© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/04 25. Juni 2004

Vergessene Zonen der totalen Ruhe
Gerhard Wolter ruft die Odyssee der Rußlanddeutschen unter Stalin und das anschließend verordnete Schweigen ins Bewußtsein zurück
Robert Korn

Der Buchtitel hat symbolischen Charakter: Diese Worte standen an den Toren Stalinscher Arbeitslager, die nichts anderes als Konzentrationslager waren. Was sich hinter den Lagertoren abspielte, durfte niemand erfahren. Für die Rußlanddeutschen galt dies ganz besonders.

Ihr Beitrag zum Aufbau des russischen Staates, ihre hervorragenden Pionierleistungen und kulturellen Errungenschaften sollten aus dem Gedächtnis der Sowjetmenschen und der Weltöffentlichkeit für immer getilgt werden. So verschwanden sie für nahezu fünfzig Jahre aus allen Nachschlagewerken im In- und Ausland.

Daher ist es so wichtig, daß dieses Buch aus der Feder des rußlanddeutschen Autors Gerhard Wolter den Schleier des Schweigens über dem Genozid an den Deutschen aus Rußland zerreißt. Dem 1923 in der Ukraine geborenen Verfasser, der selbst Insasse sowjetischer Konzentrationslager war, ist es gelungen, ein beeindruckendes Zeugnis rußlanddeutscher Leidensgeschichte darzustellen und die Deportation sowie die geplante Vernichtung einer ganzen Volksgruppe zu schildern.

Im Herbst 1941 wurde Wolter aus seiner Heimat nach Kasachstan vertrieben und war dann von 1942 bis 1946 Zwangsarbeiter im Gulag. Später mußte er wie alle Rußlanddeutschen unter der Aufsicht der Staatssicherheit als "Sondersiedler" leben. Als das Regime der Kommandanturaufsicht gelockert worden war, durfte er nach einem Studium unterrichten: zuerst im Ural, später in Kirgisien. 1996 siedelte Wolter in die Bundesrepublik über, wo er zwei Jahre später verstarb.

Die Rolle des Geschichtsdozenten mimend, beschuldigt Bundesaußenminister Joschka Fischer die Initiatoren eines Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin, sie hätte "eine verzerrte Geschichtswahrnehmung". Und in einem Zeit-Interview am 28. August 2003 sagte Fischer gar, es sei wichtiger zu fragen: "Was haben wir uns selbst angetan?" Für den Außenminister sind jene Deutschen, die vor der vergewaltigenden und mordenden sowjetischen Soldateska flohen, "die Schuldigen". Sie hätten sich "aus Angst mit der Wehrmacht davongemacht, weil sie wußten, daß sie keine Gnade zu erwarten hatten".

Den Deutschen aus Rußland läßt sich noch nicht einmal dieses unterstellen. Am 28. August 1941, auf den Tag genau 62 Jahre vor Fischers Zeit-Interview, wurden sie von den Sowjets ohne jeden Grund der Kollaboration mit Deutschland beschuldigt und zu Staatsfeinden erklärt. Fast eine Million Menschen - von Neugeborenen bis zu sterbenden Alten - wurde danach aus ihren angestammten Siedlungsgebieten nach Sibirien und Nordkasachstan deportiert. Hier wurden die deutschen Familien auseinandergerissen: Die Männer mußten in die Stalinschen Gulags, wo sie schwerste Zwangsarbeit zu verrichten hatten. Später gesellten sich zu ihnen auch die Frauen ab sechzehn Jahren, die keine Kinder unter drei Jahren hatten.

Die von Wolter zitierten Ausschnitte aus den KGB-Akten dokumentieren den geplanten Völkermord an einer Volksgruppe als politisches Ziel. Er spricht von einer "planmäßigen und zielgerichteten Vernichtung" einer halben Million Rußlanddeutscher. Den Überlebenden blieb in der Sowjetunion bis in die heutige Zeit die öffentliche Erinnerung an ihre Odyssee verwehrt. Eine breitere Aufarbeitung war unter den Umständen gänzlich unmöglich. Wolters Dokumentation gibt Augenzeugen die Möglichkeit, in Berichten ihre erlebten Greueltaten während der Deportation, der Zwangsarbeit und der KGB-Sonderkommandanturaufsicht zu illustrieren. Briefe von 150 Überlebenden sowie persönliche Erinnerungen bilden die Grundlage für die Darstellung des Infernos, durch das die Rußlanddeutschen gegangen sind. Wolter hat mit seinem Buch Hunderttausenden seiner Landsleute ein Denkmal gesetzt, die schuldlos allein wegen ihrer deutschen Herkunft deportiert, gequält und getötet wurden.

Bis jetzt gab es kein Buch, das wie "Die Zone der totalen Ruhe" das Schicksal der rußlanddeutschen Volksgruppe derart anschaulich und ergreifend schildern konnte. Angesichts des seit den achtziger Jahren andauernden Exodus in die Bundesrepublik könnte eine Verbreitung dieses Wissens auch dem Verständnis gegenüber den Neubürgern in der Heimat ihrer Vorfahren dienen. Der Verleger Waldemar Weber hat es bereits vielen Politikern geschenkt, die mit der Aussiedlerintegration beschäftigt sind, darunter Edmund Stoiber, Christian Wulff, Roland Koch. Bleibt zu hoffen, daß die erschütternde Dokumentation von Gerhard Wolter auch Politiker vom Schlag des Joschka Fischer erreicht. 

Gerhard Wolter: "Die Zone der totalen Ruhe": Die Rußlanddeutschen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren. Berichte von Augenzeugen. Waldemar Weber Verlag, Augsburg 2003, gebunden, 477 Seiten, 17,90 Euro

Foto: Verfallenes Straflager im sibirischen Tschitiuski-Gebiet (Foto von 1965): Planmäßige und zielgerichtete Vernichtung


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