© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/04 06. August 2004

Der Schatten des Vergessens
Stasi-Akten: Begründung des Kohl-Urteils liegt vor / Ein Teil der Akten wird der Öffentlichkeit für Jahrzehnte verschlossen bleiben
Ekkehard Schultz

Vor wenigen Wochen hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig die Klage der Bundesbeauftragten für die Akten des ehemaligen Staatssicherdienstes (BStU) gegen den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl - der per Beschluß des Berliner Verwaltungsgerichtes aus dem Jahr 2001 die Herausgabe von MfS-Akten zu seiner Person verbieten ließ - in weiten Teilen zurückgewiesen. Nur in wenigen Ausnahmefällen sei die Einsicht in diese personenbezogenen Dokumente an die Presse sowie zur wissenschaftlichen Aufarbeitung erlaubt.

Seit einigen Tagen liegt nunmehr die schriftliche Ausführung des Urteiles vor, welches weit über den Fall Kohl Bedeutung haben dürfte. So werden darin die Voraussetzungen für den Umgang der Öffentlichkeit mit vergleichbaren Akten nach der Verabschiedung des revidierten MfS-Unterlagengesetzes erstmals pauschal gerichtlich geregelt.

"Im Grundsatz" - so das Bundesverwaltungsgericht - sei "die Zurverfügungstellung von Unterlagen mit personenbezogenen Informationen an die Presse" "weitgehend unzulässig". Die Tätigkeit der Presse ziele "auf Veröffentlichung", bei der sich - im Gegensatz zur Wissenschaft - "die jeweilige Fragestellung und Zielrichtung" keineswegs "vorherbestimmen" ließe. Seien die Informationen einmal veröffentlicht, sind diese allgemein frei verfügbar, so das Gericht. Deshalb werde auch die Herausgabe bei Zweckbindung, das heißt die bloße Einsichtnahme der Presse in die Akten bei vorherigem Nachweis des Zwecks - so wie im überarbeiteten Stasi-Unterlagengesetz vorgesehen - "zur Illusion" und könne daher nicht berücksichtigt werden.

Aufklärungsarbeit wird unmöglich gemacht

Gelte diese Regelung für alle personenbezogenen BStU-Akten, so sei sie in noch weit höherem Maße auf jene Dokumente anwendbar, die auf "einer rechtsstaatswidrigen und illegitimen Informationserhebung" beruhten: "Schlechthin unzulässig ist ... die Einsichtgewährung und Herausgabe sämtlicher personenbezogenen Informationen an die Presse, die durch Verletzung der räumlichen Privatsphäre und/oder des Rechts am gesprochenen Wort gewonnen worden sind." Dies treffe nicht nur auf die "Tonaufzeichnungen und Wortlautmitschriften von Gesprächen", sondern auch auf "Inhaltsangaben, Zusammenfassungen und Berichten über diese Gespräche" wie auch auf "Auswertungen, Kommentierungen und Analysen" zu diesen Dokumenten durch das MfS zu.

Die massiven Einschränkungen der journalistischen Arbeit werden nicht dadurch aufgehoben, daß es in einer weiteren Passage des Urteiles heißt: "Auch wenn damit eine Zurverfügungstellung von Stasi-Unterlagen mit personenbezogenen Informationen für Zwecke der Presse weitgehend unzulässig ist, so ist sie doch nicht völlig ausgeschlossen." Eindeutig ist gleichfalls, daß das, was bislang nur für Dritte galt - die nur stark begrenzte Einsicht erst nach vorheriger Schwärzung von Passagen -, nunmehr grundsätzlich auch auf Persönlichkeiten der Zeitgeschichte Anwendung findet: Diese können sich jederzeit auch gegen die Veröffentlichung solcher MfS-Akten wehren, die nicht "auf einer Verletzung der räumlichen Privatsphäre und/oder des Rechts am gesprochenen Wort noch auf Spionage beruhen". Selbst bei Informationen, die teilweise nur auf der Wiedergabe unvorsichtiger Aussagen gegenüber "östlichen" Politikvertretern beruhen, muß vor der Herausgabe auf Verlangen der Betroffenen zuvor darüber entschieden werden, "welche Möglichkeiten der Verteidigung, Gegendarstellung oder Richtigstellung der Betroffene hat".

Doch nicht nur der Presse, sondern auch der direkten politischen Bildungs- und Aufklärungsarbeit wird der Einblick in personenbezogene Unterlagen nahezu unmöglich gemacht. Für die Institutionen, die überhaupt den geforderten Nachweis eines sogenannten "höheren Zweckes" als Begründung der Einsichtnahme erbringen könnten, setzt das Gericht enge Spielräume. So heißt es unter anderem im Urteil unmißverständlich: "Soweit die Recherche in den Stasi-Unterlagen schon als solche der politischen Bildung - etwa im Rahmen einer Schülerarbeit - dienen soll, vermag der damit verfolgte Zweck einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen keineswegs zu rechtfertigen. Derartige Anträge müssen stets abgelehnt werden." Lediglich für die fachbezogene Forschung ist folglich in Ausnahmefällen der Einblick möglich. Doch selbst, wo dies erlaubt werden könnte, müssen wesentliche Hindernisse in Kauf genommen werden. Besonders unbequem dürfte dabei der stark eingeschränkte Belegnachweis sein. Der Betreffende kann dann zwar im Falle der vorherigen Genehmigung die Akte einsehen und "auswerten", jedoch nicht in größeren Passagen wiedergeben. Dadurch ist wiederum eine konkrete Nachprüfung des Weges zum Gewinn der Erkenntnisse beziehungsweise der daraus entnommenen Einschätzungen kaum noch möglich.

Entscheidung zugunsten der Betroffenen

Worum es letztlich im konkreten Fall bei der Urteilsentscheidung gegangen sein dürfte, findet sich an eher peripherer Stelle des Textes: Das "allgemeine Informationsrecht der Presse" sei hinsichtlich "der bei den (ehedem westdeutschen) Staatsorganen und Behörden noch vorhandenen Originale durch das allgemeine Presserecht geordnet", das bekanntlich lange "Schutzfristen" einräumt. Nunmehr regelt das Urteil, daß diese Fristen grundsätzlich auch für die Bestände der BStU - soweit sie westdeutsche Staatsorgane und Behörden betreffen - zur Anwendung gebracht werden sollen, denn die Regelungen hinsichtlich der (west-)deutschen Institutionen dürfen "nicht umgangen werden, indem eine andere Behörde - die BStU - Kopien dieser Aktenbestände aus den Stasi-Unterlagen zur Verfügung stellt". Mit anderen Worten: Der Teil der Akten, der Informationen des MfS über westdeutsche Behörden enthält, wird für die breite Öffentlichkeit über Jahrzehnte verschlossen bleiben. Insgesamt wurden durch das Urteil viele bisherige Kann-Entscheidungen der BStU deutlich zugunsten von Betroffenen verschoben. Der Spielraum der Behörde wurde damit gesetzlich stark eingeschränkt, wogegen sich die Behörde nun kaum noch gerichtlich wenden kann. Ein Gang vor das Bundesverfassungsgericht, stellte die Bundesbeauftragte Marianne Birthler fest, ist der BStU nicht möglich.

Bislang ging es bei der Klage tatsächlich nur um den Fall Kohl. Doch nicht nur weitere "Personen der Zeitgeschichte" dürften das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes als Chance ansehen, mit Hilfe einer höchstrichterlichen Entscheidung den Schatten des Vergessens über der noch allzu aktuellen Vergangenheit auszubreiten.


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