© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/04 07. Mai 2004

Ohne Rüstzeug in die Arbeitswelt
Ausbildungsplatzabgabe: Alle Forderungen an die Wirtschaft, mehr Jugendliche auszubilden, gehen ins Leere, wenn die Schule keine Basisbildung mehr vermitteln kann
Hans Christians

Der Griff zum Taschenrechner gehört in diesen Tagen in Deutschlands Chefetagen zur Alltagsarbeit. "Was wäre wenn?" ist die am häufigsten gestellte Frage. Während die Vertreter der Wirtschaft sich noch mit Händen und Füßen gegen die Ausbildungsplatzabgabe wehren, sind die Personalleitungen bereits mit den Auswirkungen beschäftigt. Eine genaue Rechenmethode gibt es freilich noch nicht: Denn das geplante Gesetz gibt zwar den Rahmen vor, jedoch wird die Abgabe erst erhoben, wenn im betreffenden Ausbildungsjahr nicht mindestens 15 Prozent der Lehrstellen über Bedarf angeboten werden. Das hört sich kompliziert an - und ist es auch. Woran sich deshalb derzeit alle halten, ist die geforderte Quote von sieben Prozent Ausbildungsplätze im Verhältnis zur Gesamtbeschäftigtenzahl.

Die aktuelle Unsicherheit verrät viel über den politischen Hintergrund. Die Ausbildungsplatzabgabe ist das Prestige-Projekt von Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem neuen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering. Mit diesem Zuckerstückchen wollen die beiden sozialdemokratischen Frontmänner die frustrierte Parteilinke inklusive Gewerkschaften beschwichtigen. Doch so vage die Formulierungen derzeit sind, so brüchig ist die Front der Unterstützer. Auch in Regierungskreisen. Kurt Beck galt beispielsweise in der SPD als zuverlässiger Parteisoldat. Streitereien sind dem rheinland-pfälzischen Landesvater fremd. Auch als Rädelsführer von parteiinternen Aufständen ist der Mann aus Mainz bislang nicht aufgefallen. Bis zu einer Sitzung des SPD-Vorstands Ende Februar. Da zeigte sich der sonst so stille Beck von einer anderen Seite.

Die Abgabe bringt Bürokratie statt mehr Ausbildungsplätze

Ohne "jede Vorwarnung" - so berichten Berliner Journalisten - habe Beck eine Protestfront gegen das aktuelle Lieblingsprojekt der Sozialdemokraten angeführt. Völlig überflüssig sei das Vorhaben. "Damit sorgen wir nicht für mehr Lehrstellen, sondern nur für mehr Bürokratie", polterte Beck. Prompt fühlten sich auch andere Genossen zum Widerspruch ermuntert. "Regionen, die genügend Ausbildungsplätze schaffen, brauchen die Umlage nicht", wetterte die Kieler Ministerpräsidentin Heide Simonis. Und Harald Schartau, SPD-Landeschef von Nordrhein-Westfalen, konstatierte nüchtern: "So werden wir die Probleme nicht lösen."

Und die sind groß genug: Laut offizieller Statistik suchen derzeit 20.000 Jugendliche vergebens einen Ausbildungsplatz. Mit dem Ende des Schuljahrs könnten es bis zum Herbst über 100.000 werden, befürchtet die zuständige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn. Diese Entwicklung wollen SPD und Grüne im Bundestag mit ihrem Gesetzentwurf stoppen. Die Idee, die dahinter steckt, ist einfach. Wer nicht ausbildet, soll zahlen, wer mehr ausbildet, wird auf Kosten der Drückeberger entschädigt. Klingt gut, doch die Probleme stecken - wie so häufig - im Kleingedruckten.

Jedes Jahr im Herbst soll es zur großen Lehrstellenzählung kommen, bei der alle Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten Auskunft geben müssen. Nur kleinere Unternehmen bleiben verschont. Eine neue Erfassungsstelle soll die Meldungen bearbeiten. Im Gespräch sind das Bundesinstitut für Berufsbildung, die Bundesagentur für Arbeit oder das Bundesverwaltungsamt. Nur 150 Leute seien dafür nötig, beteuern die rot-grünen Arbeitsmarktexperten. Und selbstverständlich seien das nicht unbedingt neu zu schaffende Stellen. Das neue Amt legt jedes Jahr die erforderliche Ausbildungsquote je Betrieb fest: Wie hoch müßte der Prozentsatz der Lehrlinge an der Belegschaft sein, damit alle versorgt wären? Wie hoch ist er im Einzelfall tatsächlich? Beide Werte werden miteinander verglichen, dann wird ausgerechnet, wie viele Lehrstellen der Betrieb eigentlich anbieten müßte.

Die Abgabe soll nach Regierungsjargon "ausbildungsunwillige Unternehmen" treffen, treibt aber auch Stadtkämmerern die Schweißperlen auf die Stirn. Eine Blitzumfrage des deutschen Städtetages hat unlängst ergeben, daß keine Stadt die sieben Prozent erreicht. München müßte 3,5 Millionen Euro Abgabe zahlen, aber 13,5 Millionen investieren, um die nötigen Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Folge: Ausgebildet wird nicht, dafür lieber die vergleichsweise geringere Strafe bezahlt. Und dies angesichts chronisch leerer Kassen. Schon vor der ersten Beratung über die Ausbildungsplatzabgabe im Bundestag hatte der Deutsche Städtetag eine Ausnahmeregelung für die Kommunen gefordert. Sollte es zur Erhebung einer solchen Abgabe kommen, "müssen die Städte von der Zahlung befreit werden", forderte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Stephan Articus. Er verwies darauf, daß die Kommunen bereits als Träger der beruflichen Schulen einen ganz entscheidenden Beitrag zum dualen Ausbildungssystem leisteten. Weitere finanzielle Lasten seien für die Städte nicht hinnehmbar. Nun denkt die Regierung über Ausnahmegenehmigungen nach.

Für herkömmliche Unternehmer sollen diese selbstverständlich nicht gelten. Experten können angesichts dieser Planungen nur noch den Kopf schütteln. Scharfe Kritik übt beispielsweise Berufsbildungsexperte Felix Rauner. Die Abgabe sei kontraproduktiv, sagt er der Zeit. "Sie belohnt und bestraft die Falschen. Sie verstärkt die Arbeitslosigkeit. Und sie verschärft die Krise der Berufs-bildung." Rauner, Leiter des Instituts Technik und Bildung der Universität Bremen, gilt als einer der führenden deutschen Berufsbildungsforscher. Den nicht ausbildenden Betrieben Böswilligkeit zu unterstellen, sei "großer Quatsch". Schuld an der Misere sei das veraltete Berufsbildungsgesetz. Spezialisierte Betriebe könnten gar nicht mehr das ganze für einen Beruf notwendige Arbeitsspektrum anbieten. Das sei nur in Ausbildungskooperationen möglich, die Rauner als Zukunftsmodell für die Berufsbildung sieht. Rauner kritisiert den Plan, Betriebe, die mehr ausbilden, zu belohnen, das ermuntere geradezu einige Betriebe, über ihren Bedarf auszubilden: "Diese Fehlausgebildeten wandern dann in die Arbeitslosigkeit oder müssen umgeschult werden."

Die Ausgangslage ist offenkundig: Noch nie war es für Schulabgänger so schwierig, einen Ausbildungsplatz zu bekommen wie heute. Immer weniger Unternehmen bilden aus. In Mitteldeutschland ist nur noch jeder zehnte Betrieb bereit, eine Lehrstelle anzubieten. Die einst hochgelobte duale Berufsausbildung der Republik steckt in der Krise. Die Betriebe kämpfen mit der längsten und hartnäckigsten Konjunkturflaute der Nachkriegsgeschichte. Warum, fragen sich viele Unternehmer, sollen wir teure Ausbildungsstellen schaffen, wenn wir noch nicht einmal für unsere bewährten Stammkräfte genügend Arbeit haben?

Fachleute stoßen in die gleiche Kerbe. So hat der Rat der fünf Wirtschaftsweisen längst abgewunken und in einem jüngsten Gutachten vor einem "kontraproduktiven Zwangsinstrument" gewarnt. Viele Unternehmen würden sich "freikaufen" und sich darauf verlassen, daß mit dem Geld schon irgendwo anders Lehrstellen geschaffen würden. Daß eine Ausbildungsplatzabgabe keine Lehrstellen produziere, zeige das Beispiel der deutschen Bauindustrie. "Trotz Ausbildungsumlage sank dort die Zahl der Auszubildenden von 1995 bis 2001 von etwa 85.000 auf 51.000."

Großer Bedarf an Lehrstellen mit Sauberkeit und Sitzplatz

Gerade bei kleineren Betrieben geht momentan die Angst um. So klagen schon seit Jahren Bäcker- oder Metzgerbetriebe über Schwierigkeiten, Auszubildende zu finden: Vor allem um das traditionelle Handwerk machen Schulabgänger derzeit einen Bogen. Unter den 15 Berufen, die noch im Juli nach Azubis suchten, waren acht handwerklicher Art. Statistisch kann etwa ein angehender Fleischer zwischen zwei Ausbildungsplätzen wählen. Auch bei Gebäudereinigern, Glasern und Bäckern herrscht ein Überhang an Angeboten, wobei die Ausprägung regional unterschiedlich ist. Vor allem im Süden der Republik mangelt es betroffenen Betrieben an Bewerbern.

Gefragt sind dagegen Lehrstellen, die Sauberkeit oder einen Sitzplatz versprechen. Bei Arzthelfern, Büro- und Einzelhandelskaufleuten übersteigt die Zahl der Interessenten die freien Plätze bei weitem. "Eine Verbequemlichung der Gesellschaft" stellt der Zentralverband der Bäckerinnungen deshalb resigniert fest. Solche Klagen sind kein Einzelfall. Bundesweit sorgen die Aussagen von Personalchefs derzeit für Aufsehen. In einer großen Hintergrund-Reportage hat das Nachrichtenmagazin Focus eine ganze Palette von Ungeheuerlichkeiten aufgelistet. Da wird von Bewerbern erzählt, die als Kontaktmöglichkeit die Email-Adresse " peter@dicke-titten.de " angeben oder in einem Bewerbungsgespräch gleich zum kumpelhaften "Du" übergehen. Ohnehin sei die Resonanz ernüchternd. Fast die Hälfte aller Bewerbungen wandere prompt in den Papierkorb.

Angesichts der Ergebnisse einer Umfrage des Mitteldeutschen Rundfunks stellt sich jedoch die Frage, ob nicht auch die Politik durch Mängel in der Bildungspolitik eine Mitschuld an der Misere trägt. In der Stichprobe sollten elf Lehrstellenbewerber mit Hauptschulabschluß leichte Mathematikaufgaben lösen und Fragen zu Geschichte, Geographie und Allgemeinwissen beantworten. Dabei zeigten die Bewerber schlechte Allgemeinbildung und mangelhafte Kenntnisse in Mathematik, Geographie und Geschichte. So meinten einige der Bewerber, die Hauptstadt von Spanien sei Paris, Mallorca oder Portugal. Nur sechs der elf Kandidaten kannten die wirkliche Hauptstadt. Ebenfalls nur jeder zweite kannte den Namen des deutschen Außenministers. Daß Zürich eine Stadt in der Schweiz ist, wußte lediglich einer der Bewerber. Die anderen glaubten immerhin ein deutsches und ein österreichisches Zürich zu kennen. Einer der Befragten wußte sogar: "Zürich ist ein Land." Obwohl alle Befragten den deutschen Bundeskanzler kannten, hatte keiner je von Finanzminister Hans Eichel gehört. Otto von Bismarck war einem der Kandidaten zumindest noch als Kriegsschiff ein Begriff.

Noch schlechter sind die Mathematikkenntnisse. Fünf der elf Prüflinge scheiterten beim Berechnen einer Aufgabe aus der dritten Grundschulklasse: "Wie groß ist der Umfang eines zehn Meter breiten und vierzig Meter langen Feldes?" Gerade einmal sechs konnten zweieinhalb Stunden in Minuten umrechnen. Keiner der Bewerber beantwortete alle Fragen richtig. Sechs der Befragten erreichten beim Rechnen gerade einmal Grundschulniveau, auch Geographie und Geschichtskenntnisse waren mangelhaft. Dabei handelte es sich bei den ausgesuchten Schulabgängern um die jeweils besten Bewerber von mitteldeutschen Betrieben.

Die Gründe für die Ausbildungsplatzmisere liegen nach Expertenmeinung auf der Hand: zu hohe Kosten, schlecht qualifizierte Schulabgänger sowie die schlechte wirtschaftliche Lage, die es vielen Unternehmen nicht erlaubt, Auszubildende auch zu übernehmen. Außerdem seien mit den 40.000 Unternehmenspleiten im vergangenen Jahr auch mindestens 40.000 potentielle Ausbildungsbetriebe vernichtet worden. Fünf Prozent aller Jugendlichen, die sich im vergangenen Jahr um eine Lehrstelle bemüht haben, sind leer ausgegangen.

"Nicht ausbildungsfähig und ausbildungswillig", lautet das vernichtende Urteil der Wirtschaft über die 35.015 Jugendlichen ohne berufliche Perspektive. Das deutsche Bildungssystem entläßt diese Jugendlichen in eine Gesellschaft und eine Wirtschaftswelt, die mit ihnen nichts anfangen kann und mittlerweile auch nicht will. SPD-Partei- und Fraktionschef Müntefering dient dies als Begründung für die umstrittene Ausbildungsplatzabgabe: "Wir wollen nicht hinnehmen, daß junge Menschen, die über drei, vier Jahre hinweg keinen Ausbildungsplatz finden, mit zwanzig Jahren eine Karriere in die Sozialhilfe starten. Und daß die Kinder, die in diesem Milieu groß werden, wieder nicht mitkommen", sagt er. Und: "Der Sockel der unausgebildeten jungen Leute darf nicht größer werden."

An die tiefgreifenden Mißstände in der Bildungspolitik denkt kaum ein Politiker. "Nach der Null-Bock-Generation haben wir nun die Generation Kann-Nix", spottete die Welt. Denn an den Jugendlichen, ihrer Qualifikation und Motivation - sprich den elementaren Voraussetzungen - ändert die Ausbildungsplatzabgabe nichts. Lesen und Rechnen schwach, Allgemeinbildung gleich Null, die Bewerbungen sind fehlerhaft und schlampig, die Schulnoten werden immer schlechter - und die Motivation der Jugendlichen auch. Dieses Urteil ist allenthalben aus den Personalabteilungen deutscher Firmen zu hören.

Alte Tugenden wie Pünktlichkeit und Ordentlichkeit, so die Klage in der Wirtschaft, sind bei vielen Jugendlichen inzwischen unbekannt. "Viele der noch unvermittelten Bewerber erfüllen nicht die Anforderungen der Betriebe hinsichtlich ihrer Schulleistungen, ihrer Sozialkompetenz und ihres Alters", stellt auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag verbittert fest. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, ansonsten ein Mann mit schwäbischer Zurückhaltung, stellt ein vernichtendes Urteil aus: "Wer nicht richtig lesen, schreiben und rechnen kann, den können wir auch nicht ausbilden." Staatliche Bemühungen, diese Mißstände zu beseitigen, gibt es nicht erst seit gestern: Fast 250.000 Jugendliche mußten im vergangenen Jahr nach dem Schulbesuch erst einmal für eine Lehre in der Wirtschaft fit gemacht werden. 80.000 absolvierten ein Berufsvorbereitungsjahr, um ihren Hauptschulabschluß nachzumachen, 43.000 ein Berufsgrundbildungsjahr, das bei einer Lehre angerechnet werden kann, weitere 120.300 berufsvorbereitende Maßnahmen der Arbeitsämter.

Viele Jugendliche beherrschen Grundvoraussetzungen nicht

Für den Bundesvorsitzenden des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, ist die Diskussion um die Ausbildungsplatzabgabe denn auch "ein großes Ablenkungsmanöver der Politik". "Die eigentliche Frage, die Förderung von schwachen Schülern, die nicht in der Lage sind, eine Ausbildung zu machen, wird völlig außer acht gelassen. Um diese Gruppe muß man sich aber verstärkt kümmern", sagt der Verbandschef und fordert die Einführung von Praxisklassen, um schwache Schüler an den rauhen Alltag in der Wirtschaft heranzuführen. "Es ist ein Armutszeugnis der Bildungspolitik, daß sie es bis heute nicht geschafft hat, lange versprochene Fördermaßnahmen für diese Risikogruppe umzusetzen", so Meidinger weiter. Die Pisa-Studie habe klar gezeigt, daß vor allem Hauptschulen diese Förderung notwendig hätten. Meidinger: "Die Situation an den Hauptschulen hat sich in den vergangenen Jahren noch verschlechtert. Die Risikogruppe wird immer größer."

Das Problem fängt schon in der Grundschule an: Bei einem Drittel der Viertkläßler haben Wissenschaftler große Lese-Defizite festgestellt. Doch es ist nicht nur das fehlende Können, es ist auch das fehlende Engagement der Jugendlichen, das die Wirtschaft beklagt. So wurden alle unversorgten 35.015 Jugendlichen von den Arbeitsämtern angeschrieben und zu Lehrstellenbörsen geladen. Zirka vierzig Prozent der Angeschriebenen erschienen nicht. Ein Skandal, findet DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben. Er spricht von "Scheinbewerbern", die sich als Lehrstellenbewerber bei der Bundesagentur für Arbeit registrieren lassen, damit weiter Kindergeld gezahlt wird.

Und sein Chef hat auch schon eine Lösung parat. Bei einer Verkürzung der Ausbildungsdauer von drei auf zwei Jahre, da ist sich Ludwig Georg Braun sicher, könnten die Betriebe in den nächsten Jahren bis zu 15.000 neue Ausbildungsplätze schaffen - ganz ohne Ausbildungsumlage. Aber soviel Pragmatismus taugt natürlich nicht, um die wunden Seelen der frustrierten Genossen zu streicheln.


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