© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/04 16. Juli 2004

Wenn einer mit der Pistole herumfuchtelt
Recht und Ordnung, Moral und Gnade: Der Kinofilm "Muxmäuschenstill" wirft grundsätzliche Fragen auf
Günter Zehm

Ein russisches Sprichwort sagt: "Aus einem großen Wald kommen große Tiere heraus, aus einem kleinen Wald kommen kleine Tiere heraus." Die Welt des deutschen Films ist klein seit langem, winzig klein. Und deshalb kommen aus ihr auch nur noch winzig kleine Filme heraus, mäuschenkleine. Der Film "Muxmäuschenstill", der die (deutschen) Kritiker zur Zeit in Begeisterungsstürme ausbrechen läßt und auf (deutschen) Filmfestivals schon etliche Preise eingeheimst hat, ist eine solche Maus. Man brauchte an sich kein Wort über ihn zu verlieren.

Aber da ist sein Thema: Gesetzestreue, Selbstjustiz, "Ein Mann sieht rot". Was haben Literatur und Kino nicht schon alles daraus gemacht! Robin Hood, Michael Kohlhaas, High Noon, Taxi Driver... Daß auf der einen Seite das eherne Gesetz aufgerichtet ist und auf der anderen die lebendigen Menschen krabbeln, die sich irgendwie durchwursteln und dabei dauernd gegen das Gesetz verstoßen, mal mehr, mal weniger, das treibt gerade Gerechtigkeitsfanatiker in die Empörung, in die Tat - und in den Untergang. Es ist eines der größten künstlerischen Themen überhaupt und ein eminent philosophisches dazu.

Der Film "Muxmäuschenstill" nun ist nicht einmal eine Karikatur auf das Genre, höchstens eine Karikatur auf sich selbst. Seine Macher (Regie: Marcus Mittermeier, Drehbuch und Hauptdarsteller: Jan Henrik Stahlberg) wußten nicht einmal, ob sie eine Tragödie drehen wollten, eine Komödie oder eine Tragikomödie. Herausgekommen ist eine Art Studenten-Kabarett der untersten Preisklasse ("Realsatire" nennen sie es), absurd-dümmlich in der Handlung, plump in den Dialogen, unfähig zur Zuspitzung von Konflikten, zudem unglaublich miserabel abgelichtet. Endbewertung: Vier minus bis fünf plus. Man kann gut verstehen, daß die Filmförderung sich weigerte, Mittel zuzuschießen.

Der Protagonist des Streifens, eben der Herr Mux, ein verkrachter Philosophiestudent, der ein bißchen Kant gelesen und ihn prompt mißverstanden hat, betätigt sich - das ist der Plot - freischaffend als "Hausbeauftragter" (vulgo Blockwart), als Verkehrspolizist und Kaufhausdetektiv. Er raunzt die Leute an, wenn sie ihren Kinderwagen auf dem Parkplatz für Behinderte abstellen, zwingt Mädchen, die Hinterlassenschaft ihres Hundes vom Bürgersteig aufzulesen, kassiert Strafgebühren für zu schnelles Fahren, maßt sich dauernd Amtsgewalt an und fuchtelt mit einer großkalibrigen Pistole in der Luft herum, als befinde er sich im Wilden Westen. Dabei glaubt er, nicht nur das Problem der Kleinkriminalität zu lösen, sondern gleich auch noch das Problem der Arbeitslosigkeit. Wenn alle penibel die Gesetze einhalten, so seine Überzeugung, gibt es sehr bald auch genügend Arbeit für alle.

Als "Erzieher" auf der linken Autobahnspur

Die teilweise begeisterte Kritik hat zum Lob des Ganzen die üblichen Versatzstücke ausgepackt: "Beklemmende Darstellung faschistischer Verhaltensweisen", "faschistoide Utopie" usw. Solches Echo ist zwar dem Film "Muxmäuschenstill" angemessen, nicht aber dem Thema "Gerechtigkeit und Selbstjustiz". Man muß schon zu Charles Bronson und Heinrich von Kleist gehen, um einen Begriff von der Sache zu bekommen. Dann fällt es bald ziemlich schwer, den Hinweis von Staatsrechtlern widerspruchslos zu schlucken, daß wir nun einmal in zivilisierten Verhältnissen lebten und daß es dort einzig der Staat und seine bestallten Diener seien, die für Einhaltung von Recht und Gesetz sorgen dürfen; wer das nicht akzeptiere und zur Selbstjustiz greife, verstoße von vornherein selber gegen das Gesetz und mache sich zum Outlaw, zum Gesetzlosen.

Ist denn der Staat immer und automatisch auf der Seite des Rechts? Symbolisieren die Gesetze wirklich stets das, was Recht ist? Und selbst im Falle einer weisen, wohlabgewogenen und von den meisten akzeptierbaren Gesetzgebung: Können denn Staatsdiener, die auch noch unkorrumpiert und tüchtig sind, wirklich jederzeit und überall das geltende Recht durchsetzen? Gibt es nicht Gegenden und Situationen, wo der Staat und seine unkorrumpierten, tüchtigen Diener ganz fern sind und jeder wackere Mann aus purer Notwendigkeit wenn nicht zum Gesetzlosen, so doch zum selbsternannten Gesetzeshüter und Hilfssheriff werden muß?

Und dabei ist das eigentliche Kernproblem noch gar nicht angesprochen. Es liegt in der naturgegebenen Unzulänglichkeit des Gesetzes selbst, jedes Gesetzes, auch des weisesten und gerechtesten. Das reale Leben kann gar nicht voll von Gesetzen abgedeckt werden, weder quantitativ noch qualitativ-funktionell. Wenn sich zum Beispiel jeder Verkehrsteilnehmer während der Stoßzeiten im Berufsverkehr strikt ganz im Stile des Herrn Mux an die Straßenverkehrsordnung (StVO) hielte, ohne den geringsten Blick für die konkrete Situation, ohne Rücksicht auf momentane Beschleunigungen und kleine Durchstechereien, bräche der Verkehr sofort und dauerhaft zusammen. Und was für die StVO gilt, gilt für jedes andere Gesetzeswerk genauso.

Alle wissen das und handeln danach, auch wenn sie in der überwältigenden Mehrheit durchaus gesetzestreu und staatsloyal sind. Gerade in den kleinen, unspektakulären Alltagsfällen, um die es dem Film "Muxmäuschenstill" und seinem Protagonisten ja geht, sind die Grenzen zwischen Gesetzestreue und Gesetzesübertretung notwendig fließend. Jeder von uns windet sich durch auf einem "Niveau mittlerer Tugendhaftigkeit", wie Arnold Gehlen das genannt hat, und jeder trägt seine eiserne Ration von Flunkerei und Augenzudrückerei im Alltagstornister. Ohne sie käme er nicht durch, und auch das wissen alle und nehmen es hin.

Bis auf Herrn Mux eben, den Tugendbold mit der Kant-Lektüre im Stirnlappen und der Walter PPK in der nervösen Faust. Er gehört zu jenen "Erziehern", die sich auf der Autobahn, wo man nur achtzig fahren darf und wo alle, zumindest auf der Überholspur, hundert fahren, absichtlich auf die linke Spur begibt und dort eisern achtzig hält, auch wenn alle Fahrer hinter ihm fluchen und ihm einen Vogel zeigen. Er kommt sich dabei hochmoralisch vor, aber genau betrachtet ist er es, der die Moral verletzt - indem er "das Gesetz einhält".

Warum Michael Kohlhaas so fürchterlich wurde

Das Nachdenken, das hier angebracht ist, reicht in metaphysische, religiöse Dimensionen. Das Gesetz allein, so notwendig und ehrwürdig es ist, reicht nicht, um ein humanes, gerechtes oder auch nur erträgliches Leben zu ermöglichen. Es muß etwas hinzutreten, etwas, das bei den Christen "Gnade" heißt und von ihnen zu einem Zentralpunkt ihrer Verkündigung, neben der Lehre von Gesetz und Gerechtigkeit, erhoben worden ist. Die Gnade kommt von Gott, doch auch Menschen können gnädig sein, und sie können es nicht nur, sie müssen es wohl sogar, sind auf jeden Fall gut beraten, wenn sie gnädig miteinander umgehen.

Wer das ignoriert, aus welchen Gründen auch immer, und seien es die gerechtesten, wird über kurz oder lang zur fürchterlichen Figur, wie es dem Michael Kohlhaas wiederfuhr oder dem Mann, der rot sah. Herr Mux allerdings gehört nicht in diese Klasse. Er ist nicht einmal komisch, er müßte, um sich nicht zu blamieren, muxmäuschenstill sein.

Foto: Mux (Jan Henrik Stahlberg) und der Beckenpinkler: Wieder ist ein kleiner Sünder gestellt


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