© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/04 30. April 2004

Aufschrei des Platzhirschen
Zentralrat der Juden: Bei dem Streit mit den progressiven Gemeinden geht es nicht nur um Geld, sondern um Macht
Ivan Denes

Zwischen dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Union Progressiver Juden - die amtliche Bezeichnung für die modernisierende Reformbewegung innerhalb des Judentums - ist ein lautstark ausgetragener Konflikt ums Geld ausgebrochen. Zusammengefaßt: Die Bundesregierung hat mit dem Zentralrat im vergangenen Jahr ein Abkommen über eine jährliche Subvention von drei Millionen Euro geschlossen. Die Reformjuden, die bisher keinen Platz unter dem Dach des Zentralrats bekommen konnten, fordern einen Anteil. Da ihrer Union der öffentlich-rechtliche Status erst nach zehn Jahren gewährt werden kann und sie einstweilen streng juristisch gesehen lediglich als "Verein" auftreten kann, lehnt der Zentralrat eine finanzielle Beteiligung der liberalen Union glatt ab.

Bundeskanzler Gerhard Schröder und Bundesinnenminister Otto Schily haben sich vergangenen Mittwoch im Kanzleramt mit dem Vorsitzenden des Zentralrates, Paul Spiegel, sowie dessen Stellvertretern Salomon Korn und Charlotte Knobloch zwar getroffen, es aber - wohlwissend, was auf sie andernfalls zugekommen wäre - rundheraus abgelehnt, sich in den Konflikt einzumischen. Es wurde lediglich darauf gedrängt, daß die Streithähne anfangen, miteinander zu sprechen. Jan Mühlstein, Sprecher der Reformjuden, erläutert, daß solche Gespräche schon früher stattgefunden, aber zu nichts geführt hätten. Sollte es zu keiner gütigen Einigung kommen, werde sich die Union gezwungen sehen, vor einem deutschen Gericht gegen die Bundesregierung wegen Diskriminierung zu klagen. Eine Klage jüdischer Verbandsvertreter gegen eine deutsche Regierung wegen Diskriminierung hätte ein riesiges internationales Echo - zumal sich die große Mehrheit des amerikanischen Judentums zur Reformbewegung bekennt - und würde einen üblen Geschmack hinterlassen.

Der Zentralrat hat etwa 100.000 Mitglieder

Die Wellen schlagen hoch: Bereits vor zwei Wochen, am 16. April, trat der stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Julius Schoeps, ein angesehener Wissenschaftler, der in Potsdam das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien leitet, vermutlich wegen des sturen Verhaltens Paul Spiegels von seinem Amt zurück. Offiziell bestätigen wollte Schoeps den Grund seinen Rückzugs zwar nicht, doch hatte er zuvor den Zentralrat der Juden wegen dessen Haltung gegenüber den liberalen Juden scharf kritisiert.

Die Enkeltochter des Großrabbiners Leo Baeck (1873-1956) - ehedem Präsident der Weltunion für Progressives Judentum - hat dem Zentralrat und Paul Spiegel verboten, sich auf ihren Großvater zu beziehen und Leo Baecks Namen gegen seine klaren Überzeugungen zu mißbrauchen. In einem Offenen Brief schreiben die Baeck-Enkelin Marianne Dreyfus und ihr Mann A. Stanley Dreyfus, die Kritik aus aller Welt an "der schlimmen Diskriminierung liberaler Juden in Deutschland durch den Zentralrat und durch seinen Vorsitzenden Paul Spiegel hätte Leo Baeck tief gekränkt und hat uns auf das Äußerste verletzt". Eine kleine Pikanterie am Rande: Der Zentralrat sitzt in Berlin im Leo-Baeck-Haus und vergibt einen Leo-Baeck-Preis ...

Dabei geht es nur vordergründig um das Geld. Denn laut amtlicher Auskunft gehören zu den unter dem Dach des Zentralrates organisierten jüdischen Gemeinden etwa hunderttausend Mitglieder. Laut Spiegel zählen die 14 Reformgemeinden zweitausend Mitglieder, diese selbst sprechen von dreitausend. Stellt man eine Milchmädchenrechnung auf, so kämen auf die hunderttausend Zentralratsmitglieder aus den drei Millionen Euro pro Kopf 30 Euro. Davon müßten also für die Reformjuden 60.000 Euro (nach Spiegels Angaben) oder höchstens 90.000 Euro (laut Mühlstein) abgezweigt werden - angesichts des aufgewirbelten Staubes und lauten Geschreis eigentlich lächerliche Beträge. Es geht nicht um die 60.000 oder 90.000 Euro, es geht um die Illusion der Macht, die eine reale oder fiktive Alleinvertretung für alle in Deutschland lebenden Juden gewährt.

Tatsächlich geht es um diesen Alleinvertretungsanspruch des Zentralrates und Spiegels, der nicht zur Kenntnis nehmen will, daß die jüdische Reformbewegung ursprünglich hierzulande entstanden war und ihn schon Respekt vor dieser Tradition zum Nachgeben zwingen sollte. Spiegel scheint von einer Krankheit angesteckt zu sein, die nicht selten die Anführer mächtiger Organisationen oder Körperschaften erfaßt: das Gefallen an der Macht, das sich durch Ablehnung jedes Pluralismus und jeder Toleranz gegenüber Gesinnungsgegnern oder auch nur Parallelorganisationen bemerkbar macht. Langsam beginnt man bei ihm Ähnlichkeiten mit dem Gewerkschaftsboß Michael Sommer zu entdecken. Der DGB-Chef will bis heute nicht wahrhaben, daß es neben seiner Organisation auch noch christliche Gewerkschaften gibt. Sommer und Spiegel sind von einem unseligen "Platzhirschsyndrom" befallen.

Die Orthodoxie wird nur vorgegaukelt

Das Paradoxe dabei ist, daß Spiegel einem Zentralrat vorsitzt und verteidigt, der eine fiktive Orthodoxie vorgaukelt. Denn die tatsächlich orthodoxen Juden zählen in Deutschland höchstens dreitausend Seelen. Wer am Freitagabend in die Synagoge in die Pestalozzi-Straße zur Erev-Shabbath-Andacht geht - und die Berliner Gemeinde gibt sich dem Namen nach orthodox -, der genießt neben dem Gesang des opernwürdigen Kantors die bei Orthodoxen unvorstellbare Orgel- und Chormusik und staunt nicht, Frauen nicht nur auf der Empore, sondern sehr wohl auch seitlich und auf gleicher Ebene mit den Männern sitzen zu sehen. Und wenn Spiegel bei einem nichtreligiösen Anlaß im Fernsehen auftritt, trägt er auch keine Kippah.

Jedenfalls bekundet seine sture Ablehnung der Mitfinanzierung der Reformjuden - für die sich jetzt auch Parlamentarier der Regierungsfraktionen, von Dieter Wiefelspütz (SPD) bis Volker Beck (Bündnisgrüne), einsetzen - und sein Versuch, die Kontroverse auch zu dieser späten Stunde noch aus der Öffentlichkeit herauszuhalten, daß er das Maß verloren hat. Spiegels Vorgänger Ignatz Bubis hatte noch stets gefordert: "In der Einheitsgemeinde muß sich jeder wiederfinden können."

Es scheint zur Stunde wenig wahrscheinlich, daß es zu einer außergerichtlichen, gütigen Lösung des Konfliktes zwischen dem Zentralrat und der Union Progressiver Juden kommen wird. Es sei denn, man beherzigt den Rat, den vor einiger Zeit der Doyen jüdischer Journalisten in Deutschland, Ernst Cramer, den man wahrlich nicht des Antisemitismus bezichtigen kann, formulierte: den Zentralrat auflösen, zumal er aus dem Judenrat der NS-Zeit hervorgegangen sei; und auch in der Weimarer Zeit habe es kein "Zentralorgan" und keine Einheitsvertretung gegeben - jede Gemeinde stand für sich selbst. Eine gute, aber auch utopische Idee.

Foto: Spiegel in der Dresdner Synagoge: Im Fernsehen ohne Kippah


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