© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/04 27. August 2004

Übermacht der Erinnerung
Aufbruch in ein Morgen: Schon Goethe wußte, daß zuviel Vergangenes im Gegenwärtigen stört
Eberhard Straub

Sämtliche Europäer hadern mit ihrer Geschichte, seitdem Europa nach und nach aus dem Mittelpunkt der Welt rückte. Sie suchen allesamt nach dem Nutzen der Historie für das Leben und erfahren mehr deren Nachteil, weil nirgendwo soviel Stoff zu Streit und Unfrieden bereitliegt wie in der Geschichte.

Goethe entwarf mit seinem Epimetheus in der "Pandora" ein Bild des schwerbedenklichen, rückwärtsgewandten, vor der Zukunft zurückschreckenden Europäers, der sich von Raschgeschehenem mit seinen fatalen Folgen, die weder bewältigt noch wiedergutgemacht werden konnten, nicht zu lösen vermochte. "Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet", gab Goethe 1824 zu bedenken. Sein Epimetheus verhielt sich anders und versäumte darüber den Tag mit seinen Anforderungen. Goethe hatte gewiß Sympathie für ihn. Aber ihm graute vor der Belästigung durch zuviel Vergangenes im Gegenwärtigen. Denn Völker bleiben als "Arbeitsgemeinschaft" zusammen, nicht weil sie eine Vergangenheit haben, sondern weil sie gemeinsam in ein Morgen aufbrechen wollen.

"Die Gottheit aber ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten", bemerkte Goethe 1829. Er erweiterte seine Lebensmaxime, das Vergangene hinter sich zu werfen und ein neues Leben anzufangen, auf alle Menschen. "Entzieht Euch dem verstorbenen Zeug, / Lebend'ges laßt uns lieben".

Deshalb warnte er dauernd, durch unablässiges Bedenken abgelebten Lebens nicht "der Zukunft mild aufschimmerndes Hoffnungslicht" zu verdüstern, das doch dem Irrenden den Weg zu neuer Gegenwart erhellen soll. Leben vollendet sich mit Werdelust im Leben, in den Verwandlungen, die je auf ihre Art zu durchlaufen sind. Die Lebensphasen sinken hinab in die Tiefe der Jahre. Dort lagern sie als Abgetanes, dessen Modergeruch den Lebendigsten zu belästigen vermag. Erkennen die Nachgeborenen die Irrtümer ihrer Vorfahren, so hat die Zeit schon längst wieder neue Irrtümer erzeugt, die ihnen gar nicht bewußt sind und deren Aufhellung späteren Generationen überlassen bleibt, die davon nichts haben, weil sie ihrerseits in Irrtümer verstrickt sind. So geht es endlos weiter.

Mit seinem "Stirb und Werde" schafft sich der Mensch während der Metamorphosen der immer beweglichen Gesellschaft ununterbrochen Vergangenheiten, lebt aus vielen Vergangenheiten als Übergängen und geht endlich an ihnen zugrunde. Geschichtsschreibung ist unter solchen Voraussetzungen "das beste Mittel, sich die Vergangenheit vom Hals zu schaffen", also die Macht der unvermeidlichen Erinnerung über das Leben zu entkräften. Ein erstaunliches Bekenntnis von diesem Begründer der Geistes- und Ideengeschichte! "Mehr zum Beobachten als zum Beurteilen geneigt", gelangte Goethe zu solchen Anschauungen in der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution, wie damals die gebildetste Nation mit sich selbst in größter Verwirrung kämpfte und ganz Europa in ihre gewalttätigen Abenteuer verstrickte.

Goethe hatte Gelegenheit genug, "das kurz Vergangene zu überdenken, aber je mehr man dachte, je verworrener und unsicherer ward alles vor den Blicken". Da empfiehlt es sich einfach, sich auf das Hier und Heute zu beschränken und darauf zu verzichten, all dem, was geschieht, etwa eine Vernunft zu unterlegen. Der einzelne gibt ohnehin seine nächsten Zustände nicht auf, wie auch das große Ganze sich verhalten möge.

Doch die Undurchsichtigkeit und Zerfahrenheit wechselnder Zustände, wie sie der einzelne je auf seine Weise erlitt und überstand, sollten keinen dazu verleiten, sich später mit dem Gewesenen, mit abgeschiedenen Gespenstern über Gebühr zu beschäftigen, um nicht "krankhaft vom rechten Wege" abgelenkt zu werden, sich nämlich unter neuen Bedingungen zu bewähren. Sein "liberalistischer Indifferentismus" mißfiel manchen seiner Zeitgenossen, die keineswegs Geschehenes als Geschichtliches vergangen sein lassen wollten. Goethes disziplinierter Gleichmut irritierte jene, die Geschichte und Moral verknüpften, dem schwankenden Boden des Inkommensurablen verpflichtende Auflagen abgewinnen wollten.

Nicht alle wollten nur beobachten. Sie wollten, während sie Vergangenes wieder und wieder vergegenwärtigten, über die darein verstrickten Menschen ein Urteil fällen. Solches Verlangen hielt Goethe für pedantisch, dünkelhaft und philiströs. Weltgeschichte als Geschichte handelnder Personen läßt sich nicht von einem moralischen Standpunkt aus schreiben. Der Mensch ist und bleibt ein undurchdringliches Geheimnis. Seine Willensfreiheit wird modifiziert durch die Zeiten, in denen er lebt und auf die er wiederum einwirkt. Wer sich der Irrtümer seiner Zeit enthält, vereinsamt, läßt man sich von ihnen einfangen, so hat man auch weder Ehre noch Freude davon. Der Mensch als ein so vielfach bedrängtes Wesen vermag nur selten in großer Unabhängigkeit zu handeln und hängt in der Regel über eine Schwachheit mit seinem Jahrhundert zusammen. Ein moralisches Urteil späterer Generationen erschien ihm daher unmöglich, weil jeder ein Vieles ist, dessen Wollen gar nicht allein von seinem Willen gelenkt wird.

Das Ich kann immer nur ein beschränktes, dem Irrtum ausgeliefertes sein. Der Mensch in der Geschichte sammelt allerdings Erfahrungen. Was ihm als Erfahrung jedoch widerfährt, läßt ihn meist erfahren, was zu erfahren er gar nicht wünscht. Die Erfahrungen anderer in fernen und fremden Epochen machen im übrigen keinen reicher an Erfahrung. Der Mensch ist nicht Herr seines Schicksals, und die sind es ebensowenig, die entfernte Ereignisse und Gestalten moralisch beurteilen oder verurteilen. Die Geschichte ist eine Sphäre des Unberechenbaren, weil der Mensch unberechenbar und nicht vernünftig ist. Sollte in ihr Vernunft sich dennoch manifestieren, dann nur vor dem Auge Gottes. Dem menschlichen Auge zeigt sie sich nur als unablässig veränderliche Zeit. In ewiger Veränderung begriffen, gibt die Zeit allen menschlichen Dingen unentwegt eine andere Gestalt, so daß in regelmäßigen Abständen die Geschichte umgeschrieben werden muß, weil der Lebende sie sich unter anderen Gesichtspunkten zurechtlegt, die ihm seine Zeit eröffnet. Sie mögen für ihn die passenden sein, aber sie erlauben ihm keinen höheren moralischen Standpunkt.

Wer 1792 ein Ehrenmann war, erfüllt von revolutionärer Tugend, konnte ein Jahr später ein Verbrecher sein und dem Tode verfallen, den unter Umständen solche über ihn verhängten, die alsbald selber als Mörder, Unhold und Menschenfeind guillotiniert, deportiert, erschossen oder ertränkt wurden. Eine völlige Verwirrung der moralischen, weil parteilichen Begriffe trat ein. Bei dem sittlichen, politisch bewirkten Durcheinander von Unrecht und Recht, das jeden, auch den Unschuldigen, in Mitleidenschaft zog, erachtete es Goethe als heilsamer, das Trübe nicht zu beschweigen, es aber auch nicht wieder und wieder zu beschwören.

Nicht das Gedenken schlechthin betrachtete er als eine Notwendigkeit, sondern nur insoweit, wie es dem Geist, der nach Brot verlangt, Nahrung bietet, die ihn fördert. Goethe schien es wenig hilfreich zu sein, aus der Geschichte nur Steine zu reichen und sie zum Anlaß zu nehmen, Streitigkeiten aufzuwecken, weil der Mensch sich schon schwer genug damit tue, ein schreckliches Gestern durch ein tüchtig-tätiges Heute für sich umzugestalten. Viele seiner Zeitgenossen standen freilich noch ganz im Banne der Vergangenheit, die von 1789 bis 1815 Europa in die fürchterlichsten Gegensätze gestürzt hatte.

Sie haderten mit denen, die sich während aller Systemwechsel zu arrangieren verstanden, und forderten, daß die Gerechtigkeit endlich jeden erreiche, der ungerecht oder kriminell, und sei es auf Befehl, an ihnen gehandelt habe. Ludwig XVIII. unterband in Frankreich nach 1815 allmählich Untersuchungen über die Vergangenheit und damit Strafen, um überhaupt wieder den Geist freundlichen Zusammenlebens zu ermöglichen, der seit dem Westfälischen Frieden 1648 eine allgemeine Amnestie voraussetzte.

Goethe war damit einverstanden. Er hielt es für erstrebenswerter, wieder gemeinsame, verbindende Ideen zu gewinnen, als mit Schuldzuweisungen, versagt zu haben, einander beschwerlich zu fallen. Daß jemand schuldlos durch das Leben, durch die Welt als Geschichte wandeln könnte, darin vermutete er allerdings einen törichten Wahn, der widrige Folgen für das Zusammenleben und Zusammenwirken zeitigte. Gerade um gesellige Bildung nicht gänzlich zu vernichten, hielt er es für geboten, aus Höflichkeit auch Schweigen über manches zu wahren, was allein das Zusammenleben in der Gesellschaft erträglich mache und davon abhalte, sich wechselseitig moralisch die Kleider vom Leibe zu reißen.

Goethe plädierte nicht für das Vergessen, er hoffte dazu anzuleiten, sich auf eine vernünftige Art nicht von Erinnerungen überwältigen zu lassen. Schließlich hatte er nichts getan, um im Widerstand gegen den Tyrannen, gegen Napoleon, besonders aufzufallen. Energische Freunde deutscher Freiheit hielten ihn deshalb für einen Kollaborateur der Franzosen, einen Verräter deutscher Freiheit. Goethe wußte zu genau, von welchen Geschmacklosigkeiten er Deutsche in unermüdlichem kritischen Betragen befreit hatte.

Dennoch verletzten ihn nach 1815 solche Vorwürfe nationaler Gesinnungsknechte und deren Appell an eine politisierte Moral mit Reinheitsgeboten, die ihm dünkelhaft und abgeschmackt vorkamen. Ihm war die Tugend Robespierres fürchterlich. Sie wirkte auf ihn in anderer ideologischer Kostümierung nicht minder verdrießlich. Wurde ihm dies alte Europa mit seinen Streitereien über Vergangenheiten allzu unbequem, dann schaute er hinüber nach Amerika, das keine verfallenen Schlösser mit Gespenstern verängstigte oder aufregte. Also keine Vergangenheit, die, heftig umstritten, nur daran hindert, daß Leben sich des Lebens freue, sofern Vernunft tätig und Vergangenes nicht störend gegenwärtig. "Benütze die Gegenwart mit Glück", rief er über den Ozean. "Dich stört nicht im Innern, / zu lebendiger Zeit, / unnützes Erinnern, / und vergeblicher Streit".

Die besten unter seinen Wanderern in den "Wanderjahren" schickte er in die USA, vermutend, in dem Moderduft des von Altbegier ergriffenen Europa nicht mehr fruchtbar wirken zu können. Eines Europa, das sich nur noch erinnerte, ohne zu wissen, woran es sich zu seinem Heil erinnern könnte. Dazu wollte er mit seinem Roman, überhaupt mit seinem Werk, den Europäern verhelfen. Auch daran erinnert Goethes Geburtstag am 28. August, wahrscheinlich vergeblich.

 

Dr. Eberhard Straub ist habilitierter Historiker und Publizist. Er lebt in Berlin.

Foto: Heiße Quellen auf Island: Wo ständig die Vergangenheit hochkocht, wird das Zusammenleben in der Gesellschaft erschwert


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