© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/04 07. Mai 2004

Ernsthafte Bedenken
Rußland: Aus Moskauer Sicht stärkt die EU- und Nato-Osterweiterung den antirussischen Block
Wolfgang Seiffert

Von den Millionen, die am 1. Mai den Beitritt von zehn Ländern zur EU gefeiert haben sollen, wußten die wenigsten, was sie da eigentlich feierten. Denn zumindest die Aufhebung der Grenzen, die da vielerorts symbolisch zelebriert wurde - etwa an der deutsch-polnisch-tschechischen Grenze in Zittau - findet vorerst nicht statt. Einmal gibt es mehrjährige Übergangsfristen, bis die Personenkontrollen wirklich entfallen. Es existiert zwar Visafreiheit zwischen den alten und neuen EU-Staaten - der freie Reiseverkehr wird aber erst dann Realität, wenn die neuen EU-Länder dem Schengener Abkommen beigetreten sind.

Wieder einmal zeigte sich, daß die einfachen Bürger klüger sind als die Politiker, wenn bei aktuellen Umfragen mehr als 75 Prozent der Befragten in der EU von der Osterweiterung mehr Nachteile als Vorteile erwarten. Der Prozentsatz dürfte in etwa auch jenem Anteil der Bevölkerung entsprechen, der Nachteile erfahren wird.

Schon gar nicht war vergangenes Wochenende die Rede davon, daß die neuen Außengrenzen der EU besonders hart sein werden - gegenüber den Waren, Dienstleistungen und den Menschen, die "draußen vor" bleiben: beispielsweise die Weißrussen, die Ukrainer und die Russen. Denn an der neuen 3.600 Kilometer langen Außengrenze der EU gegenüber Rußland, Weißrußland und der Ukraine sowie den 433 Kilometern EU-Grenze gegenüber der russischen Exklave Kaliningrad/Königsberg - dem bis 1945 deutschen Nordostpreußen - wird das Grenzregime unerbittlich sein: kein freier Personenverkehr ohne Visa, kein freier Warentransport ohne Erhebung der EU-Zölle, keine freie Wareneinfuhr ohne Beachtung der von der EU gesetzten Einfuhrlimits. Zudem leben nun insgesamt fast zwei Millionen Russen in der EU -als ethnische Minderheit, aber mit vielfältigen verwandtschaftlichen und anderen Beziehungen nach Rußland oder in die übrigen GUS-Staaten.

Da mögen Rußland und die Ukraine (bei Weißrußland unter Präsident Alexander Lukaschenko sieht es etwas anders aus) schon seit Jahren die Kommunisten von der Macht vertrieben, das umfassende Staatseigentum beseitigt, das Privateigentum verfassungsrechtlich garantiert, rechtsstaatliche Prinzipien eingeführt haben - nichts da: Die Ostslawen bleiben "No-EU", wie man an jeder Paßkontrolle auf den Flugplätzen der EU-Staaten und an den Übergängen der EU-Außengrenze lesen kann. Gewiß machten die EU-Kommissare und ihr Chef Romano Prodi bei ihrem jüngsten Besuch in Moskau und danach ein paar Zugeständnisse: Der Zolltarif für russische Exporte in die EU soll von neun auf vier Prozente gesenkt und die Importquote für russischen Stahl erhöht werden. Doch Erfahrung lehrt, daß man erst einmal abwarten muß, was davon im Amtsblatt der EU noch übrigbleiben wird.

Die übliche Floskel von der "Visafreiheit zwischen EU und Rußland in der Zukunft" wird fast so routinemäßig wiederholt wie einst die Formel des SED-Chefs Walter Ulbricht von der unerläßlichen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR. Ihr realer Gehalt ist gleich null. Denn während der visafreie Personenverkehr der USA in und aus ihrer Exklave Alaska durch Kanada noch nie in Frage stand, wird der völkergewohnheitsrechtliche Anspruch auf freien Zugang per Landweg zum Oblast Kaliningrad Rußland von der EU nach wie vor verweigert. Auch wenn der historische Vergleich hinkt: Zwischen den Weltkriegen war der "polnische Korridor" (der Ostpreußen vom Deutschen Reich trennte) einer der Hauptkonflikte zwischen Berlin und Warschau.

Überhaupt ist der antirussische Charakter der EU mit dem Beitritt der zehn neuen Länder enorm verstärkt worden. Daß die baltischen Länder dank ihrer Erfahrungen mit Stalin und seiner UdSSR auch Rußland gegenüber keine Sympathien hegen, liegt auf der Hand. Bei den Polen ist dies kein Deut anders.

Zwar ist das heutige Rußland nicht die stalinistische UdSSR, doch wer kümmert sich schon um solche "Feinheiten"? Und sind nicht Polen und die baltischen Staaten gerade deshalb der Nato beigetreten, weil sie sich nach wie vor vor Rußland fürchten - auch wenn es immer wieder heißt, die russische Armee sei schon lange auf den Hund gekommen?

Deshalb baut man in Brüssel nicht nur an der EU-Osterweiterung, sondern auch an der der Nato - obwohl eine solche "mechanistische Expansion" nach Ansicht des russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht die Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sein könne. "Rußland hat seine selbständigen Positionen in der äußeren Arena gegen Ende des 20. Jahrhunderts verloren. Diejenigen Kräfte in der Welt, die sich weiterhin durch die Stereotypen des Kalten Krieges leiten lassen und trotz aller süßen Reden Rußland wie damals als ihren politischen Widersacher betrachten, unterstützen mit voller Kraft alles, was solch einen Zustand unseres Landes möglichst lange konservieren könnte", erklärte Putin am 12. Februar 2004.

In der Hauptsache wendet sich Rußland dagegen, den Aufbau einer militärischen Infrastruktur in solchen Nato-Staaten zu akzeptieren, die den 1999 abgeschlossenen Zusatzverträgen über konventionelle Streitkräfte in Europa nicht beigetreten sind - also die baltischen Staaten und Slowenien "Jegliche Pläne, die militärische Infrastruktur der Nato bis an unsere Grenzen auszuweiten, treffen auf unsere ernsthaften Bedenken", warnte der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow.

Dies gilt für die Absicht der Nato, in den Rußland benachbarten baltischen Nato-Staaten unter anderem F-16-Kampfflugzeuge zu stationieren, die militärische Aufklärung bis tief nach Rußland hinein betreiben können (Süddeutsche Zeitung vom 10/11. April 2004). Dies gilt natürlich erst recht für die Absicht der USA, in den nächsten zwei Jahren ein Drittel ihrer in Europa stationierten Streitkräfte an die Grenzen Rußlands zu verlegen, nach Polen etwa (was wahrscheinlich doch nicht realisiert wird) und nach Rumänien oder sogar in die ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Georgien (FAZ vom 13. Dezember 2003).

Käme eine solche Stationierung zustande und würde sie auch Mittelstreckenraketen umfassen, so könnte nach Meinung erfahrener russischer Politologen dies leicht zu einer umgekehrten "Kuba-Krise" führen. Jedenfalls hat der Verteidigungsminister Iwanow inzwischen mit der Regierung in Minsk über die Stationierung russischer Raketen in Weißrußland verhandelt.

Faktisch entsteht mit der Osterweiterung von EU und Nato ein antirussischer Block, auch wenn man dies in Rußland selbst gern ein wenig herunterspielt und in Brüssel diese Realität mit schönen Reden von guten Beziehungen und Partnerschaft mit Rußland verschleiert wird. Doch wie unehrlich solche Reden sind, zeigte sich schon allein darin, wenn am 1. Mai von der "Überwindung der Teilung Europas" die Rede war. Demnach gehört Rußland und die Ukraine nicht mehr zu Europa - Weißrußland mit dem Despoten Lukaschenko ohnehin nicht. Gleichzeitig wird aber der Türkei-Beitritt ernsthaft diskutiert.

Putin ist sich über diese Situation wohl im klaren, aber auch darüber, daß Rußland zu schwach ist, um es auf ernsthafte Konflikte ankommen zu lassen. Er unternimmt, was er kann: er versucht für Rußland herauszuholen, was aus der Situation herauszuholen ist, und setzt im übrigen darauf, daß Rußland dank der hohen Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas gegen eine Wirtschaftskrise selbst dann gefeit ist, wenn der Erdölpreis auf dem Weltmarkt fallen sollte - dank hoher Devisenreserven. Im übrigen trauen selbst westliche Experten inzwischen der russischen Wirtschaft zu, daß das von Putin angestrebte Wachstum des Bruttosozialprodukts um zehn Prozent innerhalb der nächsten zehn Jahre erreicht wird.

Vor diesem Hintergrund kann Putin auch weiterhin ein vorsichtiger Politiker bleiben, wenn der Westen nicht übermütig wird. Denn inzwischen kritisieren selbst Anhänger Putins wie der Politologe Alexander Zipko, Putin habe "Angst vor der eigenen Macht" (Literaturnaja Gazetta vom 23. März 2004).

Foto: Kanzler Schröder mit Präsident Putin: Rußland ist derzeit zu schwach, um es auf ernsthafte Konflikte ankommen zu lassen

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht in Kiel und lehrte am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Er verfaßte u.a. das Buch "Wladimir W. Putin - Wiedergeburt einer Weltmacht?".


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