© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/04 18. Juni 2004

Schmidts falsche Versprechen
Sozialpolitik: Die von der Bundesgesundheitsministerin verlangte Senkung der Kassenbeiträge ist unseriös / Schuldentilgung nötig
Jens Jessen

Kaum können die Gesetzlichen Krankenkassen im ersten Quartal diesen Jahres - nach langer Zeit - wieder stolz einen Überschuß vorweisen, wird eine Senkung der GKV-Beiträge gefordert. DGB-Vize Ursula Engelen-Käfer und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (beide SPD) stehen in der vordersten Reihe der Befürworter dieser Forderung. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Blauäugigkeit sie Beitragssenkungen fordern - obwohl das zum jetzigen Zeitpunkt illegal ist. Ende 2003 wiesen die Krankenkassen einen Schuldenberg von rund acht Milliarden Euro aus. Das Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Krankenversicherung [SGB V]) schreibt vor, daß die Beiträge der Krankenversicherung mit den sonstigen Einnahmen die Ausgaben der Kassen und die vorgeschriebene Auffüllung der Rücklagen decken. Ist das nicht der Fall, "hat der Vorstand zu beschließen, daß die Beiträge ... erhöht werden" (Paragraph 220, (2), 3).

Schon in den vergangenen Jahren war es nicht möglich, mit den beschlossenen Beitragssätzen die Ausgaben zu finanzieren. Wie in jedem Familienhaushalt führt eine Unterdeckung der Ausgaben zu Schulden. Das haben auch die Kassen zu spüren bekommen. Allein die AOK verkündete Anfang 2004 verschämt, daß ihre Schulden gegenüber dem Vorjahr von 1,32 Milliarden Euro auf 2,85 Milliarden Euro angewachsen sind. Die Zinszahlungen, die von den Mitgliedern finanziert werden, belaufen sich für alle Krankenkassen Jahr für Jahr auf 500 Millionen Euro.

Die Banken waren, wie immer, wenn es gutes Geld zu machen gilt, gar nicht schüchtern. Sie versorgten die Kassen mit Krediten. Die Frage ist nur, ob es von seiten der Kassen Sicherheiten für diese Kredite gegeben wurden, wie es üblicherweise der Fall zu sein hat. Da die Kassen mit den Beiträgen der Versicherten von der Hand in den Mund leben, ist das höchst unwahrscheinlich. Dann wäre zu überprüfen, ob die Banken für diese risikobehafteten Kredite angemessene Rückstellungen gebildet haben.

Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) ist an sich die geeignete Einrichtung, die dieses orientalische Gehabe unter die Lupe nimmt und die Beteiligten auffordert, sich an die Gesetze unseres Staates zu halten. Bisher hat sie nicht Laut gegeben, obwohl die illegale Kreditaufnahme der Kassen schon seit Jahren an der Tagesordnung ist.

Ende 2003 wurde die Schuldenmacherei der Kassen auch Ministerin Schmidt zuviel. Sie verlangte die Tilgung der Schulden bis zum Ende des Jahres 2007. Für das Jahr 2004 bedeutete das eine Schuldentilgung von zwei Milliarden Euro.

Während die Bürger darauf warten, daß die Kassen und die Banken auch von der Gesundheitsministerin zur Ordnung gerufen werden, macht sie nach fünf Monaten eine Kehrtwendung auf dem Absatz und hat nichts Besseres zu tun, als populistisch dem erstaunten Publikum Beitragssatzminderungen vor den Wahlen zu versprechen und ihre Forderung nach Schuldenabbau ohne Begründung zu versenken. Der Geschichte der Gesetzesverstöße in diesem Land würde damit ein neuer gravierender Verstoß gegen geltendes Recht hinzugefügt.

950 Millionen beträgt im ersten Quartal 2004 der Überschuß der Kassen nach Aussage des Bundesgesundheitsministeriums vom 2. Juni. Fachleute der Krankenkassen äußern ihre Bedenken, daß diese Entwicklung auch in den ausstehenden drei Quartalen anhalten wird. Der erzielte Überschuß wird auf Sondereffekte zurückgeführt.

Wie bei jeder bisherigen Kostendämpfungsmaßnahme waren die Versicherten intelligent genug, die erwarteten Verschlechterungen von Leistungen kurzfristig dadurch zu unterlaufen, daß sie diese Leistungen vor Inkrafttreten des Gesetzes in Anspruch genommen haben. Das war im vierten Quartal 2003 nicht anders. Die Versicherten ließen sich Arzneimittel - große Packung - und Brillen verschreiben, die Zähne reparieren und zogen Arztbesuche in das Jahr 2003 vor, um die Praxisgebühr zu vermeiden. Die Praxen waren brechend voll, die Apotheken sprachen von einem reißenden Absatz von Arzneimitteln, und die Optiker schauten glücklich auf ihre Umsätze.

Schätzungen gehen davon aus, daß zwischen zehn und 15 Prozent der erbrachten Leistungen vorgezogen waren und deshalb im ersten Quartal 2004 die Leistungsbilanz erheblich verzerrt haben. Die Rückgänge bei Arzneimitteln (15 Prozent), Hilfsmitteln (12 Prozent), Fahrtkosten (10,5 Prozent) und ambulanter Behandlung durch Kassenärzte (4,5 Prozent) waren außergewöhnlich. Die Ausgaben der Kassen brachen um über 1,5 Milliarden Euro im Vergleich zum ersten Quartal 2003 ein.

So generierte sich der erste Überschuß seit dem ersten Quartal 1994 aus dem außerordentlich hohen Defizit im letzten Quartal 2003. Sicher ein Grund zur Freude, aber noch lange kein Grund, Beiträge zu senken. Wenn der Trend des ersten Quartals wunderbarerweise bestätigt würde, könnten die Kassen sich am Ende des Jahres über einen Überschuß von rund vier Milliarden freuen.

Zur Erinnerung: Die Architekten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes traten mit ganz anderen Zahlen für das Jahr 2004 an. Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz wurde mit einer Entlastung der GKV um 9,7 Milliarden Euro verkauft. Davon wollte Schmidt drei Milliarden für die Ablösung von Schulden verwendet sehen und 6,7 Milliarden für die Verringerung der Beitragssätze. Da eine Milliarde Euro etwa 0,1 Prozentpunkte bei den GKV-Beitragssätzen entspricht, hätten die durchschnittlichen Beiträge von 14,3 Prozent auf 13,6 Prozent gesenkt werden können.

Die Kostensenkungsrhetorik, die schon von den seinerzeitigen Gesundheitsministern Norbert Blüm (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Andrea Fischer (Grüne) in den vergangenen Jahrzehnten betrieben wurde, mußte scheitern. Die Gesundheitspolitiker sprachen von Kostenexplosion, weil sie nicht erkennen wollten (oder durften), daß die Kosten nicht die Achillesferse des Gesundheitswesen sind, sondern die wegen Arbeitslosigkeit gerupften Einnahmen und die Auszehrung der GKV durch kassenfremde Leistungen.

In der jetzigen Situation ist es unseriös, eine Senkung der Kassenbeiträge zu fordern, bevor bekannt ist, ob nachhaltig ein Überschuß in diesem Jahr zu erwarten ist, der über zwei Milliarden Euro hinausgeht. Nur dann bestünde neben der Schuldensenkung auch die Möglichkeit an eine Senkung der Beitragssätze zu denken. Alles andere ist rot-grüner Populismus, der die Kassen noch weiter in die Schuldenfalle treibt.

Foto: Die Krankenkassenbeiträge sollen sinken: Rot-grüner Populismus, der die Kassen noch weiter in die Schuldenfalle treibt


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