnis werden. Das ist besonders bitter für Deutschland, wo er zwei Drittel aller Arbeitsplätze und vier Fünftel aller Ausbildungsplätze stellt und größter Investor ist. Wie kann er bei schwacher Kapitalausstattung mithalten, wenn die Konkurrenz der Großen alle Kostenvorteile der Billiglohn- und Steuervorteile der erweiterten EU mitnimmt, er aber davon ausgeschlossen bleibt.

Zum Lohndumping für Arbeiter kommt also eine Art Dienstleistungsdumping für den Mittelstand?

Hankel: So könnte man es nennen. Hinzu kommt der unlautere Wettbewerb der von ausländischen Fachkräften gespeisten Schwarz- und Billigmärkte. Sie unterliegen keinerlei Auflagen und Kontrollen.

"Inkompetente Politiker und Berater 'aus der Firmenecke'"

Der Mittelstand wurde in den letzten Jahrzehnten von unseren Politikern immer wieder als "Rückgrat der deutschen Wirtschaft" beschworen. Warum liefert man dieses Rückgrat nun einer solchen Gefahr aus?

Hankel: Fromm sind alle, in die Kirche gehen jedoch nur wenige! Viele Politiker der jetzigen Generation glauben an die Wunderkraft der Wirtschaft. Sie soll gerade in Europa alle politischen Schwierigkeiten und Barrieren aus dem Weg räumen. Kohl glaubte an das Wirtschaftswunder Deutschland-Ost. Die EU-Erweiterungspolitiker glauben an das Wirtschaftswunder EU-Ost. Es wird sich so wenig einstellen wie die "blühenden Landschaften" in den neuen Bundesländern, obwohl dort die Voraussetzungen weit bessere waren.

Woher rührt diese "Erfahrungsresistenz"?

Hankel: Ein Grund ist die fehlende Wirtschaftskompetenz: Wo in der Bundesregierung oder EU-Kommission sitzen Fachleute von der Weitsicht eines Ludwig Erhard oder Karl Schiller? Ein anderer Grund sind Herkunft und Horizont der Politikberater. Sie kommen überwiegend "aus der Firmenecke" und verwechseln, typisch für gute Firmensanierer, die Mikro- mit der Makroökonomie. Denn wer immer nur Kostensenken und Sparen predigt, verdrängt völlig, daß er damit auch Einkommen vernichtet - und die fehlen uns in Deutschland am allermeisten! Seit 14 Auflagen warnt Paul A. Samuelson, Nobelpreisträger der Ökonomie und weltweit führender Lehrbuchautor, vor dem gefährlichsten aller ökonomischen Trugschlüsse: zu glauben, das Wohl der Firma sei identisch mit dem der Volkswirtschaft. Wer anderen durch Sparen und Kostensenken die Einnahmen wegnimmt und die Märkte verkleinert, hat vielleicht sich genützt, aber allen anderen - Firmen wie Haushalten - kräftig geschadet! Diese "neoliberale" Kurzsicht beherrscht vor allem die Reformdebatte in Deutschland. Sie ist so "wissenschaftlich" wie ein Science-Fiction-Roman, nur gefährlicher - und sie bewahrt uns nicht vor der Krise, sondern erhält sie uns.

Es droht aber nicht nur die Zuwanderung von billiger Konkurrenz: Der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) vertritt die Auffassung, die eigentliche Gefahr - obwohl sie unterm Strich für Deutschland zu einer Wohlstandssteigerung führe - bestehe darin, daß "Arbeitsplätze abwandern": Deutschland drohe zur Ladentheke für Werkbänke in Osteuropa zu werden.

Hankel: Richtig daran ist, daß wir zunehmend Produktionsanlagen exportieren, deren Produkte wir anschließend in Teilen importieren. Dadurch erweitert sich die Schere zwischen den Gewinneinkommen auf der einen, den Lohn- und Sozialeinkommen auf der anderen Seite. Der gemeinsame Markt nützt zwar den Unternehmen, erhöht ihre Gewinne, schafft aber eine Menge zusätzlicher sozialer Probleme: wie zum Beispiel den "Export" von Arbeitsplätzen und dementsprechend höhere Sozialaufwendungen hierzulande. Man erwartet sich alles Heil von Europa, aber verdrängt, daß Europa auf wirtschaftlich gesunde und sozial stabile Staaten angewiesen ist.

Für Gewerkschaftsfunktionäre müßten Begriffe wie "Lohndumping" und "Gerechtigkeitslücke" doch extreme Reizworte sein. Warum begrüßen die Gewerkschaften angesichts dieser Aussichten die Osterweiterung?

Hankel: Die Gewerkschaften teilen die allgemeine, aber kritiklose EU-Euphorie. Ihr kosmopolitisches Erbe erklärt ihre europapolitische Blindheit. Denken Sie an Herrn Lafontaine. Erst bekehrte er die SPD zum Euro, und jetzt beklagt er lauthals die Folgen von dem, was er dadurch mit angerichtet hat: zunehmende Arbeitslosigkeit und Lohndruck. Ähnliches habe ich auch mit Herrn Zwickel erlebt: Als ich ihn auf einem Kongreß darauf hinwies, daß ein deutscher Flächentarif in einem integrierten Arbeitsmarkt ohne Abschottung durch Wechselkurse - also eurobedingt - nicht zu halten sei, sagte er nur: "Europa ist uns ebenso wichtig". Im Klartext: Wichtiger!

Schützt denn wenigstens die siebenjährige Übergangsfrist für Arbeitnehmer die deutschen Arbeitsplätze?

Hankel: Das ist pures Wunschdenken! Das Einkommens- und Lebensstandardgefälle zwischen den alten und den neuen EU-Mitgliedern ist zwei- bis dreimal größer als zwischen den EU-Altmitgliedern im Westen. Aus dem Umstand, daß wir bislang so wenig Zuwanderung aus Portugal oder Irland hatten, kann nicht geschlossen werden, daß dies bei der Öffnung gegenüber Polen, der Slowakei oder schließlich den Balkanstaaten genau so sein wird.

2007 steht die nächste Erweiterungsrunde an: Rumänien und Bulgarien - wahrscheinlich auch Kroatien. Das European Policy Center in Brüssel spricht davon, die EU bis 2025 auf 41 Mitglieder zu erweitern.

Hankel: Mit dreißig oder mehr Beitrittsstaaten endet der Traum von der politischen Einheit Europas - oder wird zum Alptraum. Dieses Europa ist nicht mehr regierbar: Es hätte mehr EU-Kommissare als Sachgebiete und die Europäische Zentralbank das Problem, für alle noch so unterschiedlichen Volkswirtschaften den gemeinsamen Zins zu finden - den es gar nicht geben kann. Politiker, die diese Mega-EU anstreben und eine Europäische Währungsunion verwirklichen wollen, die ihre Mitgliedsstaaten wirtschaftlich und sozial destabilisiert, verwechseln Dynamik mit Dynamit! Gott schütze uns vor ihnen und den Folgen ihres Tuns!

Nach Diktion der etablierten Europa-Apologeten wären Sie ein im "Nationalstaatsdenken verhafteter Gegner Europas", der Egoismus statt Solidarität postuliert.

Hankel: Eine Mutter, die ihr Kind vor dem Fall in den Brunnen schützt, ist eine gute Mutter, keine schlechte. Warnungen sind Ausweis von Sorge, das Gegenteil von Blindheit oder rückständigem Denken. Die in der EU und ihrer fast grenzenlosen Erweiterung - demnächst bis zum Kaukasus - verwirklichte Vision ist zutiefst undemokratisch und ahistorisch. Europas Bürger haben sich ihre Rechte vor 200 und mehr Jahren nicht erkämpft, um sie an eine Kompanie von Eurokraten abzugeben. Montesquieu würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er hörte, was aus seiner Gewaltenteilung im heutigen Europa geworden ist: Ein Parlament, das nichts - oder nicht genug - zu sagen hat, eine Exekutive - Kommission und Ministerrat - die sich ihre Gesetze selber gibt, wobei nur der Dauerstreit zwischen beiden das Schlimmste verhindert, und ein Volk, das nicht einmal über die "Verfassung" dieses staats- und völkerrechtlichen Monstrums abstimmen darf. Und das, obwohl dies unser Grundgesetz entgegen der Behauptung des Bundeskanzlers durchaus vorsieht! Und über allem ein kollektiver Sonnenkönig: ein absolutistischer Herrenclub aus Staats- und Regierungschefs! Das ganze gebildet aus einer Staatengemeinschaft, die Europa mit einer Art goldenen Melkeimer verwechselt, aus dem jeder Einzelstaat versucht, mehr herauszuholen, als tatsächlich Milch darin ist! Vor diesem Europa kann nur gewarnt werden. Es verhöhnt die Hoffnungen, die die Bürger des alten Kontinents mit der Idee Europa seit langem verbinden und die sie verwirklicht sehen wollen.

Was wäre die Alternative?

Hankel: Charles de Gaulles Europa der Vaterländer, ein europäisches Commonwealth of Nations, eine großeuropäische Schweiz, in der sich die "Kantone" oder Staaten ewigen Frieden schwören, wechselseitigen Beistand bei gemeinsamer Gefahr leisten - ob Kalter Krieg, Terrorismus oder was auch immer die Zukunft bringen mag. In der die Wirtschaftsgrenzen offen und innere Demokratie und Sozialstaatlichkeit Beitrittsvoraussetzung sind. Dieses Europa der "funktionellen Integration", wie es in Deutschland Ludwig Erhard und Karl Schiller vorschwebte, könnten wir morgen haben, hätten wir nur - nicht bessere Bürger, sondern bessere Politiker.

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel war bis 1968 Direktor der Kreditanstalt für Wiederaufbau, dann bis 1972 Ministerialdirigent unter SPD-Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller, schließlich Präsident der Hessischen Landesbank. Neben seiner Tätigkeit an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main lehrte er an den US-Universitäten Harvard, Georgetown, Johns Hopkins University und war Berater von Regierungen der Dritten Welt, Ostasiens und Rußlands. Er übersetzte "Economics" ("Volkswirtschaftslehre") von Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus, eines der weltweit wichtigsten Lehrbücher für Ökonomie, ins Deutsche und veröffentlichte selbst zahlreiche Fachtitel, zuletzt zusammen mit Wilhelm Nölling, Karl Schachtschneider und Joachim Starbatty den 2001 wiederaufgelegten Band "Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß" (Rowohlt, 1998). Geboren wurde er 1929 in Langfuhr bei Danzig.

 

Foto: Deutscher Zoll bei einer Schwarzarbeiter-Razzia im Euro-Grenzgebiet bei Cottbus: "Das Produktivitätsgefälle zwischen den alten und den neuen EU-Ländern ist riesig. So wird sich im Osten der EU das Schicksal der DDR wiederholen ... was die Wanderung in den Westen verstärken und - vor allem bei uns - die Arbeitslosigkeit weiter anwachsen lassen wird."

 

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