© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/04 28. Mai 2004

Das Tabu als Machtfrage
Dokumentation: Karlheinz Weißmann eröffnete das vom Institut für Staatspolitk und der JUNGEN FREIHEIT veranstaltete 7. Berliner Kolleg
Karlheinz Weißmann

Nachdem sich die Edition Antaios entschlossen hatte, das Buch "Jüdischer Bolschewismus" von Johannes Rogalla von Bieberstein herauszubringen, das Lektorat und der Satz abgeschlossen waren, wurde das Manuskript zum Korrekturlesen an eine Dame weitergegeben, die diese Arbeit häufiger für den Verlag erledigt. Kurz nach Erhalt des Textes rief sie mich an und fragte verstört, ob das Buch wirklich gedruckt werden müsse.

Auf meine Gegenfrage, was dagegen spreche, antwortete sie zögernd: "Es macht so einen seltsamen Eindruck." - "Seltsam inwiefern?" - "Wegen der Sache mit den Juden." - "Glauben Sie, daß die Fakten nicht stimmen?" - "Nein, nein ..." - "Meinen Sie, daß wir etwas Verbotenes tun ..." - " ... auch das nicht ..." - "Was dann?" - "Nun, ich glaube, man sagt so etwas nicht ..?" - "Man?" - "Als Deutscher sagt man so etwas nicht ...".

Die Unruhe meiner Gesprächspartnerin ist erklärbar: erklärbar, weil ein Tabu berührt wurde. "Tabu" im ursprünglichen Sinn bedeutet "Berührungsverbot". Der Begriff kommt aus dem Polynesischen und bezeichnet dort eine Menge von Regeln im Rahmen eines magischen Weltverständnisses. Tabu war es, vor dem König von Tonga zu essen, tabu war es, über den Kopf eines Häuptlings hinwegzuschreiten, die Maori auf Neuseeland erklärten das Tätowieren durch Nichtadlige für tabu, bei Indiostämmen im Amazonasbecken war das Berühren der Schulter tabu, im Alten Testament wird berichtet, daß der Berg, auf dem Mose die Gesetze erhielt, tabu war - "denn wer den Berg anrührt, soll des Todes sterben" (Ex. 2. 19) -, tabu waren auch die geheimen Namen Roms und seines Schutzgottes, wer sie verriet, wurde getötet. Ein sehr wirksames Tabu, denn beide Namen sind bis heute verschollen.

Die Vorstellung von Tabus setzt voraus, daß allem möglichen, vor allem aber Menschen, ein bestimmtes magisches Potential, "Mana", eine Kraft innewohnt, die durch Tabubruch zerstört wird. Die Sklaven bei den erwähnten Maori besaßen kein Mana mehr und konnten deshalb problemlos zum Tätowieren herangezogen werden; wer im Grunde nicht existiert - weil er kein Mana hat -, kann auch das Tabu nicht verletzen.

Als der Begriff "Tabu" Mitte des 19. Jahrhunderts von der Völkerkunde entdeckt wurde, hielt man ihn für ein typisches Merkmal primitiver Zivilisationen. Der aufgeklärte Europäer wußte sich von derartigen Vorstellungen weit entfernt. Diese Sicherheit wurde in Frage gestellt, als Sozialwissenschaften und Psychologie das Phänomen genauer untersuchten.

In seiner berühmten Schrift "Totem und Tabu" hat Sigmund Freud die Rolle des Tabus für das Seelenleben analysiert. Wichtig war dabei die Erkenntnis, daß das Tabu nicht einfach als Verbot zu definieren sei - etwa in dem Sinn: "Der Häuptling ist der Anführer, du sollst nicht über seinen Kopf hinwegschreiten!" -, sondern einen Spannungszustand stabilisiert. Wir fühlen uns von etwas angezogen und müssen gleichzeitig vor der Annäherung zurückschrecken. Die Wirksamkeit des Tabus hängt davon ab, daß es nicht dauernd ausdrücklich hervorgehoben werden muß, der tabuierte Bereich ist von einer Atmosphäre umgeben, die abweist, bevor ein Tabubruch auch nur versucht wird.

Diese Macht des Tabus erklärt, warum es nicht nur in primitiven, sondern auch in differenzierten Sozialformen eine Rolle spielt. Im Grunde waren und sind alle wichtigen Institutionen tabubewehrt. Das erklärt den Fortbestand von Tabus - trotz des unbezweifelbaren Rückgangs ihrer Bedeutung - im Hinblick auf vier zentrale Zusammenhänge:

1. die Sexualität,

2. das Verhalten gegenüber den Ahnen,

3. das Verhalten gegenüber der Obrigkeit,

4. die Religion.

Angesichts der destruktiven Möglichkeiten, die die menschliche Sexualität enthält, und angesichts der Intimität, in der sie sich gewöhnlich abspielt, ist deren Verknüpfung mit bestimmten Tabus unmittelbar plausibel. Es gehört zu den Allgemeinplätzen der Völkerkunde, daß Schamlosigkeit auch bei "nackten Wilden" unbekannt ist; die Arten des sexuell Tabuierten unterscheiden sich, sind aber immer vorhanden.

Wenn Hinweise auf die Bestattung von Toten zu den sichersten Indizien für das Menschsein gehören und alle Kultur im Ahnenkult wurzelt, dann ist immer zu bedenken, daß die Bestattung nicht nur ein Akt der Pietät war, sondern auch eine Sicherung der Lebenden vor den Toten. Bis heute ist die Neigung verbreitet, über die Toten nichts Übles zu sagen, als fürchte man ihren Zorn, löst es immerhin eine gewisse Irritation aus, wenn Leichname präpariert und öffentlich zur Schau gestellt werden.

Weiter die Obrigkeit, die wohl ihres Gottesgnadentums entkleidet wurde, aber bis heute durch eine Gesetzgebung privilegiert geschützt ist. Vom Straftatbestand der Beamtenbeleidigung bis zu Sondergesetzen, die Würdenträger nicht nur vor tatsächlichen, sondern auch vor symbolischen Attacken schützen, gibt es eine Menge von Regeln, die man einem Tabu zuordnen kann.

Im Hinblick auf die beiden zuletzt genannten Zusammenhänge wird deutlich, daß diese Tabuierungen nicht nur Regelmechanismen sind, sondern in den Kontext des religiösen Bereichs gehören. Tatsächlich kann das Wort tabu auch im Sinn von "heilig" verstanden werden. Heilige Bezirke sind regelmäßig tabuierte Bezirke. So zentral dieser Sachverhalt ist, so deutlich läßt sich an ihm die Zurückdrängung traditioneller Tabus ablesen. Wenn es in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg keine Staatsreligionen mehr gab, so enthielten doch die Gesetzbücher Blasphemieverbote, die Gotteslästerung unter Strafe stellten. Heute kann man auf einer Karnevalsveranstaltung ein Kruzifix mit der Inschrift "Tünnes" zeigen und findet sich durch die Meinungsfreiheit gedeckt.

Derartige Verschiebungen haben selbstverständlich mit der Kulturrevolution der sechziger Jahre zu tun, deren Anziehungskraft ganz entscheidend von der Rhetorik des Tabubruchs geprägt war. Wenn wir noch einmal die oben genannten vier Felder in den Blick nehmen, fällt auf, daß die in diesen Bereichen bis dahin geltenden Tabus vollständig oder weitgehend zerstört wurden: sexuelle Emanzipation und Aufweichung des Pornographieverbots gehören genauso in diesen Zusammenhang wie die summarische Erklärung von Vätern und Vorvätern zu Verbrechern, die Herabsetzung des Staates zum "System" und dann die Infragestellung der überlieferten Religion. Das Zerstörungswerk wurde gerechtfertigt durch die damit einhergehende "Befreiung", die nur vorbereite, was die künftigen Generationen - nach einer "tabulosen" Erziehung - als Zustand der Normalität erwarte: Selbstbestimmung ohne irrationale Zwänge, etwa Tabus. Diese Verheißung hat sich so wenig erfüllt wie die anderen, die damals in die Welt gesetzt wurden. Sie führte allerdings - wie der Staatsrechtler Josef Isensee unlängst feststellte - mit der Zerstörung der Tabus zur Außerkraftsetzung des Sittengesetzes überhaupt.

Ein Zusammenleben von Menschen ohne Regelwerke ist aber unmöglich, und auf deren ausschließlich vernünftige Verankerung wollten sich auch die Kinder der Zweiten Aufklärung nicht verlassen. Also wurde an die Stelle des älteren ein neues Sittengesetz, wurden an die Stelle der zerstörten andere Tabus gesetzt:

1. das Verbot, Perversionen als solche zu benennen und zu diskriminieren,

2. das Verbot, die Vorfahren zu ehren,

3. das Verbot, die bestehenden Machtverhältnisse in Frage zu stellen,

4. das Verbot, eine andere Bürgerreligion zu etablieren als die, in deren Zentrum das Eingeständnis der Kollektivschuld steht.

Die Etablierung der neuen Tabus für die zentralen Bereiche Sexualität, Ahnen, Obrigkeit, Religion ist als solche kaum der Erwähnung wert. Es handelt sich einfach darum, daß eine anthropologische Gesetzmäßigkeit wieder ihre Geltung unter Beweis gestellt hat. Diese Gesetzmäßigkeit erklärt übrigens auch das Wuchern des tabuierten Bereichs und die Erstarrung in sinnwidrigen Formen. Beide Phänomene lassen sich in vielen früheren Gesellschaftsordnungen nachweisen. Weder das Wuchern noch die Erstarrung sprechen übrigens gegen den Bestand der Tabus. Wichtig ist deshalb, ob diese Tabus leisten, was sie als Teil der sozialen "Führungssysteme" (Arnold Gehlen) leisten sollten.

Damit ist der entscheidende Punkt berührt: nämlich die Frage, ob das geltende System der Tabus in der Lage ist, für die Gemeinschaft lebensdienlich zu wirken. Die Antwort muß ein deutliches Nein sein. Die Tabus, von denen wir hier sprechen, sind ungeeignet, der deutschen Nation in ihrem Dasein zu helfen. Sie führen zu einer immer weitergehenden Verengung des Meinbaren, die nur die soziale Macht der Tabusetzer vergrößert und eine immer wirklichkeitsfernere Weltanschauung etabliert.

Es handelt sich bei den neuen Tabus faktisch um eine Menge von Verboten, die die Existenz der Nation bedrohen. Der Kampf gegen diese Tabus ist deshalb geboten, wenngleich nicht im Namen irgendeiner absoluten Tabufreiheit. Das macht diesen Kampf schwieriger als den früherer Tabubrecher. Entscheidend ist in jedem Fall zu bedenken, daß Tabus nicht nach Maßgabe von "richtig" und "verkehrt" oder "gut" und "böse" gelten, sondern nach Maßgabe von "mächtig" und "machtlos".

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Gymnasiallehrer in Göttingen.

 

Foto: Voller Saal: Über 600 Teilnehmer sind zum Berliner Kolleg gekommen / Vorne links: Der Historiker Johannes Rogalla von Bieberstein, Bundestagsabgeordneter Martin Hohmann mit Ehefrau, JF-Chefredakteur Dieter Stein

Foto: Karlheinz Weißmann: Verbote, die die Existenz der Nation bedrohen


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