© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/04 09. Juli 2004

Pankraz,
Tschechow und der Tod eines Beamten

Anton Tschechows hundertster Todestag am 15. Juli steht an, und Pankraz freut sich auf die zu erwartenden Gedenkartikel, die gewiß viel Interessantes und Einfühlsames über diesen großartigen Autor mitteilen werden. Leider steht zu erwarten, daß man sich - wieder einmal - fast ganz auf die Feier der späten Dramen konzentrieren wird, "Möwe", "Onkel Wanja", "Drei Schwestern", "Kirschgarten", und daß der Geschichtenschreiber darüber zu kurz kommt.

Das wäre ungerecht, schon deshalb, weil Tschechow in seinem kurzen Leben (1860 bis 1904) ganz überwiegend ein Geschichtenschreiber gewesen ist, und zwar ein Kurzgeschichtenschreiber, ein Zeitungsgeschichtenschreiber. Er schrieb "Humoresken" und "Stimmungsbilder" und bot sie den Sonntagsbeilagen diverser Zeitungen an, davon lebte er, seitdem er nicht mehr als Arzt praktizierte, und er lebte gut davon.

Seine Sachen wurden trotzdem lange weit unter Wert verbucht. "Humoresken", "Stimmungsbilder": Dafür gab es in der russischen Presse zu Tschechows Zeit schon eine stabile Tradition. Die Matadore des Genres hießen Gorbunow, Grigorowitsch, Lejkin, und was sie ablieferten, war allenfalls zweite Wahl, gut zu lesen, aber harmlos. In Tschechows Geschichten hingegen ging es keineswegs harmlos zu. Der Humor bekam schwere Schlagseite, offenbarte doppelten und dreifachen Boden, wenn er nicht gar zur Rutschbahn ins Bodenlose wurde.

"Tod eines Beamten", eine absolute Lieblingsgeschichte von Pankraz, gibt dafür das Modell. Sie handelt von einem Beamten vierter Klasse in St. Petersburg, der im Konzert plötzlich niesen muß. Hapdschi! Und der Herr in der Reihe vor ihm, der offenbar von dem feinen Sprühregen spürbar etwas abbekommen hat, wendet sich unwillig um und wischt sich außerdem mit dem Taschentuch kurz den feisten Nacken. Da erkennt Iwan Iwanowitsch, der Beamte vierter Klasse, wen er in seinem unseligen Drang unabsichtlich angeniest hat: Es ist Alexander Alexandrowitsch, sein höchster Vorgesetzter im Amt, ein riesenhaftes Tier in der Staatshierarchie, ein Großbakschisch-Einnehmer allerersten Ranges!

Iwan Iwanowitsch ist entsetzt, von Panik erfüllt, am Boden zerstört. Jetzt gibt es für ihn nur noch ein einziges Ziel: sich entschuldigen. Flüsternd teilt er dem vor ihm sitzenden Obergeneral sein tiefstes Bedauern mit, doch der würdigt ihn nur eines knappen Blickes und widmet sich weiter dem Konzert. Hat er die Entschuldigung angenommen? Hat der Gewaltige dem Iwan Iwanowitsch verziehen? Nein, offenbar nicht.

Bei Anbruch der Pause, beim Verlassen der Reihen, schlängelt sich Iwan Iwanowitssch wieder an Alexander Alexandrowitsch heran, um ihm noch einmal seines tiefsten Bedauerns zu versichern. "Exzellenz mögen untertänigst verzeihen, daß ich Ihro Gnaden vorhin benäßt habe. Es lag nicht in meiner Absicht, ich bin aufs Äußerste bekümmert darüber, ich versichere Sie meiner vollsten Ergebenheit." "Ja, ja, ist schon gut", sagt die Exzellenz, dem Anschein nach etwas erstaunt und befremdet. Also wieder ein Fehlschlag!

Nach Ende des Konzerts drängelt sich Iwan Iwanowitsch zu der Kutsche vor, in die der General einsteigt, um nach Hause in seine Residenz zu fahren. Bevor der Diener die Kutschentür zuschlägt, ruft Iwan Iwanowitsch noch einmal zu dem bereits im Fond sitzenden Gewaltigen empor: "Exzellenz, ich habe Ihro Gnaden während des Konzerts benäßt. Es tut mir unendlich leid. Ich bitte Ihro Gnaden alleruntertänigst um Verzeihung." Doch die Tür klappt zu, und der Casus bleibt unausgeräumt, vulgo: unbewältigt, das Verhängnis wabert weiter über Iwan Iwanowitsch!

Unruhig und schlaflos verbringt er die Nacht und meldet sich am nächsten Tag zur Audienz beim General an, reiht sich für eine lange Wartezeit in die Schlange der übrigen Klienten ein, obwohl er an sich in seinem Büro sitzen müßte, wird schließlich tatsächlich vorgelassen und tritt dem Gewaltigen erneut gegenüber. "Exzellenz, benäßt, Ihro Gnaden, Verzeihung, untertänigst, Entschuldigung, größte Bekümmerung..."

Doch da platzt (wer könnte es nicht verstehen?) der Exzellenz der Kragen, und sie wird richtig zornig. "Was soll das denn? Wer sind Sie denn? Was wollen Sie eigentlich? Behelligen Sie mich nicht fürderhin mit Ihren albernen Auftritten! Verlassen Sie unverzüglich diesen Raum und dieses Haus!"

Nun, um es abzuschließen und potentiellen Lesern die Pointen nicht zu mindern: Iwan Iwanowitsch kann es nicht lassen. Auch nach dem Hinauswurf versucht er unermüdlich, an die Exzellenz heranzukommen und ihr seine Entschuldigung zu entbieten. Er lebt nur noch für die Entschuldigung. Er verliert darüber seine Stellung, sein letztes bißchen bürgerliche Reputation, und schließlich kommt der Tod über ihn. Und bis zum letzten Atemzug versichert er: "Exzellenz, benäßt, Verzeihung, alleruntertänigst, Entschuldigung, Ihro Gnaden zu Diensten ..."

So also sahen die Tschechowschen Humoresken und Stimmungsbilder aus. Natürlich war da Humor, aber es war gewissermaßen ein Humor am lebenden Objekt, ein Todeshumor. Jeder Tod ist komisch, zeigt Tschechow, andererseits hat jede Komik, auch die scheinbar harmloseste und angenehm stimmungsvollste, eine schwarze Unterseite.

Wohlgemerkt: Anton Tschechow produzierte nie das, was wir inzwischen "Schwarzen Humor" nennen, kein frivoles Spiel mit eigentlich tragischen Zuständen. Tschechow spielte nicht, dazu war er (als Arzt und früh dem Tod geweihter Tuberkulose-Patient) viel zu sehr Realist. Die komischen Geschichten, die er erfand, waren stets Realgeschichten, man kann an ihnen keinen seichten Spaß haben, muß viel eher Trauer über sie empfinden. An der Herstellung der Synthese von Komik und Trauer bewährte sich Anton Tschechows literarisches Genie.


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