© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/04 23. Juli / 30. Juli 2004

"Tagelanges Anstehen vor den Konsulaten"
Interview: Der frühere ukrainische Außenminister Boris Tarasjuk über die Folgen der EU-Osterweiterung und die europäischen Perspektiven seines Landes
Tatjana Montik

Seit 1. Mai ist die Westgrenze der Ukraine zum Großteil eine EU-Außengrenze. Ihr Land hatte Zeit, sich auf die EU-Osterweiterung vorzubereiten: Im Oktober letzten Jahres führten Polen und Ungarn für Ihr Land ein einseitiges Visumsregime ein - obwohl in der Ukraine eine polnische und ungarische Minderheit lebt. Wie wurde diese Veränderung in ihrem Land aufgefaßt?

Tarasjuk: Mit Verständnis. Polen und Ungarn blieb doch keine andere Wahl als das. Es war eine der Bedingungen der EU an ihre neuen Mitgliedsstaaten, es gab keine Alternativlösungen. Meiner Meinung nach hätte die EU in Bezug auf die Ukraine genau solche Maßstäbe anlegen müssen, wie einmal Anfang der Neunziger, als für die neuen EU-Beitrittskandidaten ein visumsfreies Regime galt. So könnten die ukrainischen Bürger - wie einst Polen, Slowaken, Tschechen oder Ungarn - für insgesamt 90 Tage im Jahr ohne ein Visum in die EU einreisen. Wir Abgeordnete wollen uns weiterhin bemühen, von der EU eine solche Regelung für die Ukraine zu erlangen.

Wie bewerten Sie die Politik Brüssels in Bezug auf die EU-Integrationsbemühungen der Ukraine?

Tarasjuk: Brüssels Reaktion auf unsere Integrationsbestrebungen schätze ich eindeutig als nicht adäquat ein. Nur ein Beispiel dafür: 1997 haben wir unilateral für EU-Politiker, die über einen Diplomatenpaß oder ein ähnliches Dokument verfügten, das Visumsregime aufgehoben. Darauf erfolgte aus Brüssel leider keine Antwortreaktion, so daß hohe ukrainische Politiker, mich eingeschlossen, nach wie vor gezwungen sind, jährlich ein neues Visum für die EU-Staaten zu beantragen, das nur zwölf Monate gültig ist. Diese Position zeigt die fehlende Kreativität im Denken der Brüsseler Beamten.

Nehmen das einfache ukrainische Bürger genauso wahr?

Tarasjuk: Selbstverständlich. Mehr noch, die Brüsseler Regelungen für uns, die "neuen Nachbarn", gehen an die Menschenwürde der Ukrainer, die beim tagelangen Anstehen vor den Konsulaten der EU-Staaten sich regelrecht erniedrigen lassen und nicht selten dafür Schmiergelder zahlen müssen.

Anläßlich der EU-Osterweiterung sprach man in den ukrainischen Medien vom neuen "Eisernen Vorhang". Warum?

Tarasjuk: Solche Ausdrücke kommen nicht von ungefähr. Der Begriff "Grenze" ist sowohl für unsere westlichen Nachbarn als auch für uns Ukrainer zu mehr als nur einer geopolitischen Gegebenheit geworden. Die Grenze hat für uns eine über das Symbolische hinausgehende Bedeutung. Und die neue EU-Grenze kommt vielen Ukrainern, die neuerdings auch für unsere westlichen Nachbarstaaten ein Visum brauchen, noch weniger überwindbar vor als es vor der EU-Osterweiterung der Fall war.

Wie kann die EU-Osterweiterung die zukünftige Außenpolitik der Ukraine beeinflussen?

Tarasjuk: Diese Veränderungen erfolgen in zweierlei Hinsicht. Einerseits strebt ein Teil unserer Politiker einen solchen Status für die Ukraine an, den unsere Nachbarn - die neuen EU-Mitgliedsstaaten und Polen, Ungarn, die Slowakei - vor einigen Jahren von Brüssel bekommen hatten, also von der reinen Nachbarschaft zur Integration.

So sehen das jedoch nicht alle ukrainischen Politiker?

Tarasjuk: In diesem Punkt besteht ein großer Zwiespalt in der ukrainischen Außenpolitik. Da wir von der EU keine eindeutige "Einladung" bekommen haben, bliebe uns keine andere Wahl übrig, als eine Integration mit Rußland und den anderen GUS-Staaten. Meines Erachtens ist dies für die Ukraine sehr gefährlich.

Als die Ukraine im vergangenen Herbst die Vereinbarungen über die Gründung des sogenannten einheitlichen Wirtschaftsraumes zwischen Rußland, der Ukraine, Weißrußland und Kasachstan unterzeichnete (siehe JF 42/03), reagierte man in Brüssel darauf mit wenig Verständnis.

Tarasjuk: Kein Wunder, denn diese Vereinbarungen widersprechen nicht nur dem von uns deklarierten Kurs auf die europäische und die transatlantische Integration, sondern sie widersprechen auch der ukrainischen Verfassung und der in der Ukraine derzeit bestehenden Gesetzesordnung. Trotzdem wagte die jetzige ukrainische Führung diesen äußerst merkwürdigen Schritt.

Wie sehen die ukrainischen Bürger die Zukunft ihres Landes? Fühlen sie sich mehr zur EU oder doch mehr zu Rußland hingezogen?

Tarasjuk: Im Vergleich zur Option einer Mitgliedschaft unseres Landes in der Nato, die in unserer Gesellschaft sehr kritisch wahrgenommen wird, sehen die Ukrainer einer möglichen Mitgliedschaft in der EU positiv entgegen. Die letzten soziologischen Untersuchungen belegen, daß über 60 Prozent der Ukrainer eine EU-Mitgliedschaft befürworten. Natürlich sieht diese Prozentzahl je nach Altersstufen und je nach den Regionen des Landes unterschiedlich aus. Im Westen und im Zentrum etwa sowie bei den Menschen jungen und mittleren Alters ist die Idee einer europäischen Integration mehr willkommen als im Osten und im Süden oder als bei den älteren Menschen.

Wie handelt die jetzige ukrainische Führung in Bezug auf die EU?

Tarasjuk: Unsere Regierung verbreitet seit über zehn Jahren vielerlei blumige Deklarationen über einen Beitritt der Ukraine zur EU. Seit kurzem wird auch über einen Nato-Beitritt gesprochen. Aber Handlungen erfolgen darauf keine. Mehr noch, die ukrainische Führung handelt im Widerspruch zu den allgemein gültigen europäischen Werten. In diesem Fall liegt bei uns zwischen den Deklarationen und den konkreten Handlungen ein großer Zwiespalt vor.

Würden Sie das ukrainische Parlament als pro-europäisch bezeichnen?

Tarasjuk: Im Parlament haben wir derzeit eine eindeutige pro-europäische Dreiviertelmehrheit. Dennoch muß man hier einige Trennlinien ziehen. Ein Teil der Abgeordneten, der von der Präsidentenadministration vollständig kontrolliert wird, gibt rein deklarative Aussagen über einen EU-Beitritt ab, obwohl er unverblümt mit Rußland liebäugelt. Die Opposition hingegen mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Wiktor Juschtschenko macht einen anderen Teil der pro-europäischen Mehrheit aus, der sich klar und deutlich pro-EU positioniert.

Beim letzten Nato-Gipfel wurde der Türkei erneut eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, die Ukraine jedoch wurde gar nicht erwähnt.

Tarasjuk: Meiner Meinung nach verfolgt die EU mit ihrem Programm der "neuen Nachbarschaft" eine verfehlte Politik. Zur Gruppe der neuen Nachbarn gehören jetzt alle Länder, die mit der EU eine Grenze haben. Andere Unterschiede werden nicht gemacht. Noch schlimmer: Die Ukraine gerät darüber hinaus in den sogenannten Kreis der Freunde der EU - zusammen mit solchen nordafrikanischen Staaten wie Libyen oder mit den Staaten des Nahen Ostens wie Israel. Hier kann ich leider überhaupt keine Logik erkennen.

Bislang wurde keinem GUS-Land ein EU-Beitritt versprochen.Wieso ist die Position der Ukraine im Vergleich zu Rußland, Weißrußland oder Moldwien besser?

Tarasjuk: Selbstverständlich ist sie besser, mögen mir unsere russischen und weißrussischen Nachbarn verzeihen. Bedingt durch die Politik des weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko hat die EU ihre Beziehungen zu Minsk fast komplett auf Eis gelegt. Rußland hingegen hat bisher keinen Wunsch einer EU-Mitgliedschaft zum Ausdruck gebracht. In Moldawien ist die Situation sehr kompliziert: Unser Nachbarland hat ein Drittel seines Territoriums nicht unter Kontrolle.

Die EU sollte die Ukraine also anders behandeln?

Tarasjuk: Ganz genau. Alleine schon wegen unserer außenpolitischen Orientierung, die in Europa liegt. Eindeutig muß die EU die Ukraine aus der Gruppe der GUS-Staaten als einen privilegierten Partner behandeln. Die Ukraine bewegt sich doch in Richtung Europa, auch wenn unser Tempo für die EU nicht ganz zufriedenstellend erscheint. Tatjana Montik

 

Boris Tarasjuk: Jahrgang 1949, seit 1975 im diplomatischen Dienst, von 1998 bis 2002 ukrainischer Außenminister. Derzeit Chef des Parlamentsausschusses für EU-Integration.

Foto: Warten vor polnischem Generalkonsulat in Lemberg: Von der reinen Nachbarschaft zur Integration

 

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