© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/04 04. Juni 2004

Studium für die Visitenkarte
Universitäten: Die Abschlüsse Bachelor und Master aus den "Bologna"-Kriterien setzen in der deutschen Hochschullandschaft mehr auf Schein als auf Sein
Hans Christians

Die Idee ist ehrgeizig. Europa will einen gemeinsamen Hochschul raum schaffen. Die endgültige Verwirklichung ist für das Jahr 2010 vorgesehen. Die Ursprünge der "Vereuropäisierung" der Universitäten liegen im Mai 1998.

Damals unterzeichneten die Bildungsminister von Frankreich, Italien, Großbritannien und Deutschland in der Eliteuniversität Sorbonne in Paris die sogenannte Sorbonne-Erklärung zur Schaffung eines gemeinsamen Rahmens für die europäischen Bildungssysteme. Andere europäische Länder schlossen sich der Erklärung an. Die mittelfristigen Ziele: zunehmende Annäherung der allgemeinen Rahmenbedingungen für Studiengänge und -abschlüsse innerhalb eines offenen europäischen Hochschulraums; Schaffung eines gemeinsamen Systems für Studienabschlüsse (Bachelor-Grad beziehungsweise Master- und Doktor-Grad); Steigerung und Erleichterung der Mobilität von Studierenden und Lehrenden (Studenten sollten mindestens ein Semester im Ausland verbringen); Abbau von Mobilitätshemmnissen und Verbesserung der Anerkennung von akademischen Abschlüssen und Leistungen.

Nur wenige Studienanfänger wählen Bachelor oder Master

13 Monate später folgte der nächste Schritt. Im Juni 1999 unterzeichneten 29 europäische Bildungsminister die so- genannte Bologna-Erklärung zur Schaffung eines europäischen Hochschulraums bis zum Jahre 2010 und zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas als Bildungsstandort weltweit. Die Minister bekräftigten in der Bologna-Erklärung ihre Absicht, folgende Punkte umzusetzen: die Schaffung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse; die Schaffung eines zweistufigen Systems von Studienabschlüssen (undergraduate/graduate); die Einführung eines Leistungspunktesystems (nach dem ECTS-Modell); die Förderung der Mobilität durch Beseitigung von Mobilitätshemmnissen; die Förderung der europäischen Zusammenarbeit durch Qualitätssicherung sowie die Förderung der europäischen Dimension in der Hochschulausbildung. Zwei weitere Konferenzen folgten: 2001 in Prag sowie im September des vergangenen Jahres in Berlin.

Unter dem Strich soll ein System entstehen, das den insgesamt elf Millionen Studenten in der EU und den insgesamt 16 Millionen in Europa ermöglicht, den Studienort ohne zeitliche Einbußen zu wechseln überall einen Abschluß zu erlangen, der für die Berufswelt qualifiziert. Von seiten der Politik wird der "Bologna-Prozeß" vergleichsweise euphorisch beschrieben und als Meilenstein der europäischen Integration gefeiert. Man habe seit 1999 "große Fortschritte" gemacht, glaubt beispielsweise Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD). Durch die Zweiteilung - Bachelor nach drei, Master nach fünf Jahren - sollen überlange Studienzeiten verkürzt und zugleich ein erster, vor allem berufsqualifizierender und international vergleichbarer Abschluß geboten werden.

Mehr Praxis als Theorie soll vermittelt werden, mehr Transfer- als Fachwissen. Der Absolvent: eine breit gebildete, auslandserfahrene, mehrsprachige, sozial kompetente Persönlichkeit - und das alles in nur drei Jahren, malt Bulmahn rosige Zukunftspläne. In Deutschland gehe die Reform mit großen Schritten voran. Bereits 2001 habe man im Hochschulrahmengesetz die Einführung der neuen Studiengänge Bachelor und Master ermöglicht. Allerdings hat sich dieses zweigliedrige Studiensystem hierzulande noch nicht etabliert. Viel zu wenige Studienfähige (vier Prozent) entschließen sich zu den neuen Studiengängen, die meisten vertrauen auf Magister oder Diplom.

All das braucht Zeit, so die Mahnung des Europäischen Hochschulverbandes. Ob das Jahr 2010 ein realistisches Datum für die Umsetzung der ehrgeizigen Ziele ist, erscheint ungewiß. Zumal die Kritiker des Bologna-Prozesses mit ihren Argumenten nicht zurückhalten. Studentenorganisationen werfen den EU-Bildungsministern vor, daß es ausschließlich darum gehe, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Akademiker zu produzieren. Die Freiheit der Lehre und der Forschungsauftrag der Wissenschaft bleibe am Ende auf der Strecke. Seit der Konferenz von Bologna sind mittlerweile fünf Jahre vergangen. In dieser Zeit hat der "Bologna-Prozeß" seinen Weg von den Forschungsministern der Mitgliedsstaaten über unzählige Schreibtische und Verwaltungsinstanzen hinab zu den Universitäten angetreten.

Mit Beginn des Wintersemesters 2003/2004 informierte Baden-Württembergs Wissenschaftsminister Peter Frankenberg (CDU) die Universitäten des Landes über die geplante Umsetzung der Verträge. Bundesweit soll bis 2010 der Hochschulbetrieb auf gestufte Studiengänge, nach den angebotenen Abschlüssen auch als "Bachelor-/Mastersystem" oder kurz Ba/Ma bezeichnet, umgestellt werden. Ab dem Sommersemester 2007 - so wünscht es Minister Frankenberg - sollen die Universitäten des Südweststaates keine Erstsemester mehr in Diplom- oder Magisterstudiengänge aufnehmen (die Staatsexamen sind von den Reformen nicht betroffen). Bis dahin sollen alle bisherigen Abschlüsse durch ihre Ba/Ma-Pendants ersetzt sein. Derzeit erscheinen fast wöchentlich von unterschiedlichen Institutionen Richtlinien, wie ein Bachelor- oder Masterstudiengang auszusehen habe. Stellenweise widersprechen sich diese Papiere, vor allem aber wandeln sich die Anforderungen mit fortschreitender Zeit ständig.

Beispielsweise gab es vor kurzem noch strikte Zulassungsbeschränkungen ("nur die besten 25 Prozent aus dem Bachelor") für Masterstudiengänge, seit noch kürzerem sind es nun nur noch milde Schranken ("ein guter Ba-Abschluß ist notwendig"). In den wichtigsten Eckpunkten sind sich aber die meisten (teilweise selbsternannten) Entscheidungsträger einig: Alle neuen Studiengängen sollen studienbegleitende Prüfungen (sprich: scheinrelevante Klausuren als Ersatz für Abschlußprüfungen) enthalten. Der Bachelor soll ein vollwertiger berufsqualifizierender Abschluß sein. Die neuen Studiengänge sollen von (kommerziellen) Akkreditierungsagenturen "zertifiziert" werden.

Deutsche Bachelore werden als minderwertig eingestuft

Neben ihrem Hauptfach sollen die Studierenden in den neuen Studiengängen auch die beliebten "Schlüsselqualifikationen" vermittelt bekommen. Vor allem aber sollen die Universitäten an der Umstellung qualitativ wachsen. Dies dürfte angesichts leerer Kassen schwierig werden. Dennoch spricht Bundesbildungsministerin Bulmahn davon, daß der gesamte Prozeß kostenneutral abzulaufen habe.

Dies treibt Peter Gaehtgens, dem Vorsitzenden der Hochschulrektorenkonferenz, die Schweißperlen auf der Stirn. Als grundsätzlicher Befürworter der europäischen Angleichungen mahnt er: "Ich bin für die Bologna-Reformen. Aber dazu brauchen wir freilich nicht nur die Wissenschaftsminister, sondern auch die Finanz- und Innenressorts. Die Berlin-Deklaration verpflichtet die Länder auf angemessene Studienbedingungen, und die sind - beispielsweise zur Behebung unserer Schwächen bei der Betreuung der Studierenden angesichts der wachsenden Überlastung im Lehrbetrieb - nicht zum Nulltarif zu haben. Als erstes klares Signal dafür, daß die Botschaft bei Regierungen und Parlamentariern angekommen ist, sollten Hochschulausgaben in den Länderhaushalten künftig als Investitionen und nicht mehr als konsumtive Ausgaben ausgewiesen werden", so Gaehtgens: "Auch die Idee, solche Ausgaben der EU-Staaten nicht in die Berechnung der Maastrichter Stabilitätskriterien einzubeziehen, wäre eine deutliches Zeichen dafür, daß die Bekenntnisse zur Priorität von Bildung und Wissenschaft in reale Politik umgesetzt werden. Die Betroffenen - allen voran Studenten und Hochschullehrer - haben alle Mühe, die Europa-Begeisterung der Politiker zu teilen. Und dies hat nicht nur finanzielle Gründe. Alleine die äußerliche Form finden Akademiker-Verbände schon seltsam."

Der Hochschulabschluß "Master in Germanistik" sei kein Gütesiegel, sondern schlicht eine Zumutung. Andere Kritikpunkte sind noch substantieller. Fraglich bleibt vor allem, was die deutsche Wirtschaft mit den vielen Bachelors anfangen soll. Schließlich gibt es in Deutschland bereits Institutionen, die sich auf praxisnahe Ausbildung spezialisiert haben: Namentlich die Fachhochschulen und Berufsakademien, die in Zukunft natürlich auch Ba/Ma-Titel verleihen dürfen respektive müssen. Unklar bleibt, welchen Stellenwert diese Titel dann noch haben werden. Vertreter von Berufsakademien befürchten bereits jetzt, daß ihre Absolventen vom Arbeitsmarkt gedrängt werden können. Experten kritisieren zudem, daß der Bologna-Prozeß zwar die Hülle in schönsten Farben beschreibe, die inhaltliche Auseinandersetzung mit der europäischen Angleichung aber auf der Strecke bleibe.

Die britische Organisation NARIC, die ausländische Universitätstitel bewertet (vergleichbar mit dem Deutschen Akademischen Auslandsdienst), hat schon beschlossen, deutsche Bachelore gegenüber ihrem britischen Pendant generell als minderwertig einzustufen. Auch Fachverbände äußern Kritik. Eine automatische Abschaffung der Diplomstudiengänge gefährde "das Forschungspotential in dem für den Innovationsstandort Deutschland besonders relevanten Studiengang Elektro- und Informationstechnik", warnt der Verband der Elektrotechnik, Elektronik, Informationstechnik (VDE).

Statt des rein formalen Ansatzes fordert der VDE eine Debatte, die stärker inhaltliche und qualitative Aspekte berücksichtigt, und mehr Zeit, um trotz Umstellung den bisherigen hohen Qualitätsstandard deutscher Ingenieursausbildung zu erhalten. Zwar unterstütze der VDE grundsätzlich die Ausrichtung der deutschen Ingenieurausbildung nach dem neuen Modell, aber die Tauglichkeit des gestuften Systems müsse nachgewiesen und eine breite Akzeptanz bei den Arbeitgebern vorhanden sein. Da das bisherige Diplom diese Anerkennung auch über die nationalen Grenzen hinaus habe, sollte man eine einstufige Ausbildung auf dem bisherigen Diplomniveau parallel zu dem zweistufigen Ansatz beibehalten.

Deutschland wird damit bald zur Nation der Pressesprecher

Ebenso sollte das im Bologna-Prozeß vorgesehene Promotionsstudium nur als Ergänzung der bisherigen Promotion eingeführt werden. Auch Fachjournalisten melden unterdessen Bedenken an. So spricht die FAZ von der "größten Lüge des Bildungswesens seit Einführung des Schulkakaos" (6. November 2003). Weiter heißt es in ungewöhnlich scharfer Formulierung: "Gemeint ist jene Plörre, die sie uns als solche ausgaben. Ja, man muß schon ziemlich weit zurückgehen, um auf ein ähnlich leeres Versprechen zu stoßen. Daß es ein wissenschaftliches Studium an Universitäten geben kann, das in drei Jahren zur Berufsqualifizierung führt, diese Prämisse ist schlicht und einfach nicht zu halten, wenn man Universität bleiben und nicht Fachhochschule werden will."

Der Feuilletonist Jürgen Kaube polemisiert am 8. Mai gegen den grundsätzlichen Bedarf der verschiedenen Bachelor-Abschlußgrade und führt Beispiele an: An der Universität Dortmund kann man jetzt "Angewandte Literatur- und Kulturwissenschaft" studieren, an der Technische Universität Darmstadt bald den Bachelor in "Geschichte der Moderne" erwerben. Ein berufsqualifizierender Abschluß wird mit sechs Semestern "Kulturwissenschaft der Antike" in Konstanz beworben, genauso wie in Bamberg mit "Interdisziplinäre Mittelalterstudien". Mit diesen Abschlüssen würde Deutschland bald eine Nation von Pressesprechern, Programmheftschreibern und Tourismusberatern. Kaum ein Arbeitgeber und ganz bestimmt nicht die öffentliche Hand mit ihren Eingruppierungsordnungen und Einstellungspraktiken dürfte Bachelor und Bachelorette mit offenen Armen aufnehmen.

In die gleiche Kerbe stößt ausgerechnet das wirtschaftsnahe Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), einer der Motoren von Bachelor- und Master-Studiengängen. "Der Bachelorgrad ist noch weitgehend unbekannt. Die genaue Verortung der neuen Abschlüsse kann aber nicht dem Markt überlassen werden." Vielmehr komme auf die Hochschulen "die neue Aufgabe zu, ihre Qualifikationsangebote und Absolventen aktiv zu vermarkten".

Andere Experten weisen lapidar auf die Tatsache hin, daß Titel wie Diplome international einen hohen Stellenwert hätten und sich ganze Bildungslandschaften wie Südostasien am deutschen Modell orientierten. Bildungsministerin Bulmahn und ihre europäischen Mitstreiter hören solche Argumente nicht gerne. "Nationale Ketten" müsse man sprengen und "Europa als Chance für die Bildung begreifen", hieß es nach der Konferenz in Berlin im September 2003.

Die nackten Zahlen lassen sich mit EU-tümelnden Parolen freilich nicht beiseite schieben. Seit fünf Jahren gibt es schon die internationalen Studiengänge mit den gestuften Abschlüssen zum Bachelor und Master (BA/MA), doch noch streben 95 Prozent aller Studenten Diplom, Staatsexamen oder Magister an. Nach einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Hochschul-Informationssystems (HIS) sind die Studienangebote für zwei von drei heutigen Abiturienten kein Thema. "Das Nachfragepotential, das für ein Bachelorstudium überhaupt aktiviert werden könnte, liegt derzeit bestenfalls bei einem Drittel aller Studienberechtigten", sagt HIS-Mitarbeiter Stefan Heine. Zurückhaltend bis uninteressiert zeigen sich auch die möglichen Arbeitgeber. Nach einer neuen Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages glauben nur vier von zehn Firmen zu wissen, um was es bei BA/MA geht.

Doch die Befürworter, allen voran Bildungsministerin Bulmahn, verkennen die Realität und träumen statt dessen von einer "aufgeschlossenen Jugend, die überall studieren kann". Euphorisch wird die Rückkehr ins Mittelalter, zu den "gesamteuropäischen Universitäten" gefeiert. Kritisch wird nur eingeräumt, daß "selbstverständlich noch Details zu klären seien". Zu diesen Details gehört allerdings, daß man Wege finden muß, um das "europäische Studieren" auch unter dem finanziellen Aspekt zu ermöglichen. Zweifler fürchten, daß "für Nebensächlichkeiten wie ein Auslandsstudium" keine Zeit mehr sein werde, wenn die Studenten innerhalb von drei bis vier Jahren BA/MA-Reife erlangen sollen.

Fotos: Studienanfänger im Hörsaal der Universität Kassel (2003): Die Verortung der neuen Abschlüsse soll nicht dem Markt überlassen werden


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