© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/04 21. Mai 2004

Solschenizyn wollte ihm danken
Nachruf: Carl Gustaf Ströhm bewegte sich zeitlebens auf vermintem Gelände
Günter Zehm

Wahrscheinlich war Carl Gustaf Ströhm derjenige Journalist, über den sich die meisten Regierungschefs dieser Welt aufgeregt, geärgert und beschwert haben. Dabei war er weder frech noch zudringlich noch unzuverlässig, im Gegenteil, er war in jeder Hinsicht die Seriosität in Person, von altbürgerlichem Zuschnitt und gediegener Bildung, höflich, mutig, zuverlässig. Er ist zwar oft ausgewiesen oder gar nicht erst hereingelassen worden, aber man hat ihm nie eine Fehlinformation nachweisen können, nicht einmal einen Flüchtigkeitsfehler, keine Übertreibung.

Die genaue Schilderung dessen, was wirklich ist, war sein unaufweichbares Berufsideal. Diesem Ideal zuliebe hat sich Ströhm sogar bewußt unter den Möglichkeiten verkauft, die ihm zur Verfügung standen. Wenn er eine Pointe sah (und er sah dauernd Pointen), dann schrieb er sie nicht unbedingt hin, sondern er fragte sich erst einmal mit Pingeligkeit: "Wenn ich diese Pointe jetzt zünde, wird der Tatbestand, um den es geht, dadurch irgendwie verdunkelt, verkürzt, beiseite gestellt?" Und oft fand er, daß das tatsächlich der Fall hätte sein können, und so verkniff er sich seine schöne Pointe lieber und blieb bei der "heiligen Nüchternheit".

Freilich operierte er sein ganzes Berufsleben lang auf hochgefährlichem, über und über vermintem Gelände. Er war immer Auslandskorrespondent und als solcher Frontberichterstatter: das kommunistische, von der Sowjetunion unterworfene Ost- und Ostmitteleuropa und die Sowjetunion selbst waren seine Felder, von ihnen berichtete er, zuerst freischaffend für die Wochenzeitung Christ und Welt, dann für die Deutsche Welle und für Springers Tageszeitung Die Welt (1972-1999), zuletzt - der Osten hatte sich endlich befreit und war "nach Europa zurückgekehrt" - bis zu seinem Tode Woche für Woche für die JUNGE FREIHEIT.

Es hat wohl keinen anderen deutschen Ostkorrespondenten gegeben, der besser für seine Rolle geeignet gewesen wäre als Carl Gustaf Ströhm. Ströhm liebte die Völker Ostmitteleuropas, aber er kannte sie auch bis in die Abgründe ihrer verschwiegensten Geheimnisse und riskantesten Legenden, man konnte ihm nichts vormachen, geschweige denn etwas vorschreiben. Er gehörte dazu und gehörte doch auch wieder nicht dazu. Distanz und Nähe hielten sich bei ihm genau die Waage, wie es sich für einen großen Korrespondenten gehört.

Geborener Deutschbalte vom Jahrgang 1930, entstammte Ströhm einer berühmten Buchhändlerfamilie in der estnischen Hauptstadt Reval (Tallinn). Auch sein Vater war Journalist, der für deutsche Zeitungen schrieb. Seine Mutter war die Tochter eines Flottenadmirals im zaristischen Rußland. Tief geprägt wurde er, außer von den Eltern, von seiner estnischen Kinderfrau, deren Erzählungen und Lieder ihn durchs Leben begleiten sollten. Ströhm wuchs dreisprachig auf, lernte neben Deutsch und Russisch von Kind auf auch Estnisch.

Hinzu kamen später, im Lauf seiner Karriere, die vielen anderen europäischen Sprachen, die er bis in die Feinheiten hinein zu beherrschen lernte. Nach der Vertreibung traf sich die Familie, unter furchtbaren Verlusten, in Tübingen wieder, wo der junge Ströhm studierte und promovierte. Schon als Student fand er zu seiner Bestimmung als Rundfunk- und Zeitungskorrespondent für die östlichen Gefilde. Sobald es ging, bereiste er, unter meist abenteuerlichen Umständen, Polen, Ungarn, Kroatien, den Balkan, auch China. Seine Berichte machten Sensation, die Kommentare, zu denen er alsbald gebeten wurde, nicht minder. Er polarisierte, ohne es zu wollen, einfach indem er die Wahrheit sagte und mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hielt.

Für ihn und seine Berichte waren die vielen, vielen, die unterdrückt und zum Schweigen verurteilt waren und die Carl Gustaf Ströhm, als sich seine Stimme über die "Deutsche Welle" erst einmal im Osten etabliert hatte, fortan faktisch als einen der Ihren empfanden, als ihr internationales Sprachrohr, als ihren Sachwalter und Helfer in vielen Lebenslagen. "Der Ströhm" wurde zum festen Begriff in den Haus- und Dissidenten-Gesprächen zwischen Moskau und Chabarowsk, Reval und Agram. Alexander Solschenizyn, nachdem er von den Sowjets in den Westen abgeschoben worden war, wollte zu allererst und vor allen anderen mit "dem Ströhm" sprechen - um ihm zu danken und mit ihm endlich einmal direkt und persönlich wichtige Probleme zu besprechen. Und Solschenizyn war nicht der einzige.

Gegen Ströhm waren von Anfang an sämtliche Funktionäre der Diktatur, vom einfachen Grenzpostenführer bis zum Partei-Generalsekretär, vom kleinen Stasi-Spitzel bis zum großen KGB-Desinformations-Strategen. Diese Kräfte wußten sich von Ströhm voll durchschaut, bei allen ihren Schandtaten ertappt und frontal herausgefordert. Sie unternahmen im Laufe der Jahre buchstäblich alles, um seine Stimme zum Schweigen zu bringen: Einreiseverbote am laufenden Band, Bestechungsversuche mit wechselnden Lockobjekten, Mordanschläge, "besondere Maßnahmen, um das persönliche Umfeld zu zersetzen", ihn bei Kollegen in schlechtes Licht zu bringen, ihn bei seinen Arbeitgebern anzuschwärzen.

Auch Staatsmänner und Parteiführer in der Bundesrepublik waren oft gegen Ströhm, er war ihnen mit seinen ungeschminkten Schilderungen des Ostblocks lästig, störte sie bei ihren Mauscheleien mit dessen Machthabern. Und so fingen auch sie an, Druck auf Ströhms Arbeitgeber beim Rundfunk und in der Welt auszuüben, in trauter Gemeinschaft mit den Kommunisten. Leider blieb das nicht ohne Erfolg, führte für Ströhm zu zusätzlichen schweren Belastungen, die er allerdings gewohnt glanzvoll bestand.

Nach der Wende war er "unbequem" wie eh und je. Von Zagreb, später von Wien aus beäugte er nach wie vor die ostmitteleuropäischen Zustände und lieferte, nun für die JUNGE FREIHEIT, genaue Situationsberichte und ätzende Analysen. Die Kriege um das zerfallende Jugoslawien sahen ihn an vorderster Front, den beginnenden Neuaufbau begleitete er mit skeptischer Sympathie, aber auch mit Sorge. Unermüdlich warnte er, aus den Tiefen seiner Völker- und Länderkenntnis heraus, vor verhängnisvollen Fehleinschätzungen die Lage in den neuen und künftigen "Beitrittsländern" betreffend. Den befreiten Völkern riet er, sich keine Illusionen zu machen, dem Westen, jede Überheblichkeit zu unterlassen, keine Gleichmacherei und keine seelenlose Bürokratie zu betreiben.

Aus vollster Tätigkeit heraus hat ihn der Tod gefällt. Trauer, Betroffenheit und Ratlosigkeit sind groß. Carl Gustaf Ströhm hinterläßt eine furchtbare Lücke. Gerade jetzt, da sich "Europa" nach Osten erweitert hat, da sich Probleme über Probleme auftürmen, sich gänzlich neue, schwierigste Identitätsfragen stellen, wäre die publizistische Wegbegleitung durch Ströhm so hilfreich gewesen. Nun müssen wir ohne ihn auskommen.

Ströhm war ein großer Vermittler zwischen den europäischen Völkern, in seiner Art ein zweiter Herder und wie dieser ein großer Patriot. Er wußte: Nur wer sein eigenes Volk liebt und unermüdlich und aufrichtigen Herzens nach dessen Verbesserung strebt, kann andere Völker verstehen und respektieren. Dies ist nun das Erbe, das es zu erinnern gilt, wenn man sich an Carl Gustaf Ströhm erinnert.

 

Prof. Dr. Günter Zehm ("Pankraz") war von 1963 bis 1989 Feuilletonredakteur und zeitweise stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung "Die Welt". Seit 1995 schreibt er für die JF.

 

Fotos: Carl Gustaf Ströhm (1930-2004): Mit seinen ungeschminkten Schilderungen aus dem Ostblock war er bis zum Schluß vielen west-lichen Meinungsführern und Politikern lästig

Carl Gustaf Ströhm zusammen mit dem früheren österreichischen SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky (l.); Ströhm mit Orden: Forschen Journalisten entgegnete Kreisky "Lernen's Geschichte!" - Ströhm analysierte und schrieb immer mit Blick auf die historischen Hintergründe. So kam er häufig zu provokanten, aber letztlich zutreffenden Prognosen. Weder der Zerfall der Sowjetunion noch der Jugoslawiens überraschte ihn - er hatte es vorausgesagt. Für seine Arbeit wurde er mit hohen estnischen, kroatischen und österreichischen Orden und Ehren ausgezeichnet.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen