© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/04 14. Mai 2004

Europäische Union
Wie Feiglinge hinter einer Mauer
Frederick Forsyth

In Großbritannien bedurfte es einer Kampagne in Medien und Öffentlichkeit, aber immerhin wurde das Ziel erreicht. Monatelang hatte Premierminister Tony Blair behauptet, der Verfassungsentwurf des EU-Konvents unter Valéry Giscard d'Estaings Vorsitz sei eine unwichtige Bagatelle, die keinerlei Änderung des Status quo mit sich bringe. Dies war so offensichtlich hanebüchener Unsinn, daß selbst die Liberaldemokraten sowie viele Hinterbänkler aus Blairs eigener Labour-Partei protestierten.

Das Kabinett witterte Gefahr im Verzug, erzwang Blairs Wende um 180 Grad und verschaffte dem Volk das geforderte Plebiszit. Dieser Rückzieher gibt der Hoffnung Auftrieb, daß wir - dem furchtbaren Schaden, den Blair ihr zugefügt hat, zum Trotz - immer noch in einer echten Demokratie leben.

Hierzulande gibt es noch so etwas wie Verantwortlichkeit der Regierenden gegenüber den Regierten. Ich fürchte, in Deutschland ergeht es der Demokratie weniger gut. Man lese Giscards Verfassungsentwurf mit Sorgfalt, vor allem Artikel 10 (1). Dort heißt es: "Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten." Keine Nation kann zwei Verfassungen von gleicher Gültigkeit haben. Eine der beiden muß über der anderen stehen. In diesem Fall könnte man die zweite jedoch genausogut abschaffen, denn sie wird zu einer historischen Kuriosität reduziert.

Artikel 10 macht eindeutig klar, daß die EU-Verfassung zu jeder Zeit und in jedem Fall Vorrang vor den Landesverfassungen der Mitgliedstaaten haben muß. Was die deutsche Regierung dem Volk verschweigt, ist, daß a) ihr Grundgesetz damit auf den Abfallhaufen der Geschichte verfrachtet wird, b) ihre Politiker den Verfassungsentwurf ratifizieren werden, obwohl dies bei den letzten Bundestagswahlen nicht in ihren Parteiprogrammen stand, und c) das deutsche Volk unter keinen Umständen nach seiner Meinung gefragt wird.

Das Plebiszit ist ein vergleichsweise neues, aber inzwischen allgemein akzeptiertes Instrument der Volksbefragung. Politiker, die wissen, daß ihre Politik nicht dem Willen des Volkes entspricht, hassen es. Und genau in dieser Position befinden sich die beiden großen deutschen Parteien, solange sie überstürzt in Richtung der Vereinigten Staaten von Europa stürmen. Zu ihrem Glück können sie sich hinter dem Grundgesetz verstecken, das keine Plebiszite vorsieht. Diese Bestimmung wurde jedoch vor fast sechzig Jahren verfügt, um zukünftig zu verhindern, daß ein Demagoge seine Popularität benutzen könnte, um die Demokratie wieder abzuschaffen. Wir wissen alle, daß diese Gefahr - ein neuer Hitler - längst vorbei ist. Es ist bloße Unredlichkeit seitens des Bundestages, sich hinter diesem Dokument zu verstecken wie Feiglinge hinter einer Mauer.

Den deutschen Politikern wäre es ein Leichtes und eine hohe Ehre, das Grundgesetz zu ändern und das deutsche Volk in einem Plebiszit zu Rate zu ziehen. Es mangelt lediglich am Willen. Man möge nicht die Bedeutung dessen unterschätzen, was hier auf dem Spiel steht: in den nächsten zehn Monaten nichts; in den nächsten zehn Jahren aber eine vollständige Verwandlung, möglicherweise Abschaffung der von Deutschen regierten deutschen Nation.

Wenn es das ist, was die Deutschen wollen, prima. Für mein Land will ich es nicht. Aber wenigstens werden meine britischen Landsleute und ich gefragt werden. Genauso die Dänen, die Iren und andere. Warum sollten die Deutschen keine Stimme in der Frage haben, was für ein Deutschland sie ihren Kindern vererben werden?

 

Frederick Forsyth , 65, international bekannter Bestseller-Autor ("Der Schakal", "Die Akte Odessa") lebt nördlich von London. Zuletzt erschien 2003 sein Roman "Der Rächer".


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