© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/04 09. Juli 2004

"Absturz nach ganz unten"
Rüdiger Mikeska, Vize-Vorsitzender des Arbeitslosenverbandes Deutschland, über die sozialen Folgen der Hartz-Reformen
Jörg Fischer / Moritz Schwarz

Herr Mikeska, warum gehen Ihnen die im Hartz-IV-Gesetz beschlossenen Maßnahmen zu weit?

Mikeska: Weil viele, viele Menschen in Deutschland aufgrund der neuen Gesetze schlagartig nach "ganz unten", das heißt auf Sozialhilfe-Niveau "durchfallen" werden. Diejenigen, die ab 1. Januar 2005 davon betroffen sind, machen sich noch gar nicht klar, was das alles für sie konkret bedeutet.

Malen Sie nicht schwarz? Die Regierung hat versprochen, im Gegenzug werden durch Hartz IV 400.000 neue Arbeitsstellen geschaffen.

Mikeska: Ich kann mir nicht vorstellen, wo die herkommen sollen. Wer bisher nicht vermittelbar war, der wird auch durch die neuen Maßnahmen kaum besser zu vermitteln sein.

Der Arbeitsmarktexperte Werner Scherer fordert im Interview mit dieser Zeitung (siehe oben) dazu auf, endlich zu akzeptieren, daß "die Arbeitslosenhilfe den Lebensunterhalt, nicht den Lebensstandard sichern soll".

Mikeska: Das stimmt schon, aber was in der Theorie sozial vertretbar klingt, kann in der Praxis ziemlich häßlich sein. Man kann Leute, die oft unverschuldet in solch eine Situation geraten sind, doch nicht lebenslang zu Schuhputzern, Zeitungsboten und Kofferträgern machen. Die Politik möchte natürlich möglichst viele Arbeitslose in den Niedriglohnsektor pressen, um ihr Versprechen, 400.000 neue Stellen zu schaffen, zu erfüllen. Diese Strategie wird aber nicht aufgehen.

Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner Antrittsrede einen Mentalitätswandel in Deutschland gefordert - warum soll ein arbeitsloser Lehrer nicht künftig den Schulhof fegen?

Mikeska: Nicht die neuen Zumutbarkeitsregelungen machen uns Sorgen, sondern die Tatsache, daß viele Menschen sich nach einem Jahr Arbeitslosengeld am Existenzminimum wiederfinden werden. Ersparnisse müssen dann weitgehend aufgebraucht, Lebensversicherungen über der Bemessungsgrenze aufgelöst, größere Wohnungen gekündigt werden etc.

Wer aber soll unsere bisherigen sozialen Standards weiterhin bezahlen?

Mikeska: Natürlich wissen wir, daß eine Reform unseres Sozialsystems notwendig ist. Aber die Schieflage, die durch Hartz IV entsteht, ist einfach zu steil! Ich gebe zu, wir fühlen uns selbst oft ohnmächtig. Doch man muß sich klarmachen, daß die Reformpolitik derzeit davon "lebt", daß sich bislang nur sehr wenig Widerstand regt.

Das wird aber nicht so bleiben?

Mikeska: Bestimmt nicht. Derzeit funktioniert nach unseren Erfahrungen noch bei vielen das Prinzip der Verdrängung, nach dem Motto "Es wird schon nicht so schlimm werden" oder "Das können die doch nicht wirklich mit uns machen". Die Leute machen sich nicht bewußt, was ihnen bevorsteht! Wenn aber die ersten Bewilligungsbescheide ins Haus stehen, werden viele ganz bestimmt noch richtig munter werden!

Was meinen Sie damit genau?

Mikeska: Das wagt kaum jemand vorauszusagen, denn eine solche Situation hat es hierzulande seit der Weltwirtschaftskrise der zwanziger Jahre nicht mehr gegeben. Aufschlußreich sind aber gewisse Einzelaspekte, die derzeit zu beobachten sind. So wird zum Beispiel in Leipzig darüber diskutiert, den unsanierten Teil einer Plattenbausiedlung nicht abzureißen, weil man es für möglich hält, daß sich die heute verschmähte Wohnanlage in den nächsten Jahren mit Arbeitslosengeld-II-Empfängern wieder füllen könnte.

Kommt dann die neue Linkspartei, über die derzeit soviel spekuliert wird?

Mikeska: Nehmen Sie zum Beispiel die Gewerkschaften in Frankreich. Diese treten wesentlich vehementer auf als die unsrigen und kanalisieren damit den hochkochenden Volkszorn bis zu einem gewissen Grad. Da ein solch militantes Auftreten bei unseren Gewerkschaften absolut unüblich ist, ist bei uns in Deutschland die Gefahr in gewisser Hinsicht größer, daß die Wut irgendwann plötzlich aus dem Ruder läuft und sich in Form einer radikalen linken oder gar rechten Partei manifestiert. In Frankreich besetzen die Gewerkschaften zum Beispiel ohne weiteres auch mal eine Autobahn. Auch wir bekommen immer wieder solche radikalen Forderungen von der Basis, jedoch ist so etwas mit den deutschen Sozialverbänden nicht zu machen. Wird es aber einmal jemandem gelingen, künftig auch in Deutschland dieses Potential zu mobilisieren?

Geht die Existenz des Arbeitslosenverbandes Deutschland (ALV) nicht auch auf die Tatsache zurück, daß sich viele Arbeitslose von den Gewerkschaften nicht richtig vertreten fühlen?

Mikeska: Die Gewerkschaften reklamieren für sich den Alleinvertretungsanspruch für die Werktätigen, inklusive der Erwerbslosen. In der Tat empfinden sie den ALV daher in gewisser Weise als Konkurrenz. Der Zwiespalt, den sich die Gewerkschaften nicht eingestehen wollen, liegt darin, daß die Interessen von Erwerbstätigen und Erwerbslosen eben nicht immer identisch sind. Die Gewerkschaften vertreten de facto sozusagen einen privilegierten Teil der Gesellschaft, nämlich den, der Arbeit hat.

Allerdings gibt es auch für manchen Erwerbstätigen Grund, auf so manchen Erwerbslosen neidisch zu sein. So stehen einige Sozialhilfeempfänger dank Hartz IV sogar besser da als früher. Manche erhalten gar Leistungen, von denen viele Beschäftigte, speziell in den neuen Bundesländern, nur träumen können.

Mikeska: Wir sind nicht blauäugig, wir wissen, daß es auch Härten für Erwerbstätige und daß es auch unter den Arbeitslosen schwarze Schafe gibt.

Bisherige Arbeitslosenhilfebezieher treffen künftig vielleicht bei der Bundesagentur für Arbeit auf zugewanderte Großfamilien aus Asien oder Afrika, die ein Vielfaches an Arbeitslosengeld II beziehen.

Mikeska: Das ist der Tat ein Problem, denn auch darin steckt Potential für viel Frust bei den Leuten. Wie die Leute auf weitere Zuwanderung in dieser sich künftig verschärfenden Situation reagieren - auch darüber kann nur spekuliert werden.

Bis 2006 gelten noch dämpfende Übergangsregelungen für Hartz IV. Ein Bestechungsgeld, um die Bundestagswahl zu gewinnen?

Mikeska: Da sind Sie wohl nah an der Wahrheit. Aber das sind die üblichen Methoden aller Politiker.

Ist Hartz IV das Ende des 150jährigen deutschen Sozialstaates à la Bismarck?

Mikeska: Ich befürchte, Hartz IV ist noch nicht einmal das Ende. Die Arbeitgeberverbände haben schon signalisiert, daß sie noch mehr wollen - dann, befürchte ich, haben Sie recht. 

 

Rüdiger Mikeska: Der 55jährige Diplomgesellschaftswissenschaftler ist stellvertretender Bundesvorsitzender und Landesverbandschef in Sachsen des Arbeitslosenverbandes Deutschland (ALV).

 

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