© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/04 09. Juli 2004

"Wir sind als ein Volk gefordert"
Bundespräsident: In seiner Antrittsrede läßt Horst Köhler mit seinem Bekenntnis zu Patriotismus, Familie, Verantwortung und Freiheit aufhorchen
Doris Neujahr

Natürlich darf ein Bundespräsident mit seiner Antrittsrede nicht aus dem vorgegebenen Rahmen von Erwartungen, Ansprüchen, geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen fallen. Auch Horst Köhler hat das bei seiner Rede vergangenen Donnerstag im Bundestag nicht getan. Trotzdem hat er, auf zurückhaltende Weise, dafür um so nachdrücklicher, einige Akzente gesetzt, die in der Summe eine gesellschaftspolitische Wende nahelegen. Keine parfümierte Weizsäcker-Prosa also, die sich bei näherer Betrachtung ins Wesenlose verflüchtigt, keine flapsige Ruck-Rhetorik wie bei Roman Herzog, die unkonkret blieb und deshalb ins Leere ging. Auch kein Laienprediger-Ton wie bei Johannes Rau, dem es "um den einzelnen Menschen" ging, weil ihm zu Staat und Nation nichts Vernünftiges einfiel.

Köhlers überschwenglichen Dank an Johannes Rau, der ein echter "Bürgerpräsident" gewesen sei, darf man als Konvention verbuchen. Jeder weiß, daß Raus Wahl 1999 zum Bundespräsidenten die Antwort auf eine Frage war, die niemanden mehr interessierte - außer Rau selber. Aber wenn eine Präsidentschaft und mit ihr eine über fünfzigjährige Politikerkarierre zu Ende geht, dann darf man pietätvoll sein.

Köhler erläuterte zu Beginn seinen Ausspruch: "Ich liebe dieses Land", den er unmittelbar nach seiner Wahl geäußert hatte. Der Satz spielte auf den ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1969-1974) an, der gesagt hatte, nicht das Land, sondern nur seine Frau zu lieben - was immer das bei diesem steif daherkommenden Menschen bedeuten mochte. Der Satz gehörte seither zum Standardrepertoire sich aufgeklärt dünkender Bundesbürger und hat bizarre Blüten getrieben. Jan-Philipp Reemtsma zum Beispiel antwortete auf die Frage, ob er Deutschland liebe: "Halten Sie mich für nekrophil?" Was mag Köhler wohl von Reemtsma halten?

Worauf gründet sich diese Liebe? Köhler "Wenn ich dann auf die Landschaften, die Dialekte, die Literatur, die Musik verweise, dann sagen die Leute: ‚Ja, ja, das ist sicher richtig'", doch das könne ja nicht alles sein. Im Umkehrschluß bedeutet das: Es sind immerhin sehr wesentliche Gründe dafür. Früher wäre der Verweis auf Landschaft und Dialekte umgehend unter "Blut-und-Boden"-Verdacht geraten. Köhler repräsentiert anscheinend einen Gezeitenwechsel, der sich stillschweigend vollzogen hat. Er hat in der Rede auch die verengte historischen Perspektive aufgebrochen: "Unsere Geschichte ist gespickt mit ideenreichen Köpfen. Heute vor 358 Jahren wurde Gottfried Wilhelm Leibniz geboren." Leibniz ist der Erfinder des binären Zahlensystems, auf dem die moderne Computertechnik beruht. Es geschehen noch Wunder: Der oberste Repräsentant des Landes nennt als historische Bezugsfigur der Deutschen Gottfried Wilhelm Leibniz und nicht Adolf Hitler! Der Nationalsozialismus kommt bei Köhler nur indirekt vor. Er darf endlich Geschichte werden.

Das Ende der deutschen Selbstzerknirschung

"Unser Land sollte uns etwas wert sein", kann als ein Schlüsselsatz gelten. Darin steckt die Forderung nach einem Ende der deutschen Selbstzerknirschung, die zur Selbstverachtung geworden ist. Deutschland, wenn es wieder florieren soll, kann sich nicht länger auf eine im übrigen identitätslose Effizienzmaschine reduzieren, aus der jeder mit möglichst wenig Einsatz möglichst viel herausholt. Das Land, das uns "etwas wert" sein soll, trägt einen höheren Wert in sich selber. Für Köhler bedeutet Patriotismus viel mehr als der "Verfassungspatriotismus", der eine Gefühlsbindung an das eigene Land nur auf dem Umweg über Grundgesetz und Parteienstaat erlaubt.

Er betont die Dialektik zwischen einem positiven Selbstbild und der Fähigkeit, Verantwortung für sich und andere wahrzunehmen: Deutschland müsse ein Land sein, "das souverän ist und gleichzeitig weiß, daß es seine Partner dies- und jenseits des Atlantik braucht." Auch das ist neu in Deutschland: daß die Souveränität vor der Partnerschaft rangiert und diese nicht mehr "Einbindung" heißt. Souveränität ist die logische Voraussetzung von Partnerschaft.

Köhler tritt für Normalität ein. Er spricht die Partner in der Europäischen Union, die ohne Deutschland nicht gelingen kann, und in den USA an: "Vor wenigen Wochen wurden wir daran erinnert, daß andere Völker - im besonderen die Vereinigten Staaten von Amerika - dafür gekämpft haben, daß wir Deutsche in Freiheit leben können. Das sollten wir nie vergessen! Für mich ist Freiheit der wichtigste Wert, der Europa und Amerika dauerhaft verbindet. Und ich sehe Amerika weiterhin als Hort der Freiheit. Es ist wahr: Die Amerikaner haben ihre Fehler gemacht - wir Europäer die unseren. Klar ist für mich aber auch: Niemandem kann an einem Zerrbild Amerikas in der Welt gelegen sein."

Einiges davon gehört zur unvermeidlichen Feiertagslyrik. Haben die Amerikaner tatsächlich "dafür gekämpft (...), daß wir Deutsche in Freiheit leben können"? Zunächst einmal wollten sie einen Sieg über Deutschland erringen, und zwar einen "bedingungslosen"! Und über den "Hort der Freiheit" wird man sich im Irak oder in Lateinamerika seine eigenen Gedanken machen. Aber Köhler will und muß seinen Teil zur Verbesserung der deutsch-amerikanischen Beziehungen beitragen. Und bei aller Kritik an den USA: Sie sind ein Unterpfand der Sicherheit Europas, und aus der Distanz betrachtet sind die Differenzen zwar größer geworden, aber immer noch minimal. Andererseits: Wann hat ein deutsches Staatsoberhaupt gegenüber Washington den Schneid aufgebracht zu sagen: Ihr macht eure Fehler, und wir machen unsere? Köhler hat Deutschland zum Selbstbewußtsein gegenüber den USA auffordert: "Gemeinsame Werte und gemeinsame Interessen - das trägt mehr und weiter als nur Dankbarkeit." Die Zeit, in der Deutschland seine außenpolitische Orientierung von Care-Paketen und Luftbrücken-Rhetorik herleitete, ist vorbei. Auch das ist ein Schritt aus dem Schatten der Geschichte.

Zu Europa sagte Köhler: "Aber es muß uns nachdenklich stimmen, daß kaum mehr als vier von zehn Deutschen bei der diesjährigen Europawahl wählen gingen. Zu viele Bürger verstehen Europa nicht. Lassen Sie uns gemeinsam Europa besser erklären." Einspruch, Herr Bundespräsident! Das ist eine ziemlich paternalistische Haltung gegenüber den Bürgern, die - angeblich - zu dumm sind, um die - angeblich - gute und richtige Politik zu verstehen. Könnte das aktuelle Desinteresse nicht auch an der Qualität der Politik und der Politiker liegen?

In Deutschland, zumindest in Westdeutschland, gibt es eine sentimentale Neigung zu Europa, die sich nicht zuletzt aus dem Wissen speist, daß erst die EU bzw. ihre Vorläufer es der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglicht haben, in Maßen eine nationale Interessenpolitik zu betreiben. Wenn die Deutschen sich den Europawahlen jetzt massiv verweigert haben, sollte man ihnen eine sehr bewußte, hochpolitische Entscheidung zubilligen! Den Bürgern fehlt es nicht an bunten Informationskampagnen, sondern sie zweifeln an Inhalt und Legitimität der Europapolitik.

Die unkontrollierbare Machtakkumulation in Brüssel, die fehlende Transparenz, der wohlbegründete Eindruck, daß die deutsche Parteienoligarchie die Delegierung von Verantwortung nach Brüssel ganz recht ist, weil sich dadurch ihr Versagen in Berlin kaschieren läßt und sie nicht mehr haftbar gemacht werden kann - das alles hat zum Protest und Legitimitätsentzug geführt. In dieser Frage ist Köhler möglicherweise selber befangen. Schließlich hat er am Maastricht-Vertrag und der Einführung des Euro mitgearbeitet, die in Deutschland jenseits des Demokratieprinzips durchgesetzt wurde.

Etwas zu kurz gekommen ist die akute Vertrauenskrise gegenüber den Eliten des Landes, und zwar nicht nur den politischen. Immerhin sagte der Präsident: "Ich wünsche mir, daß Führungspersönlichkeiten der Wirtschaft gerade heute eine Kultur der Verantwortung und der Mäßigung vorleben."

Eindeutig, ja alarmierend seine Worte zur wirtschaftlichen und sozialen Lage des Landes: "Wir können uns trotz aller Wahlen kein einziges verlorenes Jahr für die Erneuerung Deutschlands mehr leisten. Wir brauchen den Mut der Bundesregierung zu Initiativen, die den Weg der Erneuerung konsequent fortschreiben. Und wir brauchen den Mut der Opposition, ihre Alternativen umfassend und vollständig klarzumachen." Mit dieser Aussage hat er sich auf eine politische Präsidentschaft festgelegt und eine Parteienkritik an ihren Anfang und nicht erst - wie Weizsäcker - an ihr Ende gestellt.

"Ein weiterer Grund, warum wir uns mit Erneuerung in Deutschland so schwertun, ist die Angst zu scheitern." In der Tat, "Angst" ist ein aktueller deutscher Schlüsselbegriff. Köhler, der jahrelange Auslandserfahrung hat, ist nicht verborgen geblieben, daß die "German angst" als typisch deutsche Eigenschaft wahrgenommen wird. Dieses Problem sollte er in künftigen Reden noch vertiefen. Wurzelt diese Angst nicht in einem schiefen kollektiven Selbstbild? Wie soll ein Volk, dem durch Daniel J. Goldhagen unter dem Jubel der staatstragenden Medien verkündet wurde, daß ihm das Verbrechertum in den Genen liege, noch Vertrauen in seine Kraft und Möglichkeiten finden?

Aber Köhler will auch Positives erkennen: "In Leipzig wurde Neues, Großartiges angepackt. Leipzig wagte, mit Städten wie New York, London oder Paris in Wettbewerb zu treten. Dieser Mut verdient Respekt. Es hat am Ende nicht gereicht. Aber ich bin mir sicher: Diese Erfahrung wird die Leipziger und Rostocker stärker machen."

Der Bundespräsident wollte den Bürgern in den neuen Ländern etwas Nettes und Ermutigendes sagen, nur hat er ein ungeeignetes Beispiel gewählt. Die Olympia-Bewerbung Leipzigs gegen die drei Weltmetropolen war keine mutige, nicht einmal eine größenwahnsinnige, sondern eine provinzielle Angelegenheit. Die Nominierung der "Heldenstadt" Leipzig durch das deutsche NOK (anstelle von Hamburg, der zweitplazierten Stadt) folgte derselben Logik wie die Zuweisung der vergeudeten Transferzahlungen. Die Mitteldeutschen, um ihre gefühlte oder tatsächliche Zurücksetzung zu kompensieren, bringen ihr moralisches Erpressungspotential in Stellung, und die Westdeutschen geben mit einer Mischung aus Unkenntnis, Desinteresse und schlechtem Gewissen nach, um sich mit den Problemen des anderen Teils Deutschlands nicht beschäftigen zu müssen. Statt deutsch-deutscher Dialoge, in denen über das gemeinsame Wohl des Landes verhandelt wird und beide Seiten wachsen, gibt es Gespräche unter Taubstummen. Man darf gespannt sein, welche Anstöße Köhler für eine deutsch-deutsche Diskussionskultur auf Augenhöhe geben wird.

Archetypische Grundlagen von Nation und Staat

"Wir brauchen ein Bildungswesen, das Leistung fördert, Freude am Lernen vermittelt und selbst als lernendes System kreativ und entwicklungsfähig ist. Wer vor dem Senatssaal der Berliner Humboldt-Universität auf die Bilder der 29 Nobelpreisträger blickt, die allein diese Universität hervorgebracht hat, bekommt eine Vorstellung davon, zu welchen Leistungen unser Land einmal imstande war - und was zugleich auf dem Spiel steht." Das ist eine vernichtende Kritik an den durch eine dreißigjährige, linksdrehende "Reformpolitik" zugrunde gerichteten deutschen Universitäten.

"Kinder sind die einzig unkündbare Beziehung. Deshalb kommt es darauf an, daß die Eltern ihrem Erziehungsauftrag gerecht werden. Und das heißt vor allem: Sie müssen Vorbild sein." Das heißt: Die "Selbstverwirklichung" bleibt kümmerlich, ja führt zur Selbstzerstörung, wenn sie nicht durch Verantwortung, Selbstverantwortung und ein generatives Bewußtsein ergänzt wird. "Ohne Kinder hat unser Land keine Zukunft. Daher ist es so wichtig, daß Deutschland als Land der Ideen vor allem ein Land für Kinder wird. Wir müssen zu einem Land werden, in dem wir nicht zulassen, daß Kinder verwahrlosen. In dem es kein Schild mehr gibt mit der Aufschrift 'Spielen verboten'. In dem Kinderlärm kein Grund für Gerichtsurteile ist." Das Bekenntnis zur Familie wurde allzu lange mit Lebensborn und Mutterkreuz assoziiert. 1994 haben vergleichbare Äußerungen den CDU-Kandidaten Steffen Heitmann die Kandidatur und beinahe den Kopf gekostet. Um es noch deutlicher zu sagen: Es gibt archetypische Grundlagen, die für stabile Verhältnisse in Nation, Staat und Gesellschaft unerläßlich sind.

"Einen besonderen Appell möchte ich an die jungen Menschen in Deutschland richten. Das 21. Jahrhundert ist Euer, ist Ihr Jahrhundert! Bei der Erneuerung Deutschlands geht es vor allem um Ihre Zukunft. Es geht um Ihre Ideen, Ihren Einsatz." Erneuerung heißt aber nicht bloß, alte Zöpfe abzuschneiden, es heißt auch, zu lange geschmähten, doch unverzichtbaren Werten zurückzukehren: "Wir sind als ein Volk gefordert!" sagte der Präsident: "Dazu brauchen wir zugleich mehr Freiheit und mehr Gemeinschaft."

Da werden die gescheiterten deutschen Sozialingenieure aufheulen: Freiheit realisiert sich zuerst im Bezug auf Volk und Gemeinschaft, denn sie bilden die organischen Grundlagen für Staat und Gesellschaft. Mit dieser Rede läßt sich etwas anfangen.

Foto: Horst Köhler: Es gibt wieder mehr als Verfassungspatriotismus


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