© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/04 27. August 2004

Die Identität wahren
Zunehmend wird die deutsche Sprache durch Anglizismen entstellt
Thomas Paulwitz

Die olympischen Spiele waren in der Antike ein Symbol für den Zusammenhalt der Griechen, selbst als die Einheit in der Sprache nicht mehr gegeben war. Das Griechische stand nämlich in der klassischen Zeit vor einer ähnlichen Herausforderung wie heute das Deutsche. Die Gefahr: sprachliche Divergenz. Die griechische Sprache spaltete sich in mehrere Dialekte auf. Der Grund dafür war die politische Zersplitterung des Landes in zahlreiche Stadtstaaten. Sprache entwickelt sich, aber wohin? Die Sprachentwicklung kann je nach Einflußnahme zwei Richtungen einschlagen: die der Konvergenz, also der Vereinheitlichung und Standardisierung, oder die der Divergenz, also der Aufspaltung.

Der deutsche Kulturraum befindet sich heute sprachlich gesehen in einem vergleichbaren Zustand wie das klassische Griechenland. Der Zusammenhang der deutschen Sprachgemeinschaft leidet in Zeiten der Globalisierung, Europäisierung und Regionalisierung. Der Wille zur Konvergenz kann sich nicht mehr durchsetzen. In der Schweiz bereichert die Mundart die Standardsprache nicht, sondern verdrängt sie mittlerweile. Dort ist es heute modern, ausschließlich Mundart zu sprechen, und man hört kaum noch eine Hörfunk- oder Fernsehsendung, in der Standarddeutsch gesprochen wird.

Im Nachbarland Österreich, in dem man auf Topfen, Paradeiser und Karfiol großen Wert legt, gibt es ebenfalls divergente Entwicklungen. Vor wenigen Tagen trat eine Autoreninitiative mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit, in der sie den sprachlichen Separatismus fordert. "Österreichisch" solle anstelle von Deutsch als Staatssprache in der Verfassung verankert werden. Anlaß ist die leidige Dauerdebatte um die Rechtschreibung. Die Unterzeichner fordern dazu auf, "sich an keiner deutschen Rechtschreibreform mehr zu beteiligen und die eingesparten Mittel für die Förderung eines österreichischen und europäischen Sprachbewußtseins zu verwenden".

Das ist nur ein Kollateralschaden, den die Rechtschreibreform angerichtet hat. Die Reform selbst ist ein hervorstechendes Beispiel für die sprachliche Auseinanderentwicklung. Die Leistung Konrad Dudens war ähnlich wie die Bibelübersetzung Luthers ein Meilenstein auf dem Weg zur sprachlichen Konvergenz. Die 2. Orthographische Konferenz 1901 in Berlin beschloß unter maßgeblicher Mitwirkung Konrad Dudens ein amtliches Regelwerk, das von 1902 bis 1998 eine weitgehend anerkannte Rechtschreibung festlegte. Die Dudenredaktion paßte sie bis zur 20. Dudenauflage von 1991 behutsam an die Sprachentwicklung an. Die Rechtschreibreformer haben mit Hilfe der Kultusministerkonferenz diese Einheitsorthographie zerstört, indem sie der Sprache willkürlich neue Regeln aufpfropften. So wurden die Schulen zu Rechtschreibinseln, in denen Schreibweisen gelehrt werden, die die Schüler vergessen können, wenn sie die Schule verlassen, weil die Reformregeln außerhalb entweder überhaupt nicht oder nur in entschärfter Form angewendet werden. Zeitungen und Verlage legten sich wie vor 1902 Hausorthographien zu, die das Machwerk der Reformer unterschiedlich auslegten. Das Durcheinander ist groß.

Angesichts des derzeitigen Tauziehens um die Rechtschreibreform ist die Debatte um die Verenglischung unserer Sprache vorübergehend in den Hintergrund getreten. Der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) nutzte dies, um zu erklären, daß ihn Anglizismen viel mehr ärgerten "als die Frage, ob 'dass' mit ss oder ß geschrieben wird. Ein bißchen mehr Pflege der Sprache wäre sicherlich angebrachter als die Diskussion über die Rechtschreibung."

Für diese Aussage organisierte der Verein Deutsche Sprache (VDS) eine Dankesbriefaktion an Milbradt. Es geht aber nicht darum, die Rechtschreibreformgegner gegen die Denglischbekämpfer auszuspielen. Eine einheitliche und verständliche Rechtschreibung wiederherzustellen gehört genauso zum Widerstand gegen die Aufspaltung der Sprache wie das Streben nach einer deutschen und deutlichen Sprache.

Die Flucht aus der deutschen Sprache zeigt sich besonders in der Sprache der Werbung. Eine Untersuchung der Universität Hannover über "Sprachwahl im Werbeslogan" kam zu dem Ergebnis, daß englische Werbesprüche dramatisch zunehmen. Lag ihr Anteil in den 1980er Jahren noch bei mageren drei Prozent, so schnellte er in den neunziger Jahren auf 18 Prozent und liegt heute bei 30 Prozent. Damit ist die Behauptung des VDS-Vorsitzenden Walter Krämer widerlegt, daß angeblich wieder mehr auf deutsch geworben werde. Der Inhalt der englischen Werbesprüche wird jedoch kaum verstanden. Das hat die Endmark AG in einer repräsentativen Untersuchung nachgewiesen. Nur 18 Prozent der befragten 14- bis 49jährigen konnten zum Beispiel das Motto von Mitsubishi ("Drive alive") richtig übersetzen: "Fahre lebendig".

Die Schulen springen auf den Zug auf, der die deutsche Sprache zersetzt. Immersionsunterricht ("Sprachbad") heißt das neue Zauberwort. Durch ihn wird eine Fremdsprache zur Unterrichtssprache. Einige Schulen haben etwa das Fach Geschichte bereits durch "History" ersetzt. Das Wissen um die deutsche Geschichte, die einen wichtigen Teil ihrer Identität bildet, dürfen sich die Schüler nicht mehr in ihrer Muttersprache erschließen. Der Anfang wird in den Grundschulen gemacht. An drei Hamburger Schulen beginnt mit diesem Schuljahr die Immersion. Bis auf das Fach Deutsch werden ab der ersten Klasse alle Fächer auf englisch unterrichtet. Die Kinder dürfen so lange auf deutsch antworten, bis sie von selbst beginnen, Englisch zu reden. Dagmar Rocys, stellvertretende Schulleiterin einer teilnehmenden Grundschule, wischt Bedenken beiseite: "Die Kinder sprechen zu Hause ja weiterhin ihre Muttersprache." Sie berichtet stolz: "Nach vier Tagen schon fragte der Erstkläßler statt nach dem Bleistift nach dem Pencil."

Wenn Selbst- und Sprachbewußtsein fehlen, wenn es an der Wertschätzung der Kultur mangelt, dann wirkt sich das schlecht auf Sprache aus. Daß bei den alten Griechen trotz der sprachlichen Aufspaltung immer ein gesamtgriechisches Bewußtsein erhalten blieb, dazu trugen die olympischen Spiele bei, aber auch heilige Stätten wie Delphi oder das gemeinsame Zusammenstehen gegen die Perser. Weil dieser Einheitsgedanke niemals erlosch, konnte später auch die Sprache wieder zur Einheit finden. Im Hellenismus entstand eine "gemeinsame Sprache", die sogenannte koiné glossa. Das Koiné-Griechische wurde zur Weltsprache und zur Sprache des Neuen Testaments. Für die deutsche Sprache besteht also Hoffnung, wenn die Deutschen einig sind.


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