© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/04 07. Mai 2004

Pankraz,
P. P. Rubens und das Skelett im Fleischberg

Was haben ein Logarithmenstab und ein mächtiger Frauenhintern gemeinsam? Diese Frage stellt sich früher oder später für jeden kulturgeschichtlich interessierten Kunstfreund beim Durchschreiten der großen Rubens-Schau in Lille wie auch der vielen anderen Rubens- und überhaupt Barock-Ausstellungen, die derzeit in Europa um Besucher werben.

Einerseits erstickt man geradezu in großkurvigen Fleisch- und Speckmassen, es herrscht ein wildes Überschießen des Fleisches, ein sowohl quantitatives wie qualitatives Über-die-Stränge-Schlagen, auch ein Verschwinden aller klaren Konturen im Halb- und Ganzdunkeln, ein wahrer Aufstand gegen jede strenge Zucht und Form. Andererseits wird man in den Katalogen darüber belehrt, daß man sich hier mitten im Zeitalter des strikten Rationalismus befinde, in der Ära der Mathematik und der knappen Formeln, wo alles "more geometrico" angepackt und konstruiert worden sei. Was trifft nun zu, Speck oder Geometrie?

Der Name "Barock", den die Rubens- und Rembrandtzeit erhalten hat, deutet auf Chaos hin; er bedeutet "schiefrund", verschnörkelt, übertrieben, war übrigens ursprünglich ein Schimpfwort, das die Rationalisten maliziös auf die sie umgebende Kunst anwandten, als sie merkten, daß sich diese nicht nach ihren Anweisungen richten wollte. Das hat es ja immer gegeben: eine gewissermaßen natürliche Spannung zwischen herrschender Meinung und den Hervorbringungen der Kunst, wenn man im Rückblick dann auch meistens entdeckt, daß sich die Herrschenden und die Künstler doch recht einig waren, sich im Grunde nur Scheingefechte lieferten.

So auch hier im Barock zwischen 1640 und 1740. Wenn man genau hinsieht, merkt man, daß die fleischliche Üppigkeit und das manie­ristisch Überdrehte gar nicht das Eigentliche, Ausschlaggebende sind. Noch den wüstesten Barockgemälden von Rubens, man denke etwa an den "Raub der Töchter des Leukippos" aus der Münchner Pinakothek, liegt eine äußerst planvolle, ja, fast lächerlich starre Linienkomposition zugrunde, die sich sofort enthüllt, wenn man die Figuren gedanklich ihrer Fleischmassen entkleidet.

Hinzu kommt, daß alles Fleisch, übrigens auch alle scheinbar bloßen Land­schaften oder Stilleben, nicht so sehr sich sel­ber meinen als vielmehr etwas ganz anderes, daß sie stets auf etwas verweisen, auf eine Idee, eine Konstruktion, auf ein kunstfernes Motiv. Aus der sogenanntem "Emblematikfor­schung" wissen wir, daß beispielsweise die scheinbar so harmlose, speckbürgerliche, einzig auf die Entfaltung äußerer Pracht und äußeren Reichtums abgestellte holländische Kunst der damaligen Zeit voller geheimer Embleme steckt, die meistens sogar ziemlich triste Bedeutungen anzeigen, Embleme der Vergeblichkeit und der Todesverfallenheit.

Zudem wird viel Theater gespielt bei Rubens und den Seinen. Ihre gebärden­reichen, wild übertriebenen Aktionen sind faktisch nie natürlicher, unkontrollierter Ausbruch eines Affektes, sondern sie werden ganz bewußt und überaus planvoll inszeniert, nicht anders als die Systeme von Descartes oder Spinoza. Es sind Aufführungen, Arrangements, Installationen, Kulissen, die von unsichtbaren mathematischen Maschinen hin und her bewegt werden. Solche Inszenierung geschah auch im Inneren der Barockkirchen, insbesondere an den Decken­himmeln, und beim Bau der Barockschlösser und der Plätze davor, die geradezu verbissen nach geometrischen Gesichtspunkten organisiert und angelegt wurden.

Der Begriff der "Installation", der "Anlage", wurde damals geprägt. Jeder damalige Bau war kein einfacher Bau, sondern eine Bau-Anlage, eine Installation. Man betrachte einen beliebigen barocken Bau aus der Luft: sofort wird einem die ausgeklügelte, theatralisch-rationalistische Absicht augenfällig. Gebäudeflügel schließen sich streng geometrisch um genau abge­zirkelte Innenhöfe, Straßen und Plätze bilden Radien und Kreise oder gleichschenklige Dreiecke, siehe Karlsruhe oder Mannheim; die Garten-Anlagen sind nicht minder streng geordnet, in geometrische Figuren zerlegt, regelrecht in solche hineingezüchtet oder hineingeschnitten.

Die Fasziniertheit der Barockzeit von der Optik als physikalisch-mathematischer Disziplin paßt genau hierher. Außer dem Fernrohr wurden damals das Mikroskop, das Barometer, die Pendeluhr und das Thermometer erfunden. Man lernte, genau ins Kleine zu blicken, wo die lebendigen Formen auf molekulare, gleichförmig abzählbare und mechanisch bewegbare Formate zusammenschrumpften. Eine ungeheure Automatenbegeisterung griff um sich, die sich drollig mit dem barocken Theaterdonner vermischte. Denn auch beim Automatenbau wurde insze­niert und theatralisiert, auf Knalleffekt abgestellt, trat zum rationalen Mechanismus die augentäu­schende Gestik à la Rubens. Die Automatik an den Automaten wurde dadurch nicht kaschiert, im Gegenteil, sie wurde - wie Ernst Bloch in seinem Buch "Prinzip Hoffnung" so treffend anmerkt - kokett vorgezeigt:

"Charakteristisch war, daß das Automatenwerk nicht verhüllt wurde; es war mit Barockkleidern oder reicher türkischer Tracht ledig­lich drapiert und so doppelt sichtbar. Fast obszön trat bei allen Figuren das Räderwerk hervor. Der von den Rädern zurückgezogene Rock zeigte die Mechanik geradezu als neuen magischen Abgrund. Ein Nachklang davon ist noch in dem Taburett­krämer aus 'Hoffmanns Erzählungen'‚ mit Barometer, Hygrometer, Brillen - wer durch sie blickt, sieht alles Tote als lebendig."

Das Tote, kalt Mechanische drapiert sich als Lebendiges, als eigentlich einzig Lebendiges - eine triste, aber wohl zutreffende Pointe der Barockzeit. Hinter jedem Fleischberg gewahrt man ein klapperndes Skelett. Aber das sollte nicht vom Besuch der schönen Ausstellungen abschrecken.


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