© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/04 16. Juli 2004

Autonomie ist nur die halbe Wahrheit
Medizin: Mit zunehmendem Einfluß der Patientenverfügungen bürgert sich die passive Sterbehilfe in Deutschland ein
Angelika Willig

Nur wenige Autostunden von uns entfernt ist die passive und in Einzelfällen auch die aktive Sterbehilfe zum selbstverständlichen Teil der medizinischen Versorgung geworden. Seltsamerweise wird diese Tatsache in Deutschland beinahe ohne Protest hingenommen. Zwar lehnt es der Bundestag weiterhin ab, ein entsprechendes Gesetz auch nur zu diskutieren, und auch in den großen Medien findet man kaum Zustimmung zur Praxis in der Schweiz und den Niederlanden. Doch die obligatorische Empörung und Entrüstung über ethische Verstöße, wo immer sie in der Welt auftauchen, bleibt diesmal aus. Offenbar sind die Deutschen der Meinung, in den traditionell liberalen Staaten sei eine Legalisierung der Sterbehilfe in Ordnung oder zumindest akzeptabel, in Deutschland hingegen käme sie einem "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" gleich.

Diese Sichtweise scheint zunächst nur dem leidigen Schuldkomplex und der NS-Fixierung deutscher Intellektueller zu entspringen. Die niederländische Diskussion, die sich über Jahrzehnte hingezogen hat, führte für die Sterbehilfe stets den Wert der persönlichen Autonomie ins Feld. Da eine individuelle Selbstbestimmung in westlichen Gesellschaften der oberste Wert ist, mußte diese Argumentation irgendwann zum Ziel führen.

Dramatische Szenen am Krankenbett

Auch in Deutschland steht der Autonomieanspruch im Raum. Seitdem die sogenannten Patientenverfügungen (PV) zunehmend in Kliniken auftauchen, ist zumindest der medizinische Bereich gezwungen, eine verbindliche Haltung zu entwickeln. Das Ausfüllen einer Patientenverfügung ist die ausdrückliche Forderung des einzelnen nach einem selbstbestimmten Ende. Das Formular, das in verschiedenen Versionen in Umlauf ist, enthält detaillierte Angaben darüber, welche medizinische Behandlung der Unterzeichnende wünscht oder untersagt für den Fall, daß er durch Krankheit gehindert sein sollte, sich direkt zu äußern. Hinterlegt wird das Papier in der Handtasche, beim nächsten Angehörigen oder auch bei der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben (DGHS), die notfalls juristisch den Willen des Patienten durchsetzen kann. Oft reicht es aber schon, mit derlei Konsequenzen zu drohen, um die Ärzte von ihrer Selbstherrlichkeit abzubringen.

So hat letzte Woche am Klinikum Göttingen der Sohn und Betreuer einer 65jährigen komatösen Patientin das Beenden der künstlichen Beatmung unter Einschaltung der DGHS und durch Androhung einer Veröffentlichung relativ schnell erreicht. Dem zuständigen Oberarzt wurde ein finanzielles Interesse an sinnlos gewordenen Untersuchungen der Privatpatientin vorgeworfen. Um das von sich zu weisen, hatte sich der Mediziner nicht gescheut, die Angehörigen der Lieblosigkeit und sogar einer "Euthanasie-Gesinnung" zu verdächtigen. Doch das sind Rückzugsgefechte. Nach mehrtägigem Druck ließ der Arzt die Patientin wegen eines "deutlich verschlechterten Befunds" doch sterben - nicht ohne Hinweis darauf, daß "Patientenverfügungen in unserer Klinik sehr ernst genommen werden". Man kann nur darüber spekulieren, wie weit sich der Zustand der Patientin tatsächlich verändert hat, oder ob die Klinik zu der Erkenntnis kam, daß gegen den erklärten Willen von Patienten schon heute keine Behandlung mehr durchzusetzen ist.

In der Praxis sind die PV auf dem Vormarsch. Ihre ethische Akzeptanz ist jedoch schwankend. Gerade Konservative wie die "Christdemokraten für das Leben" lehnen ein solches Verfahren prinzipiell ab. Zu begründen sind diese Vorbehalte nur schwer. Denn selbst kirchliche Stellen wagen es heute nicht mehr, den "Selbstmord" per se als Sünde zu brandmarken und dem einzelnen die religiöse Verpflichtung aufzuerlegen, sein Leiden bis zum Ende in Geduld und Gottergebenheit zu tragen.

Das Recht auf ein selbstbestimmtes Ende läßt sich innerhalb des modernen Wertesystems kaum bestreiten. Daher wird von Sterbehilfe-Gegnern mit Vorliebe das Argument des Mißbrauchs herangezogen. Zunächst wird dabei behauptet, daß es einen autonomen Sterbewunsch in Wirklichkeit gar nicht gebe. Wer sterben möchte, sei demnach entweder seelisch krank und leide zum Beispiel an einer schweren Depression, oder man habe ihn von seiten der Verwandtschaft, der Ärzte oder der Gesellschaft insgesamt unter Druck gesetzt. So läßt sich gegen Sterbehilfe opponieren, ohne die freiheitlichen Grundsätze unserer Gesellschaft zu verlassen und sich dem Vorwurf des religiösen Dogmatismus auszusetzen.

Das Mißbrauchsargument hat jedoch etwas von Heuchelei an sich. Denn auf wie vielen Gebieten riskieren wir der persönlichen Freiheit zuliebe durchaus unschuldige Todesopfer. Auch bei großzügiger Schätzung werden die Fälle, in denen unter dem Vorwand der Sterbehilfe aus Habgier gemordet wird, weit unter den Verkehrstoten und sogar unter der Zahl der Opfer ärztlicher Kunstfehler liegen. Im Grunde fürchtet der Lebensschützer nicht, daß Menschen gegen ihren Willen getötet werden, sondern im Gegenteil: er fürchtet das Gelingen der Sterbehilfe und die Zufriedenheit im Hinblick auf einen durch die Patientenverfügung geregelten leichten und schmerzlosen Tod. Denn diese Ruhe und Heiterkeit im Angesicht des Endes sollte es nach religiösen Maßstäben nur durch einen starken Glauben geben und nicht etwa durch juristische und medizinische Vorsorge.

Jenseits konservativer Argumentationsstrategie steckt in dem Einwand aber auch der wichtige Hinweis auf eine Beeinflußbarkeit des einzelnen, die man nicht leugnen kann. So ist die superliberale Autonomie-Position in dieser Einseitigkeit gleichfalls verlogen. Der Fall eines als Sterbehilfe getarnten Mordes mag unwahrscheinlich sein. Doch ohne Frage hat das allgemeine gesellschaftliche Klima sowie die soziale Ausstattung einen Einfluß auf jede individuelle Entscheidung - auch die über Leben und Tod. Die gerühmte Selbstbestimmung findet nicht im luftleeren Raum statt. Selbstverständlich fördert das unüberhörbare Gerede von der "Rentnerschwemme" die Bereitschaft der Betroffenen, "nicht länger zur Last zu fallen". Und selbstverständlich verstärken auch die Zustände in vielen Pflegeheimen den Wunsch der ohnehin pharmakologisch sedierten Bewohner, "nicht wieder aufzuwachen".

Soziale Dimension von Sterbehilfe nicht aussparen

Bis vor kurzem haben Befürworter dazu geneigt, diesen gesellschaftspolitischen Aspekt eher auszusparen, um gar nicht erst in den Verdacht einer totalitären Euthanasie zu geraten. Inzwischen aber hat die Ehrlichkeit auch hier erfreulich zugenommen: "Wenn Patienten ihre Wertentscheidung dahingehend treffen, daß sie Dritten nicht zur Last fallen wollen oder sie selbst nicht in voller Abhängigkeit von anderen leben wollen, so ist dies keineswegs zu beanstanden", heißt es in der DGHS-Vereinszeitschrift. Damit ist der Mißbrauchsverdacht besser pariert als mit einer einfachen Leugnung des sozialen Motivs. Die Beschwörung einer einsam-existenzialistischen "Freiheit zum Tode" ist ebenso unangebracht wie die falschen Versprechungen über mehr Personal, mehr Zuwendung, mehr Komfort für Pflegeeinrichtungen, die schon auf niedrigstem Niveau kaum mehr zu finanzieren sind. Solche Reflexionen sind zwar unangenehm, gehören aber unbedingt in die Debatte hinein. Dann könnte Deutschland auf die Dauer sogar ein durchdachtes und vernünftigeres Gesetz entwickeln als seine voreiligen Nachbarn.

Einen ganz anderen Ländervergleich hat der Ethnologe John Koty schon vor einem halben Jahrhundert gezogen. Ausführlich untersucht er die "Behandlung der Alten und Kranken bei den Naturvölkern". Bis heute wird allgemein der Eindruck erweckt, als ob uns nur das christlich-abendländische Erbe vor einem technisch verbrämten Rückfall in die Barbarei bewahren könne. Ohne Nachprüfung nimmt man an, daß archaische Gesellschaften ihre Schwachen und Kranken mitleidlos ausgesetzt oder ausgemerzt hätten, wie es von Sparta verlautet. Der Völkerkundler berichtet jedoch das Entgegengesetzte: "Schon ein kurzer Streifzug läßt uns die Überzeugung gewinnen, daß die ungünstige Haltung gegen die Alten und Kranken kein besonderes Merkmal der Naturvölker sei." Von vielen Volksstämmen werden in seinem Buch geradezu rührende Beweise der Anhänglichkeit und Achtung für die Schwachen geschildert.

Die verbreitete Vorstellung vom "Dammbruch" setzt eine mühsam gebändigte Brutalität gegenüber Schwächeren voraus, die ausbricht, sobald das Tabu einmal verletzt ist. Diese natürliche Brutalität gibt es nicht. Der Respekt vor dem Alter ist im Menschen offenbar tief verankert. Er hängt sicherlich mit der besonderen Lernfähigkeit und Überlieferungsfreudigkeit unserer Spezies zusammen. Der Mensch weiß, daß ein körperlich Schwacher mit entsprechendem Wissen und Erfahrung viele Muskelprotze an Wert übertrifft. Auch die menschliche Individualität sorgt dafür, daß geliebte Einzelpersonen unersetzbar und auch im geschwächten Zustand noch geschätzt sind.

Die latente Feindseligkeit gegenüber dem Alter ist eine eher neue Erscheinung. Sie gründet sich vor allem auf die Negativaspekte der modernen Medizin. Das Positive ist eine hohe Lebenserwartung mit lange erhaltener Leistungs- und Genußfähigkeit. Der Preis dafür ist die zunehmende Unfähigkeit zum Sterben. Damit ist nicht die fehlende Jenseitshoffnung gemeint, sondern der schwierige "Wechsel des Therapieziels", wie die Ärztekammer es neuerdings nennt. Gemeint ist eine bewußte Wendung von der Stärkung und Erhaltung des Organismus zu seiner möglichst schonenden Stillegung. Schon Jahre und Jahrzehnte vor dem Eintritt in die letzte Lebensphase sind die meisten Menschen heute auf ständige medizinische Betreuung angewiesen. Ein "gesunder" Sechzigjähriger nimmt heute jeden Tag eine Batterie von Tabletten ein, sonst wäre er wahrscheinlich tot. Diese Art der Lebenserhaltung wird allgemein als sinnvoll empfunden. Irgendwann ist es aber so weit, daß die Aufrechterhaltung des Organismus nicht mehr der Möglichkeit des individuellen Lebens dient, sondern sich in sich selbst verbeißt. Dieser Zeitpunkt kann plötzlich eintreten, aber auch ganz allmählich. Es kommt der Zeitpunkt, wo das Sterben irgendwie "durchgeführt" werden muß. Man mag das bedauern, aber "ganz von selbst" werden in Zukunft immer weniger Menschen sterben. Sie sind in eine totale Therapie eingebunden, die nicht selbständig aufhört, sondern bewußt abgebrochen werden muß.

Reflektiert die Medizin ihr Therapieziel nicht immer neu und behandelt einfach in einer Richtung weiter, dann steht am Ende der Zustand des Hirntoten, dessen Stoffwechsel durch die Herz-Lungen-Maschine über Jahrzehnte aufrecht erhalten werden kann. Wer etwas Science Fiction wagt, kann sich eine medizinische Entwicklung vorstellen, nach der ohne entsprechende Abschaltung überhaupt niemand mehr stirbt und die Menschen rein technisch über Jahrhunderte in einem unheimlichen Zwischenzustand gehalten werden könnten. Und wer es für das Recht des Menschen hält, sein Leben technisch mit allen möglichen Mitteln zu verlängern, kann sich beim Sterben nicht mehr unbedingt auf Gott verlassen.

Foto: "Gerätemedizin" beim Patienten auf einer Intensivstation: Es kommt der Zeitpunkt, wo das Sterben irgendwie "durchgeführt" werden muß


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