© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/04 14. Mai 2004

Vor der Kapitulation
von Harald Seubert

Noch im Alter erinnerte sich Raymond Aron an einen Wortwechsel aus der Frühzeit der Résistance, bei dem die Worte fielen: "Wozu sollten wir den Paris Soir gegen den Völkischen Beobachter verteidigen?" - Ausdruck einer Resignation vor der Dekadenz und Selbstunterminierung Europas, die im Augenblick höchster Bedrohung nur das Achselzucken kennt.

Im gegenwärtigen Weltalter kehrt dasselbe Dilemma verstärkt zurück. Es ist wahr, daß seit dem 11. September 2001 vermehrt von den "Werten" der westlichen Welt die Rede ist. Deren Profil bleibt indes vage. Die Mehrheit scheint sich auf die offene Gesellschaft und einen zunehmend ungezügelten und primär ökonomisch definierten Liberalismus einigen zu können. Die Bindekraft des europäischen Ethos und die Voraussetzungen, auf denen Freiheit gründet, bleiben aber zumeist unthematisiert, was zur Folge hat, daß es zu einer tiefgreifenden Diagnose der Lage nicht kommt, die Selbstbestimmung und -verortung einschließen müßte. Die Illusion, daß mit der globalen Welt und ihren Kommunikations- und Handelswegen auch eine Angleichung von Lebensformen und Handlungsstrukturen anbreche, wird im Terror blutig ad absurdum geführt.

Auf die Lähmung und ein kurzatmiges hysterisches Erwachen folgte aber nach dem 11. September 2001 und wieder nach den Anschlägen von Madrid am 11. März 2004 keine konzise, in geschichtliche Tiefen bohrende Bestimmung der eigenen westlichen Kultur. Dies kann in einer globalen Welt, in der das Zittern an einer Weltecke mit minimalen Mitteln und höchster Effizienz ins Werk gesetzt wird, in der die Selbstmordattentäter in der Maske des gutausgebildeten flexible man in die Zentren von Ökonomie und Militär eindringen, tödlich sein.

Daher besteht eine dringende Notwendigkeit, die Defizite westlicher, insbesondere europäischer Kultur zu korrigieren:

1. Unstrittig bedarf der militante Islamismus, wie jeder fundamentale Terrorangriff, schärfster rechtsstaatlicher Prävention und Sanktion. Doch eben hier zeigt sich in der öffentlichen Debatte allzu oft, daß Gewichtungen verkehrt sind und der Begriff des Staates nicht mehr klar ist. Die vielfältigen Forderungen eines "Weniger an Staat", die zumeist gedankenlos Zustimmung finden, verkennen, was der Staat zu sein hat: nämlich nicht Partei im politischen Wechselspiel, sondern Schiedsrichter (arbiter) über die Parteien. Erst mit einem starken Souveränitätsbegriff, der dem Rechnung trug, konnte in der frühen Neuzeit der konfessionelle Bürgerkrieg in Europa stillgestellt werden. Wer diese Instanz nicht mehr anerkennt, oder sie scham- und würdelos sie eigenem Vorteil oder lobbyistischer Einfluß-sphäre unterstellt, muß sich nicht wundern, wenn die Gesellschaft Bedrohungen ausgeliefert ist und aus sich selbst ins Chaos schwankt.

2. Der westlichen Welt, insbesondere Deutschland, fehlt es an einer tiefliegenden kulturellen Selbstachtung. Dies zeigt sich mitunter irritierend kraß in versuchten Zwiesprachen mit Exponenten anderer Kulturen: Daß Europa für andere Kulturkreise interpretierbar geworden ist, scheint zu dem Fehlschluß zu führen, es dürfe sich nicht mehr selbst und schon gar nicht den anderen deuten. Mangelnde Kulturachtung führt zu einer Paralyse jeder tiefergehenden Auseinandersetzung mit wirkmächtigen Überzeugungen und Grundhaltungen. Die Symptome sind evident: Die Amusements der Spaßgesellschaft und manche politische Selbstinszenierungen sind geschichts-vergessen und vor dem Ernstfall hilflos.

Es ist immerhin erstaunlich, daß der Begründer des Gedankens einer universalen Diskursgemeinschaft, Jürgen Habermas, mittlerweile der Religion auch heute noch eine politische Schlüsselrolle zugesteht.

Europäische Kulturachtung ist freilich keineswegs nur ein intellektuelles und akademisches Desiderat auf den Höhenkämmen der Elite. Sie muß im Leben jedes Staats- und Zeitbürgers erfahrbar sein: am Antlitz der Städte und Kulturlandschaften, an den Überlieferungen, die ihm zuerst mitgeteilt werden. Märchen, Lieder, Erzählungen und die Stadtarchitektur sind die ersten Lehrer der Bürgerschaft, so wußte Platon.

Auch hier sind die Aussichten trübe. Durch einen rücksichtslosen Fort-schrittsglauben wurden, im Westen nur graduell anders als im Osten, die Städte kaum weniger um ihre Schönheit und Tiefe gebracht als in den Bombardements des Zweiten Weltkriegs. Und im Thesaurus eigener und anderer Dichtung lernen unsere Kinder kaum mehr zu schwimmen. Statt dessen baden sie in der global gleichen Unkultur, in deren Manichäismus weder die gegenwärtige Welt noch die eigene Seele zu verstehen sind

3. Die religiöse Tabula rasa des Westens erweist sich als fatal offene Flanke der offenen Gesellschaft. Theologen mutierten sich in den letzten Jahren zu Kulturwissenschaftlern und Soziologen der Frömmigkeitsgeschichte, was nicht daran hindert, daß sie aus der Universität katapultiert werden, die bald mehrheitlich ohne ihre erste Fakultät denkbar werden. Allmählich beginnt man indessen auch zu begreifen, daß sich ein Phänomen wie die Religion nicht äußerlicher Beschreibung erschließt. Friedrich Wilhelm Graf notiert jüngst: "Kann den Gläubigen verstehen, wer seinen Gott nicht kennt? ... Können Mentalitätshistoriker dem historischen Anderen ins Herz blicken?" Und Max Weber sprach schon 1919 von der Wiederkehr der Götter, denen der Einzelne ebenso wie die Völker ausgesetzt bleiben. Es ist immerhin erstaunlich, daß der Begründer des Gedankens einer universalen Diskursgemeinschaft, Jürgen Habermas, mittlerweile eingestehen muß, daß sich nicht nur religiöse Sprache und Kultur gegenüber der säkularen auszuweisen und zu artikulieren haben, sondern auch umgekehrt.

4. Es fehlt der gegenwärtigen westlichen Welt, so viel in ihr auch von Diskurs und Konsens gesprochen wird, die Kraft zum wahrhaften Gespräch. Hans Küngs Ausgangsfeststellung, daß es ohne einen Religionsfrieden keinen Weltfrieden geben könne, ist durchaus zutreffend. Ein "Projekt Weltethos" ist aber nichts als ein ausgedünnter Minimalkonsens, auf den sich die seit je Überzeugten Mittelklasseliberalen unterschiedlicher Herkünfte unschwer verständigen können. Es berührt weder die gefährliche Magma des Islamismus noch den Kern religiöser Überzeugung.

Die große Tradition des Religionsgesprächs bei Abaelard, Nicolaus Cusanus, Leibniz bis hin zur Ringparabel, die eine in den Islam zurückreichende Tradition hat und bei Lessing nur ihren späten Ausdruck fand, war anders. Das Religionsgespräch zog scharfe Grenzen, es war Mittel der Wahrheitssuche und führte immer tiefer in die eigenen Überlieferungen.

Auch Kulturgespräche sollten von dieser Art sein. Heinrich Rombach, der jüngst verstorbene große Phäno-menologe, hat davon noch einen Begriff gegeben. Kaum bemerkt, skizzierte er ein Gespräch, über dem nicht nur die forensische Regel, auch die andere Seite zu hören, sondern auch das "Erkenne dich selbst" steht. "So entstehen im Handlungsgespräch gemeinsame Haltungen, gemeinsame Einstellungen. Auch dort, wo sich die Menschen durch ein Gespräch eher trennen, geschieht dies im Sinne der Gewinnung höherer Klarheit und damit eben doch auch einer größeren Gemeinsamkeit."

5. Die gegenwärtige globale Welt ist ein ökonomisches und strategisches Faktum. Dies dispensiert aber nicht von ethischen und politischen Tugenden. Die Globalität mag einen Menschentypus befördern, den sprach- und diagnosemächtig Friedrich Nietzsche vor mehr als hundert Jahren als den blinzelnden "letzten" Menschen voraussah, ein schwacher, formloser Hedonist, der sich an sich selbst langweilt und weder bewußt leben noch sterben kann.

Die globale Welt bedeutet aber nicht das Ende der Geschichte. Der Westen muß einen klaren und scharf gefaßten Begriff von sich gewinnen, der in der Gemengelage des gegenwärtigen Ernstfalls orientierend sein kann. Hierher gehört es, den Weltort Europas nüchtern und konzise, im Blick auf seine Geschichte zu bestimmen: so muß es in das Selbstverständnis eingehen, daß die judäo-christliche, die römische und die griechische Wurzel Europa formten, daß der Hiat zwischen Ost- und Westrom, orthodoxer und westlicher Kirche mit dem Schisma eine tiefe Zäsur bezeichnet, die aber nicht verdecken kann, daß die lateinische und die griechische Kirche beide Teil der Gründungsurkunde Europas sind.

Amerika war einst Kolonie Europas, jenes Kaps an der Spitze Asiens (wie es so unterschiedliche Denker wie Friedrich Nietzsche, Paul Valéry und Edmund Husserl nannten). Es nahm eigene, respektable Wege, bis heute den Extremen des einsamen Leuchtturms und god's own country einerseits und des Weltpolizisten andererseits zugeneigt. Politisch unverzichtbar wird es für die Europäer als balancer from beyond bleiben, denn weder lebten und leben Europäer auf verschiedenen Sternen, die sich gar Kriegs- und Friedensgottheiten zuordnen ließen, noch sind sie ununterscheidbar eins, und schon gar nicht darf Europa sich selbst als amerikanische Kolonie verstehen. Die gegenwärtige Kriegs- und Todeserklärung an "den Westen" könnte ihn zu einer Neudefinition seiner geistigen und geschichtlichen Gestalt, in ihrer Vielstimmigkeit und ihrem Einheitssinn prädestinieren.

Der Islam, dem sich die westliche Welt heute in einer bedrohlichen, tödlichen Form gegenübergestellt sieht, ist ein in sich faszinierendes, vielschichtiges und komplexes Gebilde. Es ist Gebot für den denkenden Zeitgenossen, seine Physiognomien zu studieren: seine Geschichte, die Tiefe seiner Mystik und die Schönheit der Sprache seiner weltlichen und geistlichen Dichtung, die von Rückert bis Annemarie Schimmel und Hartmut Bobzin kongeniale deutsche Vermittler fand. Dazu kommt die Tradierung der Aristotelischen (und in geringerem Grade auch Platonischen Quellentexte) im lichten islamischen Mittelalter, die aus arabischen Quellen über Spanien wieder ins Herz Europas gelangten.

Nur wenn jene "Werte", auf die der Westen sich beruft, mehr sind als das Interesse an Wohlstand und grenzenloser individueller Freiheit, wird die westliche Welt sich gegen todesmutige Fanatiker behaupten können.

Der Islam ist nicht nur bedrohliches Niemandsland, sondern vielfach und spannungsreich mit der jüdisch christlichen Religion verflochten. Gleichwohl brachte er auch den gewalttätigen Märtyrerbegriff, das massenhafte Selbst- und Fremdopfer hervor, dem die Rückkehr in das Paradies winkt. Jene Düsternisse und jenes geistig ungeistige Dynamit als "Mißverständnis" zu erklären oder, weil sie dialogpolitisch nicht erfreulich sind, sie zu ignorieren, widerspricht der Wahrhaftigkeit und der Not der Zeit. Junge Menschen sind zumal vom politischen Islam ins Innerste bewegt und getrieben, wo der Westen verfetteter und in die Krise geratener Sozialstaaten von nichts mehr beschwert scheint als vom Erhalt eines allzu überdehnten Sozialsystems. Wie aber soll eine Welt dem Islam gewachsen sein, die sich ihrer eigenen arkanen Ressourcen nicht mehr versichert hält, ja sie zum Teil mutwillig sich selbst verschlossen hat? Es gehört zu den gespenstischsten Aspekten der Terrorbedrohung, daß der Westen in den al-Qaida-Papieren mit Kreuzfahrern gleichgesetzt und zusammen mit "den Juden" als totaler Feind definiert wird, wo er selbst von diesem Bild um ganze Lichtjahre entfernt ist.

Es ist heute schwierig zu prognostizieren, ob der Westen der Herausforderung standhält, die ihm nicht weniger abverlangt, als sich selbst wiederzufinden. Golo Mann meinte schon vor fast drei Jahrzehnten, wir lebten in einem Weltalter der Kapitulation. Man mag dies heute vielfach bestätigt finden. Daß sich, neben dem Sozialismus und dem Liberalismus, nur Zerrformen des Nationalen, nicht aber ein seiner selbst bewußter Konservatismus, von wenigen herausragenden Ausnahmen seit Edmund Burke abgesehen, artikulierten, ist eine nicht zu unterschätzende langfristige Mitursache der gegenwärtigen Misere.

Ein solcher Konservatismus muß heute auf die Voraussetzungen der vieldeklarierten Freiheit verweisen. Auf erschreckend wenig Selbstverständlichkeiten gewachsener Sittlichkeit ist dabei mittlerweile noch zurückzugreifen. Wenn jene "Werte", aus denen der Westen heute leben muß, wenn er überleben will, und die er zu verteidigen hat, mehr sein sollen als die Interessen partiellen Wohllebens und schrankenloser Freiheit von aller Bindung, so müssen Selbst- und Fremdverständigung, Selbstbehauptung und -befragung auf vielen Ebenen wiedererweckt werden.

Dies verlangt ein "waches", lange verschüttetes Bewußtsein und Gewissen, indem jedem Welt- und Zeitbürger abzufordern ist, den fragilen Status quo auf seine Voraussetzungen und seine Herkunft zu befragen und in die Geschichte einzutreten, die man wissend oder nicht wiederholt, auf die jeder Entwurf unserer selbst verweist.

Dieses geschichtliche Selbstverständnis wird das entscheidende Kriterium dafür sein, ob sich die heutige westliche Kultur gegenüber ihren Bedrohungen bewähren kann. Es geht nicht mehr nur, wie Karl Popper einst meinte, um "die offene Gesellschaft und ihre Feinde", es geht darum, daß sie, wenn sie sich selbst nicht mehr kennt, sich zum ersten Feind wird. Mit keiner Verve der Welt wird eine abgelebte Gestalt der Überlieferung wiederbelebt werden können. Zuerst haben wir zu lernen, daß der Geist des Christentums und des europäischen Ethos keine Leichname sind. Geschichte ist die vergessene Tiefendimension der Gegenwart. Traditionen verdienen Achtung, vermerkte Hegel, weil sie "nicht ein unbewegtes Steinbild (sind), sondern lebendig". Sie "schwellen als ein mächtiger Strom, der sich vergrößert, je weiter er von seinen Ursprüngen aus vorgedrungen ist".

Nur wenn dies erkannt ist, wird sich die Geschichte der europäischen Humanität fortschreiben. Ansonsten wird der blinzelnde blasse stupid white man an seinen Feinden, aber zuerst an sich selbst zugrunde gehen.

 

Prof. Dr. Harald Seubert lehrt Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Religionsphilosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. Sein Beitrag erscheint als zweite Folge der JF-Serie "Herausforderung Islam", die in der vorigen Woche von Friedrich Romig eröffnet wurde.

Foto: Beim Beschneidungsfest in der Stadt Dardar in Tadschikistan versammeln sich nur die Männer zum gemeinsamen Festmahl: Ein Gemeinschaftsgefühl entsteht nicht durch endlose Debatten, sondern durch gemeinsames Tun, das auch rituellen Charakter hat.


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