© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/04 28. Mai 2004

Der Blick in den Abgrund
Die USA haben sich im Irak alle Rückzugswege abgeschnitten
Alexander Griesbach

Ausweglos". So knapp und vernichtend beschrieb Larry Diamond, ein ehemaliger Berater der US-Truppen im Irak, die dortige Lage. Diamond weiß, wovon er redet: Tag für Tag kommen neue Katastrophenmeldungen aus dem Irak. Bald wird die Zahl von 1.000 gefallenen Koalitionssoldaten erreicht sein.

Zu diesen vielen Toten kommt jetzt allerdings, der Vietnam-Krieg läßt grüßen, ein ständig steigender Zweifel an der Rechtmäßigkeit des amerikanischen Vorgehens im Irak. Dieser Zweifel hat durch die Folterungen und womöglich auch Ermordungen von irakischen Kriegsgefangenen breite Bevölkerungsschichten in den USA erreicht.

Der Gründer der israelischen Friedensbewegung Gush Shalom, Uri Avnery, verweist darauf, daß jeder, der mit dem militärischen Leben vertraut sei, wisse, daß diese Folterungen nicht nur die private "Sache von einer paar männlichen und weiblichen Sadisten" gewesen sein können. Derartige Taten könnten nicht auf längere Zeit mit Hunderten aufgenommener Bilder weiter ausgeführt werden, ohne daß "die ganze Befehlskette" daran beteiligt gewesen sei.

Die Nachrichten, die in den letzten Tagen eine Mitwisserschaft höchster US-Militärs behaupteten, scheinen Avnery recht zu geben. Letztlich dokumentieren diese Nachrichten einmal mehr die Konsequenzen des diskrimierenden Kriegsbegriffs, den die USA gegenüber jedem ihrer Kriegsgegner angewandt haben. Auf die Entmenschlichung des Feindes folgt dessen unmenschliche Behandlung. Kein Wunder, daß Scharfmacher wie der schiitische Prediger Muktada el Sadr im Irak an Boden gewinnen.

US-Präsident George W. Bush hat auf den gravierenden Ansehensverlust der USA auf seine Weise reagiert: Diejenigen, die die Folterbilder sähen, verstünden weder die wahre Natur noch das Herz Amerikas. Dem widersprach Martin Jacques, Gaststipendiat an der London School of Economics, in einem couragierten Beitrag für die britische Zeitung The Guardian. Aus seiner Sicht seien die Folterbilder sehr wohl ein "integraler Ausdruck" der wahren Natur Amerikas. Zu dieser gehöre die Vernichtung der indianischen Ureinwohner genauso wie die erst in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts aufgehobene Rassentrennung, aber auch der Tod Hunderttausender von Vietnamesen. Das Verhalten der Amerikaner, die im Irak folterten, sei also nur folgerichtig.

Kein Zweifel: Von der Nahostpolitik der "einzigen Weltmacht" ist dank einer Mischung aus verblendetem Sendungsbewußtsein, Überheblichkeit, Menschenverachtung und mangelndem Gespür für die historischen und kulturellen Wurzeln des Irak ein Trümmerhaufen übriggeblieben. Ausgezogen, um die Welt für die Demokratie sicherer zu machen, ernteten die USA Wut, Haß und einen immer weiter um sich greifenden islamischen Fundamentalismus. Fänden heute in Pakistan, Saudi-Arabien, Algerien und anderswo freie Wahlen statt, dann wären nicht Demokraten die Sieger, sondern Fundamentalisten.

Dies führt zu der Frage, ob sich die "humanitären Kriege", mit denen die USA und ihre westlichen Vasallen die Welt beglücken, inzwischen nicht selbst ad absurdum geführt haben. Dazu muß der Fokus nicht unbedingt auf Afghanistan oder den Irak gerichtet werden. Es reicht, in den Kosovo zu schauen. Nach der Beseitigung des angeblichen "Balkan-Hitlers" Slobodan Milosevic sollte nach dem Willen der Amerikaner auf dem Balkan der ewige Friede ausbrechen. Heute bestimmen anhaltender Rassenhaß, Arbeitslosigkeit, organisierte Kriminalität und Nationalismus das Bild.

Auch diese Entwicklung war abzusehen. Durch die einseitige Unterstützung der obskuren kosovarischen Befreiungsarmee UÇK leisteten die USA und ihre Verbündeten den nationalistischen Träumen vieler albanischer Kosovaren von einem Groß-Albanien auch noch Vorschub. Wann sich dieses explosive Gemisch im Kosovo jemals soweit abgekühlt haben wird, daß die KFOR wieder abziehen kann, steht in den Sternen. So oder so ähnlich steht es in jedem "Schurkenstaat", der auf Betreiben der USA "befreit" worden ist.

Im Irak dürfte der Flurschaden allerdings viel gravierender ausfallen. Ziehen die Amerikaner ab, droht ein neuer Gottesstaat. Die Kurden im Norden des Irak könnten das Machtvakuum zur Ausrufung eines eigenen Staates nutzen. In einem derartigen Fall würde die Türkei kaum ruhig zusehen. Damit drohte eine völlige Destabilisierung der Region.

Die Alternative wäre ein "robustes" UN-Mandat für den Irak. Deutschland wäre dann womöglich wieder im Spiel, weil es sich einem derartigen Einsatz nicht mehr entziehen könnte. An der Gemengelage im Irak selbst dürfte dieser Einsatz aber kaum etwas ändern. An die Stelle der verhaßten Amerikaner träten dann UN-Soldaten aus aller Welt, was für fanatische Islamisten kaum einen Unterschied machen dürfte. Der heimtückisch geführte Krieg gegen die Besatzer wird in einem derartigen Fall weitergehen - allerdings mit der Gefahr, daß dann auch deutsche Soldaten ihr Leben lassen müssen. Es ist wohl dieser Hintergrund, der Joseph Hoar, General a. D. der US-Armee und ehemaliger Oberkommandierender aller US-Truppen im Mittleren Osten, zu dem Schluß kommen ließ, daß die USA und ihre Getreuen "in einen Abgrund" blickten.

Dessenungeachtet verkündete George W. Bush in der Nacht zum Dienstag einen neuen Fünf-Punkte-Plan zum Aufbau eines freien und demokratischen Irak. Dieser Plan enthält nichts Neues. Einen Zeitplan für einen Abzug der US-Truppen sprach Bush nicht an. Demokratie und Freiheit im Irak sollen in fünf Schritten erzielt werden: die Übergabe der Souveränität an eine irakische Übergangsregierung am 30. Juni, Hilfe beim Aufbau von Sicherheit und Stabilität im Irak, der Wiederaufbau der irakischen Infrastruktur, größere internationale Unterstützung und freie, landesweite Wahlen in einem überschaubaren Zeitraum.

Für die USA steht im Irak viel auf dem Spiel: Einen Rückzug wird der islamische Fundamentalismus nicht zu Unrecht als Sieg über den Westen deuten. Er wird in der Folge das "Modell Irak" auch auf andere Krisenregionen zu übertragen suchen. Eine derartige Entwicklung könnte das Ende der Hegemoniestellung des "Neuen Roms" bedeuten. Die Falken Richard Perle und David Frum haben für diese Gefahr ein feines Gespür entwickelt. In ihrem kürzlich erschienenen Buch "An End to evil" monieren sie, daß viele der politischen und medialen Wortführer in den USA bereits dabei seien, "die Nerven zu verlieren". Denn statt des Sieges hätten sie nur die nächsten Präsidentschaftswahlen im Blick.

Foto: Waffe und Helm eines getöteten US-Marines neben der Bataillonsfahne: Nahostpolitik in Trümmern


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