© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/04 11. Juni 2004

Europas islamisches Erbe
von Günter Zehm

Noch im Mittelalter, so liest man oft, sei die islamische Kultur, was technisches Ingenium und Feinheit der Lebensführung betrifft, der abendländischen weit überlegen gewesen. Heutige islamische Gelehrte erfüllt solcher Hinweis mit Genugtuung, löst aber auch bohrendes Nachfragen aus, was denn der Grund dafür gewesen sein könnte, daß der Islam so sehr ins Hintertreffen geriet. Kam die kulturelle Hochblüte, wie einige Kairoer Professoren meinen, "zu früh", verwelkten deren Blumen schon wieder, gerade als das Abendland zu blühen begann?

Aber rein aus der Zeit heraus läßt sich ein islamischer Entwicklungsvorsprung schwerlich erklären, eher von den Raumbedingungen her. Die Germanen zerschlugen in der Völkerwanderungszeit das weströmische Reich, die Araber brachten das oströmische kurz darauf in schwere Bedrängnis. Sie eroberten Ägypten, den Maghreb, Spanien, das Zweistromland, Palästina, Syrien, Persien, zuletzt auch noch den größten Teil Kleinasiens, das heißt sie machten die Bekanntschaft mit jenem Raum der helleni­stischen Kultur, der - im Vergleich zu dem doch eng politisch-juristisch geprägten Westen - sehr viel reicher, bunter und wohl auch innova-tionskräftiger war.

Die Araber besetzten vor allem Alexandreia mit seinem unerhört intensiven Literaturbetrieb, sie kamen an fast alle wichtigen naturwissenschaftlichen und medizini­schen Schriften des Museions heran, an Galen, Heron, Ktesibios, dazu an viele, viele Originalschriften der klassischen Epoche, vor allem des Aristoteles. Und sie interessierten sich auch wirklich für diese Schriften, im Gegensatz zum germanisch-christlichen Westen, der eher auf das Bild als auf die Schrift setzte. Der Schluß bietet sich an: Es war die eingeborene Bilderskepsis, Bilderlosigkeit der arabischen Kultur, die dem Islam im Mittelalter einen kulturellen Vorsprung einbrachte.

Zwar geschah auch die christliche Offenbarung auf den Flügeln des Wortes, mit­tels geheiligter, wenigstens kanonisierter Schriften, doch bekräftigt und wirkmächtig wurden diese Schriften erst durch das Bild, den direkten Anblick Gottes, seine Verbildlichung als Schmerzensmann am Kreuz oder als guter Hirte oder als Pantokrator, als Weltenherrscher, vor einem para­diesischen Goldgrund. Bei den Arabern galt hingegen von Anfang an und unverbrüchlich das Bilderverbot. Es war bei ihnen, genau wie in der An­weisung des Alten Testaments, "Du sollst Dir kein Bildnis ma­chen", verboten, Gott zu verbildlichen, und so auch, sich ein Bild von Mohammed dem Propheten zu machen, und im Grunde sich überhaupt Bilder zu machen.

Die arabische Kultur ist bilderlos; gewisse Kalifenbilder mit Haremsdamen oder Jagdfalken waren persische Abweichungen. Als Äquivalent jedoch herrschte in ihr stets eine riesige Schrift-be­geisterung. Das erste, was die arabischen Feldherren in den eroberten Städten beschlagnahmten, waren die Bücher in den Bibliotheken, die Schriftrollen und die auf Gazellenhaut oder auch schon auf Papier geschriebenen Codices.

Der Reichtum und Ruhm eines Vornehmen richtete sich - nächst oder noch vor der Gutbestücktheit seines Harems - nach der Größe seiner Bibliothek. Der Kalif von Cordoba hatte eine Bibliothek von 600.000 Schrift­rollen und Codices; der Kalif von Kairo gar gebot über insgesamt 1.600.000 Schriften, und einer seiner Wesire hütete noch einmal über 1.050.000 Einzelwerke.

Während die germani­schen Eroberer Westroms ohne weiteres das Lateinische als Herr­schaftssprache anerkannten, sich ihm anbequemten, es sogar mühsam erlernten, waren die Araber von Anfang an Sprachimperialisten, das heißt die Sprache des Propheten, also das Arabische, mußte überall die allgemein verbindliche Sprache sein, der sich sämtliche Imame, Mullahs und Mediziner zu bedienen hatten, sei es nun in Persien oder Spanien. Arabisch wurde die Sprache der Behörden, des Handels und des Ver­kehrs, der Diplomatie und der Rechtsprechung. Persien ist damals wie durch ein Wunder um die Ausrottung seiner autochthonen Spra­chen herumgekommen; andere Sprachen gingen zugrunde, das Koptische, das Aramäische, die Sprache, in der Jesus gedacht hat.

So setzte denn eine riesige Übersetzertätigkeit ein. Auch alle damals noch verfügbaren philosophischen und naturwissenschaftlichen Texte der Griechen wurden ins Arabische übersetzt und blieben vorrangig im Arabischen erhalten, während die griechischen Originale oft verlorengingen.

Hinzu kam, daß die Araber zu Herren über die großen internationalen Handelswege nach dem Osten wurden, daß sie früher als der Westen mit den großen chinesischen Erfindungen bekannt wurden (die der Westen im Verlauf des Mittelalters erst mühsam nacherfand). Die arabische Zivilisation war deshalb in technischer Hinsicht, besonders was die Feinheiten und die Ausdifferenzie­rung der Lebensführung betraf, der westlichen tatsächlich lange überlegen. Wir können das heute noch ablesen an ganz einfachen Konstellationen, zum Beispiel daß viele Gegenstände des etwas feineren täglichen Bedarfs arabische Namen tragen: "Matratze", "Diwan", "Sofa", "Alkoven", "Tasse" undundund.

Cordoba im spanischen Andalusien war im elften und zwölften Jahr­hundert für die Christen eine Märchenstadt, wo sie, wenn sie das Glück hatten, einmal dort zu sein, aus dem Staunen nicht mehr herauskamen. Es zählte 200.000 Häuser, 600 Moscheen und 900 öf­fentliche Bäder. Es gab ein vorzüglich funktionierendes, ausge­dehntes Was-serleitungssystem, alle Straßen waren gepflastert, und in der Bibliothek des Kalifen, die Gelehrten zugänglich war, reihten sich, wie gesagt, 600.000 Bücher aneinander.

Mit dieser überlegenen Zivilisation also wurde das Abendland im elften und zwölften Jahrhundert bekannt, keineswegs nur durch die Kreuzzüge oder andere kriegerische Unternehmungen wie etwa die allmähliche christliche Wiedereroberung Spaniens, sondern oft genug auch auf dem Wege gegenseitiger friedlicher Durchdringung und Assimilierung. Der Hof Kaiser Friedrichs II. in Palermo war eine große Synthese aus christlicher und arabischer Kultur, mit völlig offenen Gelehrtengesprä-chen und zahllosen natur-wissen­schaftlichen Experimenten an der neuen, nach arabischem Vorbild medizinisch orientierten Universität von Salerno.

Noch intensiver gestaltete sich die geistige Begegnung zwi­schen Ost und West in Spanien, wohin der große Technik­freak Gerbert von Aurillac, besser bekannt als nachmaliger Papst Sylvester II., schon früh - und dabei unterstützt von Kaiser Otto III. - seine Angeln ausgeworfen hatte. Mit Gerbert begann, was manche Wissenschaftshistoriker "das Zeitalter der Übersetzungen" nennen. Es wurde nun alles mögliche, freilich kaum Schöngeistiges, sondern vorrangig philosophische und naturwissenschaftliche Fachliteratur, aus dem Arabischen übersetzt, aber auch aus dem Griechischen, weil man bei den Arabern viele griechische Ori­ginalmanuskripte entdeckte, nach denen man sich jahrhundertelang gesehnt hatte.

Die großen Übersetzer der damaligen Zeit verdienen es, ehrenvoll in der Erinnerung gehalten zu werden. Zu ihnen zählten Namen wie Gerhard von Cremona, Adelard von Bath, Robert von Chester, Hermann von Kärn­ten, Michael Scotus, Hermann der Deutsche, na­türlich Wilhelm von Moerbeke, dessen Aristoteles-Übersetzung Thomas von Aquin benutzt hat. In Toledo, das 1085 von den Abendländern zurückerobert worden war und wohin viele der eben Genannten verzogen, bildete sich ein regelrechter Übersetzer-Konzern aus arabischen, christlichen und jüdischen Mitarbeitern, die geradezu industrielle Methoden anwandten.

So wurden die abendländischen Gelehrten peu à peu wieder mit den Werken von Euklid, Ptolomaios, Galen bekannt, aber vor allem natürlich mit Aristoteles und, was ähnlich folgenreich war, mit dessen arabischen Kommenta­toren, vor allem mit Averroes, des­sen Kommentare Sensation machten und ihm im ganzen Abendland den Ehrenti­tel "Der Kommentator" einbrachten, der Kommentator "des Philosophen", der natürlich Aristoteles war. Der Kommentator und der Philosoph - so sprach man im christlichen Mittelalter, wenn man Averroes und Aristoteles meinte.

Dabei läßt sich sagen, daß die arabischen Kommentare und besonders Averroes ausdrücklich die empiristisch-wissenschaftliche Seite der aristotelischen Lehre herausgestellt haben, den Zug zum Pantheismus, den Zug zur Betonung der Sterblichkeit der Einzelseele, der Anfangs- und Endlosigkeit der Welt usw. Aber während diese Kommentare sich im Abendland tief eingruben und dort zweifellos zur Formierung eines spezifisch technischen, auf mathematisches Kalkül und Weltveränderung erpichten Bewußtseins beitrugen, wurden sie in den islamischen Stammländern höchst wirkungsvoll unterdrückt, verfolgt und aus der kulturellen Tradition getilgt - und damit fing die Misere an.

Das Schicksal von Averroes, recte: Ibn Ruschd, liefert dafür geradezu das Paradigma. Ibn Ruschd wurde 1126 in Cordoba geboren wo er eine Zeitlang gleich­zeitig als Richter und als Leibarzt des Kalifen tätig war. Er muß ein ausgezeichneter Arzt gewesen sein, von ihm stammt die Erkenntnis von der Immunisierung durch Krankheit. Wer einmal die Pest gehabt und sie über­lebt habe, lehrte Ibn Ruschd, der sei nun gegen sie immun geworden, so daß man mit seinem Blut, indem man es mit dem Blut der Gesunden, noch nicht von der Pest Befallenen, mische, möglicherweise diese noch Gesunden vor der Krankheit überhaupt bewahren könne.

Bald geriet Ibn Ruschd ins Fadenkreuz fundamentalistischer Mullahs und zeternder Zeloten. Er mußte Cordoba ver­lassen, flüchtete nach Afrika und begab sich unter den Schutz des Kalifen von Marrakesch. Dort scheint er vor den Häschern aus Cordoba sicher gewesen zu sein, durfte aber wohl ansonsten nicht mehr den Mund aufmachen; jedenfalls ist keine in Marokko geschriebene Schrift von ihm bekannt geworden, und man muß sogar annehmen, daß seine bereits veröffentlichten Werke noch zu seinen Lebzeiten verbrannt oder aus den Bibliotheken entfernt wurden.

Jedenfalls sind die meisten von ihnen nur noch in den lateinischen Übersetzungen des Abendlands bekannt - da zeigt sich die Dialektik der Rettung von Texten: Die Araber retteten den Aristoteles vor der Ignoranz der Abendländer, indem sie ihn ins Arabische übersetzten, aber die arabischen Übersetzungen wurden von den Abendländern gerettet, indem diese sie ins Lateinische übersetzten.

Ibn Ruschd starb, zweiundsiebzig-jährig, 1198 in Marrakesch. Sein Werk besteht zum größten Teil aus wörtlich übernommenen Aristo­teles-Passagen, denen dann jeweils eine eigene Paraphrase beigeordnet wird, also ein Kommentar, der stets Auslegung und verdeckte Kritik, das heißt Weiterentwicklung ins Pantheistische hinein, ist. Außer diesem Zitat-Paraphrase-Kosmos sind von ihm noch überkommen eine "Widerlegung Al Gazalis" (eines der schärfsten Fundamentalisten der damaligen Zeit) und ein Werk zur Begründung der sogenannten doppelten Wahrheit, "Über das Verhältnis von Theologie und Philosophie". Das letztere gibt es auch auf deutsch, in einer Übersetzung von Max Müller.

Averroes macht darin ein Gedan­kenexperiment: Er läßt einen Menschen in völliger Einsamkeit und nur mit der Natur als Partner aufwachsen, um zu prüfen, ob ein solcher Mensch "Gott erkennen" könne. Ja, sagt Averroes, der Einsame kann Gott erkennen, aber sein Gott ist ein "Naturgott", mit der Natur identisch und sie beseelend und mit Leben erfüllend. Das, sagt Averroes, was den Naturmenschen umgibt und ihn zwar einerseits in Notwendigkeiten einbindet, anderer­seits aber mit der unendlichen Freude des Entdeckens und Wissens erfüllt, das ist Gott.

Und wenn nun dieser Naturmensch in die Welt der Menschen eintritt und ihren biblischen oder korani­schen Reden zuhört, dann fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Diese Bibel- und Koranredner meinen ja dasselbe wie ich, nur reden sie nicht präzise im Stile exakten Wissens da­rüber, sondern gewissermaßen in bildlicher Hülle. Sie verbieten zwar die Bilder, halten sich nur an die Schrift, aber die Schrift wird in ihren Händen selber zum Bild, zur heiligen Ikone, die man nicht wirklich lesen, sondern nur anbeten darf. Das kommt daher, daß sich diese "Schriftgelehrten" nie auf ein ordentliches exaktes Naturstudium eingelassen haben, sie hatten ja gar keine Zeit dazu, sie waren in Geschäften unterwegs und mit ihrem alltäglichen Kleinkram beschäftigt, wie das eben für das Volk, "die Menge", wie Averroes auch sagt, üblich ist. Die Masse, lehrt Averroes, braucht die offenbarte Religion mit ihren schlichten, faktisch bildlichen Erzählungen, aber der Gelehrte braucht sie nicht.

Natürlich ist dem Meister auch diese seine aristokratische Variante der Lehre von der doppelten Wahrheit zum Vorwurf gemacht worden. Doch man kann die Polemik umdrehen. Indem die siegreichen Mullahs und Zeloten ihre für die Menge bestimmten "Bilderbücher" bis in die Gelehrtenstuben hineingetragen haben und die Gelehrten zwangen, sie anzubeten, haben sie den Islam wissenschaftlich mattgesetzt, mit allen verhängnisvollen Folgen. Wer heute Abhilfe schaffen und an alte, glanzvolle Epochen wiederanknüpfen will, der muß die uralte, erhabene Lehre von der doppelten Wahrheit endlich ernstnehmen und respektieren.

 

Prof. Dr. Günter Zehm veröffentlicht demnächst in der Edition Antaios, Schnellroda, den Band "Logos und Eros".

 

Foto: Kathedrale La Mezquita in der andalusischen Stadt Cordoba: Nach dem Abzug der Mauren 1492 wurde die Moschee in ein katholisches Gotteshaus umgewandelt und gehört heute zum Weltkulturerbe.


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