© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/04 07. Mai 2004

CD: Klassik
Wurzeln
Jens Knorr

Wenn das Wort von dem Altern der Neuen Musik irgend zutrifft, dann wohl vor allem auf jene Werke der "Gemäßigten Moderne", die in schöner Regelmäßigkeit auf den Konzertprogrammen erscheinen können, ohne daß die meisten Hörer sie noch als skandalös empfinden. Man nimmt sie hin: Es hätte schlimmer kommen können. Heute liegt der eigentliche Skandal - wenn auch nur von wenigen empfunden - in allermeist mäßigen Interpretationen.

Zu diesen Werken zählen auf jeden Fall das Violinkonzert und die Streichquartette, die Klavierkonzerte und -Sonaten eines Komponisten ungarischer Abstammung. Ohnehin ist kaum einer, der das Klavierspiel ernsthaft betreibt, nicht zumindest in den Anfangsgründen mit Stücken aus seinen klavierpädagogischen Werken "Gyermekeknek" und "Mikrokosmos" konfrontiert worden. Und gewiß wird der unerbittlich stampfende Rhythmus seines "Allegro barbaro" von 1911 lange noch in den Ohren nachhallen, auch wenn der Kopf zwischen den Ohren den Komponisten jener "Schrecksekunde der neueren Musikgeschichte" nicht sofort parat hat: Bela Bartók.

Für einen bäuerlichen Folkloristen zu sehr in der Dodekaphonie beheimatet und für einen Modernisten zu sehr in der osteuropäischen Scholle verwurzelt, den Nationalsozialisten wiederum nicht schollenverhaftet genug, allseits verdächtig also, scheinen sich Komponist und Werk jeder vorschnellen Einordnung zu entziehen. Eines seiner Hauptwerke, die "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta" von 1936, galt nationalsozialistischer Kritik als "gehirnliche Konstruktion ohne schöpferische Gnade". Doch wurde dieses Werk ausgerechnet in Deutschland und Österreich häufiger aufgeführt als irgendwo sonst; János Breuer zufolge ist es bis 1941 in öffentlichen Konzerten und im Rundfunk zwölfmal gespielt worden.

An der "Musik für Saiteninstrumente" scheiden sich auch die Geister, die den Taktstock halten. Geschäftige Ungarntümelei, wie sie etwa die Einspielung unter György Lehel innerhalb der alten Bartók-Gesamtausgabe bei Hungaroton dokumentiert, und analytisches Durchdringen der Partitur, wie es Pierre Boulez exemplarisch vorführt, stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Möglichkeit eines Kompromisses, der kein fauler ist, haben nun Nikolaus Harnoncourt und das Chamber Orchestra of Europa während zweier Konzerte im Stefaniensaal Graz eröffnet (RCA Red Seal 82876 59326 2). Sie lassen alles Folkloristische außen vor und nehmen sich die "Musik für Saiteninstrumente" und das "Divertimento für Streichorchester" von 1939 mit eben jenem anderen Blick vor, den Bartók auf das Komponierwesen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirft. Bartók erneuert die Tradition mitteleuropäischen Komponierens, indem er sie den archetypischen Phänomenen seiner musikalischen Muttersprache, der ungarischen Volksmusik, aussetzt. Wollen die Interpreten seine Partituren adäquat realisieren, müssen sie sich diesen Phänomenen rückhaltlos aussetzen, sie am eigenen Leibe zu erfahren suchen. Das gelingt hier ohne Einschränkung!

Die "Musik für Saiteninstrumente" und das "Divertimento" erklingen, wie sie gemeint sind, als ganz persönliche Reflexionen ausgangs der dreißiger Jahre - voller düsterster Vorahnungen, Fluchtbewegungen, Trivialitäten auch, ungealtert.

Bartóks Denken kreiste immer um die Wurzeln seines Schaffens. Sein Aufsatz "'Rassenreinheit' in der Musik" von 1942 endet: "Eine vollkommene Absperrung gegen fremde Einflüsse bedeutet Niedergang; gut assimilierte fremde Anregungen bieten Bereicherungsmöglichkeiten." Der entwurzelte Emigrant starb am 26. September 1945 in New York an Anämie, noch bevor er heimkehren konnte.


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