© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/04 20. August 2004

"Wir sind Deutsche!"
Reportage: Im niedersächsischen Delmenhorst leben die Schiiten Yavuz und Görhan Özoguz / Sie betreiben eine der wichtigsten deutschsprachigen Islam-Internetseiten
Manuel Ochsenreiter

Delmenhorst im August am späten Nachmittag. Yavuz Özoguz schnappt sich ein Handtuch und steuert auf das Schwimmbecken im Garten zu. Bei schwülen 30 Grad taucht er vollständig unter Wasser, um sich abzukühlen. Der Mann, der nach Feierabend so friedlich schwimmt, ist der umstrittene Betreiber der größten deutschsprachigen muslimischen Internet-Plattform, dem "Muslim-Markt".

Kritiker sehen darin die Errichtung einer virtuellen Parallelgesellschaft. Özoguz, der eigentlich im öffentlichen Dienst arbeitet, versteht sein Angebot als "eine Art gelbe Seiten für Muslime". Muslimische Ärzte, Hebammen, Anwälte inserieren für Muslime. Wer sich zum Islam bekennt und Arbeit sucht, kann bei Özoguz ein Stellengesuch aufgeben. Mittlerweile betreibt er sogar eine florierende Partnerbörse auf seiner Seite - für Muslime, versteht sich.

Mit der Aufnahme der Rubrik "Palästina Spezial" begann vor etwa drei Jahren der Ärger für den Familienvater. Dort prangerte er das Unrecht an, welches israelische Soldaten an Palästinensern verüben. Diesem stellte er eine Fotoauswahl gegenüber, die die Verfolgungen im Dritten Reich dokumentieren sollte. Darunter veröffentlichte Özoguz noch eine Rede des geistlichen iranischen Staatsoberhauptes Ali Khameini mit einer äußerst mißverständlichen Passage zur Authentizität des Holocaust. Özoguz, der sich bislang nichts zuschulden kommen ließ, wurde zu drei Monaten auf Bewährung verurteilt, mit der Auflage der Mitteilung beim Wohnortswechsel.

Dabei weist er, der während des Verfahrens von den Medien immer wieder als "radikaler Islamist" und "Antisemit" bezeichnet wurde, solche Anschuldigungen weit von sich. Es gehe ihm doch genau darum, daß sich solche Zustände wie im Dritten Reich "niemals, nirgendwo auf dem Erdball wiederholen dürfen". Mit seinem Bruder Gürhan, der ebenfalls mit seiner Familie im selben Haus in Delmenhorst lebt, verehrt er vor allem den christlich-pazifistischen Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer. Wenn die beiden über Gerechtigkeit und die Pflicht zum Widerstand gegen jegliches Unrecht sprechen, dann klingt das ehrlich. "Anpasserei", so sagen sie unisono, ist ihnen "ein Greuel". Mit den Vorwürfen gehen sie mittlerweile gelassen um. "Wir sind 'fundamentalistische Islamisten' in Deutschland", lautet der provozierende Titel des Buchs, das die Brüder Ende 2003 veröffentlichten.

Im Wohnzimmer sieht es nach "Islamismus" aus

Gürhan Özoguz leistet seinem älteren Bruder im Pool Gesellschaft. "Abkühlung tut uns allen gut", sagt Gürhan. In der Tat war die Berichterstattung über den Prozeß mehr als aufgeheizt, selbst die kleinste Lokalzeitung witterte Lunte und wollte etwas zum gegenwärtigen Terror-Alarmismus beisteuern. Die Özoguz-Brüder sind dafür wie geschaffen. Sie rufen zum Boykott gegen Israel auf und erklären öffentlich, der Staat habe kein Existenzrecht - freilich ist das erklärungsbedürftig. "Als man der ehemaligen DDR mit guten Gründen die Anerkennung verweigerte, war es doch auch in Ordnung", so Yavuz Özoguz. Schließlich sei man nicht gegen Juden, sondern gegen das Staatsgebilde, den "Pseudo-Staat" Israel. Es gehe nicht um eine Vertreibung der Juden, sondern um eine Rückgängigmachung der Vertreibung der Palästinenser. "Wer derzeit israelische Produkte kauft, unterstützt und verlängert das Unrecht im Nahen Osten", erklärt er den Boykottaufruf ruhig. Außerdem will er nicht verstehen, weshalb der Boykottaufruf so dramatisch sein soll. "Als es gegen das Apartheidsregime in Südafrika ging, beteiligten sich Künstler, Politiker und sogar ganze Länder am Boykott."

Die gesamte Familie kommt zum Abendessen zusammen - wie immer, wenn Gäste da sind. Auf der Terrasse müssen gleich zwei Tische gedeckt werden. Zu Yavuz' Familie gehören seine Frau Fatima und ihre drei Kinder Huseyin (17), Sadik (15) und Zehra (12), zu Gürhan dessen Ehefrau Mihriban und die Kinder Ali Riza (14), Zeynep (10), Sumeyya (7) und Hamza (1). "Das hier ist noch gar nichts", erzählt Mihriban, den kleinen Hamza auf dem Schoß. Im Ramadan kämen sogar dreißig Freunde zu Gast. "Eine Familie muß dann für alle kochen." Was nach einem logistischen Meisterwerk klingt, sei ganz einfach eine Sache der Organisation. "Man muß eben das Positive daran sehen", lacht Yavuz Özoguz, "man ist dann nur einmal in mehreren Tagen dran und hat es hinter sich." Auch vor Delmenhorst macht die Wespenplage nicht halt. Als die Honig- und Wassermelonen serviert werden, kapituliert die Tischgesellschaft endgültig vor den lästigen Insekten und wechselt nach drinnen, während die Kinder die letzten Sonnenstrahlen nutzen wollen und mit Gejohle zum Schwimmbecken stürmen.

Im Wohnzimmer, wo jetzt Kuchen mit Pflaumen aus dem eigenen Garten serviert wird, sieht es schon eher nach dem aus, was man landläufig unter "Islamismus" versteht. An der Wand hängen Bilder des iranischen Revolutionsführers Ali Khameini, hinter dem Sofa eine große Fahne mit der arabischen Aufschrift "Hussein", dem Namen des Enkels des Propheten Mohammed, einer der wichtigsten Figuren des schiitischen Islam.

Hussein steht für Aufrichtigkeit und Unbeugsamkeit. Mit 72 Getreuen, so heißt es in der Überlieferung, sei Hussein im Jahr 680 in Kerbala gegen die Übermacht des Omajjadenherrschers Yazid angetreten. Vor Beginn der Schlacht entbindet er seine Kämpfer von ihrem Eid und erlaubt ihnen, Kerbala, das im heutigen Irak liegt, zu verlassen. Keiner geht, alle bleiben ihm treu. Während des gewaltigen Gemetzels wird Husseins Truppe abgeschlachtet - selbst vor der Ehre der Toten haben die Feinde keine Achtung und schickten Husseins abgetrennten Kopf als Trophäe quer durch die arabische Welt.

So wurde die Gestalt Imam Husseins zu einem der wichtigsten Märtyrer der Schiiten. Die "Tragödie vom Kerbala" ist auch ein Bezugs- und Identifikationspunkt der Delmenhorster Özoguz-Familie. Es gehe um die Bewahrung des Geistes und der Idee von Hussein. Sein Handeln wird in vielerlei Hinsicht als vorbildhaft gesehen. Sich nicht beugen, keinen faulen Kompromiß eingehen, bei der Wahrheit bleiben, "wie zum Beispiel bei den Leuten um Graf Stauffenberg", findet Yavuz Özoguz schnell ein Beispiel aus der jüngeren deutschen Geschichte. Auch das gescheiterte Attentat auf Hitler und die Ermordung der "Befreiungskämpfer" sei nicht umsonst gewesen, sondern habe gezeigt, daß es selbst in finstersten Zeiten einige Aufrechte gab. Im Vordergrund steht also der Idealismus und nicht das taktisch Machbare, so oder so ähnlich läßt sich die zentrale These ableiten. Wichtig am Kampf Husseins war nicht, ihn militärisch zu gewinnen, sondern daß er Widerstand leistet. Letztendlich gingen Yazid und sein Reich unter und wurden bedeutungslos, der Name Hussein ist aber bei "allen Muslimen weiterhin lebendig".

Imam Hussein und Kerbala als Identifikationspunkte

Auf Hussein verweisen Yavuz und Gürhan Özoguz, wenn man sie fragt, warum sie so unerschütterlich für die islamische Sache arbeiten, obwohl sie - nach rein objektiven Gesichtspunkten - fast nur Nachteile davon haben. So mußte sich Yavuz Özoguz mehr als einmal vor seinem Arbeitgeber rechtfertigen. Im Bundestag war er bereits Gegenstand einer Sammelanfrage der Unionsfraktion, die sich aus Artikeln des ehemaligen FAZ-Journalisten Udo Ulfkotte speiste. Vor einigen Monaten war eine Spiegel-Redakteurin zu Besuch und verhörte sogar die Nachbarn stundenlang - übrig blieb davon, daß diese gerne mal bei Familie Özoguz Kuchen essen. "Wir haben ein außerordentlich gutes Verhältnis zur Nachbarschaft - das paßt wohl nicht ins gewünschte Islamisten-Image", versucht Gürhan eine Erklärung dafür zu finden. Die Brüder machen den Eindruck, als perle das alles von ihnen ab.

Die Özoguz-Familie stellt den Begriff "Integration" auf den Kopf. Woran macht man ihn fest? Etwa an der Sprachkompetenz? Die eingebürgerten Türken sprechen Deutsch von Kindheit an - der 1959 in Istanbul geborene Yavuz kam mit einem Jahr nach Deutschland, sein vier Jahre jüngerer Bruder Gürhan ist in Deutschland geboren. "Wir sind Deutsche", bekräftigt Yavuz. Nicht einmal untereinander sprechen sie Türkisch. Sie setzen sich für deutschsprachige Vorbeter in den islamischen Verbänden in Deutschland ein. Also eigentlich ein Musterbeispiel geglückter Integrationsarbeit?

Yavuz Ehefrau Fatima, die ebenso wie Mihriban aus Überzeugung ein Kopftuch trägt, ist das leibhaftige Gegenbeispiel in jeder Debatte um den Quadratmeter Stoff. Das häufig vorgebrachte Argument, Frauen seien durch innerfamiliären Druck zum Kopftuch gezwungen, zieht bei ihr nicht. Bei ihr es genau andersherum. Fatima, die in Marburg Vorlesungen des Islamwissenschaftlers Tilman Nagel hörte, ist eine gebürtige Deutsche und hieß früher Elke - bevor sie zum Islam konvertierte. Schließlich zog sie von zu Hause weg, nachdem das Kopftuch zum heimischen Streitpunkt wurde. Ja, die Sache mit dem Kopftuch. "Was hat das mit Integration oder gar Überfremdung zu tun?" fragt Yavuz. "Noch vor drei Generationen gingen in Deutschland die Frauen nur mit Kopftuch in die Kirche - auch das hatte doch seinen Sinn." Wenn man schon von "kultureller Überfremdung" spreche, dann müßte man bauchfreie Mode, den Piercing- und Tattoo-Wahn angreifen. "Das hat doch alles hier wirklich nichts verloren, das ist doch den Mitteleuropäern eigentlich fremd."

Für ihn sind das alles nur Schlaglichter eines lange schwelenden Kampfes gegen den Islam in Deutschland. Özoguz sieht gegen die praktizierenden Muslime eine politische Phalanx von "ganz linksaußen bis ganz rechtsaußen" gerichtet. Dies zeige sich exemplarisch im Kampf gegen das Kopftuch, wo christlich-konservative Unionspolitiker mit der ultralinken Feministin Alice Schwarzer zumindest inhaltlich zusammenarbeiten. "Wir integrieren uns eben genau nicht in den Mainstream", stellt Gürhan nüchtern fest, "das macht uns gefährlich für die Umwelt."

Die Logik ist wieder die von Kerbala. Solange es in der Oberflächlichkeit der nihilistischen Spaßgesellschaft auch nur einige wenige Aufrechte gebe, seien diese auch angesichts einer erdrückenden Übermacht ein gefährlicher Stachel im Fleisch. Allein durch ihr Beispiel seien die Muslime eine Provokation. Yavuz Özoguz wird theoretisch. Die gegenwärtige Gesellschaft habe sich den beiden Götzen "Freiheit" und "Demokratie" verschrieben, die zwar als Elemente einer ganzheitlichen Anschauung gut, als Götzen aber eben fatal seien. "Freiheit und Demokratie sind nichts wert, wenn der wichtigste Wert, die Gerechtigkeit, außen vor ist", führt er aus.

Die Spaßgesellschaft ist in den Kirchen angekommen

Denn die Spaßgesellschaft fordere Opfer - Menschenopfer -, und wer darauf hinweise, mache sich unbeliebt. Özoguz spricht von Massenabtreibungen, Prostitution, Kinderfeindlichkeit, Patchworkfamilien und dem Kult um die Homosexualität. Er nennt das Abschieben der alten Generation in Altersheime eine Grausamkeit und sieht die Debatten um die Sterbehilfe als ein Zeichen des fortschreitenden Verfalls. Bindungen würden zugunsten einer krebsartig um sich greifenden Freiheit aufgelöst. Verschreibe man sich dieser entseelten Entwicklung, nenne man das in Orwellscher Manier "Freiheit", füge man sich aber den Gesetzen Gottes, gelte man als geistig "unfrei" oder gar als religiöser Fanatiker. Natürlich weiß Özoguz, daß er sich mit seiner Kritik an Freiheit und Demokratie auf ein gefährliches Terrain begibt.

Wenn Özoguz in diesem Zusammenhang von den Kirchen spricht, gebraucht er das Wort "abgewirtschaftet". Die Spaßgesellschaft habe sich schon längst den Weg zum Tabernakel geebnet. "Wenn früher junge Leute statt in die Kirche in die Disko gingen, veranstaltete man Kirchen-Diskos, statt sich um die richtige Erziehung zu kümmern." Die Integration lief, wenn man so will, in die falsche Richtung. Heute traut Özoguz den Amtskirchen keine Impulse mehr zu. Nun sei der Islam an der Reihe. "Mittlerweile gibt es in Deutschland mehr praktizierende Muslime als praktizierende Christen": "Praktizierend" heißt bei Özoguz mehr als nur zu festen Zeiten zum Gottesdienst zu gehen oder gar nur Mitglied einer religiösen Körperschaft zu sein. Es meint die vollständige Ausfüllung des Lebens durch die religiösen Gesetze. Dabei wirken die beiden Brüder nicht wie weltfremde Frömmler. Im Gegenteil.

Die Schiiten aus Delmenhorst sind für linke Multikulti-Ideale nicht brauchbar, das wissen sie. "Es war nie echte Multikultur erwünscht, sondern nur eine kulturelle Verarmung der deutschen Kultur durch Einfuhr dessen, was gottlose Menschen als Kultur bezeichnen", sagt Yavuz. Dies gelte für grelle Bauchtänzerinnen und Klischees aus "Tausendundeiner Nacht", jedoch nicht für den islamischen Wertekanon, der dem klassischen deutschen gar nicht so unähnlich sei. "Integration heißt, der Gemeinschaft mehr zu nutzen als zu schaden", so Yavuz und Gürhan. "Und der Islam nützt Deutschland garantiert mehr als die gegenwärtige Gottlosigkeit."

Foto: Sumeyya, Zeynep, Mihriban, Gürhan, Yavuz, Fatima und Zehra Özoguz: "Es ging nie um Multikulti, sondern um die kulturelle Verarmung"

Foto: Yavuz Özoguz aktualisiert den "Muslim-Markt"; mit einer deutschen Koranausgabe von 1773; die Özoguz-Brüder im Gespräch mit JF-Redakteur: "Freiheit und Demokratie wurden zu Götzen der Gesellschaft"


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