© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/04 07. Mai 2004

Hochmut als Strategie
Vor fünfzig Jahren beschleunigte sich mit dem Fall der französischen Festung Dien Bien Phu in Vietnam die Dekolonisation
Klaus Gröbig

Vor fünfzig Jahren, am 7. Mai 1954, fiel die französische Festung Dien Bien Phu im nordvietnamesischen Hochland. Spätestens mit diesem Sieg über eine europäische Kolonialmacht wurde die Entkolonisierung sichtbar eingeleitet, welche Anfang der sechziger Jahre auch die meisten afrikanischen Staaten erfaßte.

Der Kampf der Franzosen um ihr Kolonialreich begann 1946 mit dem ersten Indochinakrieg. 150.000 Vermißte, Tote und Verwundete in der Zeit von 1947 bis 1953 waren der Preis für Frankreichs Aufrechterhaltung des kolonialen Status in Vietnam. Obwohl Paris bereits 1953 zu Zugeständnissen an die vietnamesische Unabhängigkeitsbewegung bereits war, wollte man sich in künftigen Verhandlungen zumindest aus der Position der Stärke heraus bewegen. Ein überzeugender militärischer Sieg sollte diese Lage herstellen.

Im bergigen Nordwesten Tonkings an der Grenze zu Laos befand sich ein Dorf, dessen Name zuvor weitestgehend unbekannt war - Dien Bien Phu. Seine gegnerischen Truppen völlig unterschätzend, versuchte General Henri Navarre - seit dem 21. Mai 1953 Oberbefehlshaber aller französischen Streitkräfte - im schwer zugänglichen Grenzgebiet zu Laos einen stark befestigten Stützpunkt zu errichten. Navarres Hoffnungen richteten sich darauf, daß die angreifenden kommunistischen Vietminh an dieser Festung ihre Kräfte verschleißen sollten. Die Anwendung dieser sich bereits im Ersten Weltkrieg als verlustreich und wirkungslos erwiesenen Methode drückte auch seine Arroganz gegenüber den als militärisch minderwertig eingeschätzten Guerillatruppen der Vietminh aus. Seine Überheblichkeit über die oftmals barfüßigen asiatischen Kämpfer ließ ihn sogar elementare Regeln der Strategie außer Acht lassen und die Befestigung ausgerechnet in einem von umliegenden Höhen gut zu kontrollierenden Talkessel anlegen.

Am 20. November 1953 sprangen die ersten Fallschirmjäger-Bataillone über dem Dorf Dien Bien Phu ab und begannen sofort mit dem Bau von verschiedenen Feldbefestigungen. Innerhalb von nur drei Tagen waren bereits 9.000 Soldaten versammelt. Zur Jahreswende standen 13.000 Mann in der Talfestung. Sogar schwere Waffen waren vorhanden: 18 Panzer, 28 Geschütze und 36 Granatwerfer. Am 8. Dezember 1953 übernahm Oberst Christian Marie Ferdinand de la Croix de Castries den Befehl über die "Festung", den die Besatzung respektlos als Nachttopf bezeichnete, weil von den Berghängen die Stellungen mühelos einzusehen waren und auch beschossen werden konnten.

Monatelang blieb es um Dien Bien Phu verhältnismäßig ruhig. Es schien, als sollten die unter dem KP-Chef Ho Chi Minh kämpfenden Freischärler unter dem Kommando ihres Generals Vo Nguyen Giap die "Festung" ignorieren. Doch der sich auch im späteren Krieg gegen Südvietnam bzw. die USA als trickreicher Stratege erweisende Giap wollte erst zuschlagen, wenn er alle erreichbaren Kräfte versammelt hatte. Das waren 40.000 Kämpfer und vor allem die nötige Artillerie. In monatelangen Märschen transportierten bis zu 200.000 Helfer mit Fahrrädern die Geschütze, Munition und sonstigen Nachschub nach Westen Richtung laotischer Grenze.

Vietnams Dekolonisation endete de facto erst 1975

Am 13. März war es dann soweit. General Giap begann den Feldflugplatz und auch die Reservelandebahn mit massivem Artilleriefeuer zu belegen, um die Festung von der Außenwelt abzuschneiden, was spätestens am 28. März gelang. Bereits am selben Tage fiel der am weitesten vorgeschobene Stützpunkt, der bis zum letzten von Fremdenlegionären verteidigt worden war. Am Folgetag überrannten die Vietnamesen einen weiteren von 500 algerischen Kolonialsoldaten gehaltenen Stützpunkt. Am 11. April stoppte Giap die direkten Angriffe, denn die Vietminh hatten bereits 10.000 Soldaten verloren. Er setzte nun schwerpunktmäßig seine Artillerie ein und hielt zunächst seine Sturmtruppen zurück.

Das Artilleriefeuer der Vietnamesen war für die Franzosen deswegen so verheerend, weil sie versäumt hatten, ihre Stellungen beschußsicher anzulegen. Man hatte nicht geglaubt, daß es möglich sein könnte, Geschütze in großer Zahl durch den Urwald zu transportieren. Daher waren die Verluste der Festungsbesatzung außerordentlich hoch. 2.200 Tote, 4.800 Verwundete und 3.700 Vermißte standen auf den Verlustlisten. Zwischen dem 14. März und dem 6. Mai wurden 4.306 Fallschirmjäger als Verstärkung und Ersatz abgesetzt. Der seither an Fallschirmen abgeworfenen Nachschub in Versorgungsbehältern landete häufig beim Vietminh.

Am 6. Mai befahl General Giap den entscheidungssuchenden Sturmangriff auf Dien Bien Phu. Am 7. Mai ging der Funkkontakt zwischen den französischen Hauptquartier in Hanoi und Dien Bien Phu verloren. Der letzte Funkspruch hatte gelautet: "Wir jagen alles in die Luft. Adieu." Zirka 10.000 Franzosen, vietnamesische Kolonialsoldaten und Fremdenlegionäre - die meisten davon ehemalige deutsche Kriegsgefangene - gerieten in Gefangenschaft. Nur etwa 3.000 von ihnen kehrten nach Europa zurück.

Am 20. Juli 1954 begannen in Genf die Friedensverhandlungen. Anders als ursprünglich von französischer Seite geplant, waren es nun die Vietnamesen, die die starke Position vertreten konnten. Zusätzlich hatten sie noch die Kriegsgefangenen als Faustpfand. Trotzdem konnten die siegreichen Vietminh ihren Anspruch auf ganz Vietnam nicht durchsetzen und mußten mit dem Norden mit den Industriezentren Hanoi und Haiphong und neun Millionen Einwohnern des fortan am 17. Breitengrad geteilten Staates vorlieb nehmen. Das hauptsächlich agrarische Südvietnam, an Einwohnern mit 23 Millionen zweieinhalbmal so groß, geriet bald nach dem Ende des kolonialen Engagements Frankreich in Indochina unter US-amerikanische Dominanz. Die Dekolonisation endete dort erst mit dem Sieg des Nordens in einem langjährigen blutigen Krieg und der Wiedervereinigung Vietnams 1975 unter kommunistischer Herrschaft. Die Amerikaner übernahmen - entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis als antikommunistische Ordnungsmacht - noch vorübergehend die Rolle einer Kolonialmacht.


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