© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/04 30. April 2004

Zivilisationsopfer schmecken nicht
Liebeskummer: In einem chinesischen Zoo kletterte ein Mann ins Tigergehege, um sich bei lebendigem Leib fressen zu lassen
Richard Stoltz

Als der berühmte, seinerzeit hochpopuläre Fernsehprofessor, Tierfreund und langjährige Zoodirektor Bernhard Grzimek gefragt wurde, wie er denn eines Tages am liebsten sterben wolle, antwortete er: "Von einem Löwen gefressen werden." Das hat damals viel Gekicher, auch Entrüstung hervorgerufen. Tatsächlich starb Grzimek dann 1987 an Herzversagen - während einer Tigervorführung im Zirkus.

Von Tigern und dem Wunsch, gefressen zu werden, wußte kürzlich auch die in Hongkong erscheinende Zeitung South China Morning Post zu berichten. Ein von seiner Ehefrau verlassener junger Mann wollte im Zoo von Nanking gewissermaßen die Nagelprobe auf den Grzimek-Wunsch geben und wegen Liebeskummer auf möglichst dramatische Art mit seinem Leben Schluß machen. So kletterte er über Graben und Zaun des Tigergeheges in der Hoffnung, bei lebendigem Leibe gefressen zu werden. Aber siehe, die Tiere verschmähten den Mann, nahmen nicht einmal Notiz von ihm. Und dabei waren sie doch echt hungrig, warteten gerade auf ihre halbwöchentliche Futterration.

Die South China Morning Post berichtet jedenfalls, die Tiger hätten sich von den herbeigeeilten Tierpflegern ablenken lassen und sich richtig gierig auf ihr normales Futter gestürzt; es gab frisch geschlachtetes Hühnchen und Entenleber. Der junge Grzimek-Adept hingegen konnte vollkommen unbehelligt das Gehege verlassen und muß jetzt mit einer Ordnungsstrafe wegen groben Unfugs rechnen. Sein Liebeskummer wird dadurch wahrscheinlich nicht geheilt.

Wir modernen Menschen sollten uns nicht überschätzen. Wir sind - Professor Grzimek selig sei's geklagt - mittlerweile so sehr aus dem natürlichen Kreislauf des Lebens herausgewachsen, daß wir nicht einmal mehr als Tigerfutter taugen. Höchstens werden wir noch gefressen, wenn es für die Fresser gar keine Alternative mehr gibt. Bis dahin ist ihnen Entenleber lieber.


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