© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/04 03. September 2004

Fromm oder kosmopolitisch
USA: Der Wahlkampf zwischen Bush und Kerry offenbart erneut die tiefe innere Spaltung der einzigen Weltmacht
Elliot Neaman

Als der Republikaner George W. Bush dank eines höchst umstrittenen Urteils des Obersten Gerichtshofs die Präsidentschaftswahlen 2000 gewann, waren viele Wähler hocherfreut und viele andere zutiefst verbittert, aber wenige ahnten, wie bedeutungsvoll die eine Stimme über der erforderlichen Mehrheit von 270 Wahlmännern, die ihm diesen Sieg sicherte, sich für die Weltgeschichte erweisen sollte. Denn sie entschied darüber, welcher Mann nach den Angriffen auf New York und Washington vom 11. September 2001 den Kurs der amerikanischen Außenpolitik festlegte.

Bushs demokratischer Gegenkandidat Al Gore war nie Pazifist, sondern als Senator für den Bundesstaat Tennessee in außenpolitischen Fragen im Gegenteil ein "Falke". Und wahrscheinlich hätte er das afghanische Taliban-Regime auf sehr ähnliche Weise angegriffen und unschädlich gemacht, wie Bush es im Herbst 2001 tat. Aber er hätte sein außenpolitisches Beraterteam nicht aus "Falken" zusammengesetzt und aller Wahrscheinlichkeit gegenüber Saddam Hussein eine andere Taktik verfolgt. Natürlich werden wir niemals wissen, wie eine Gore-Regierung gehandelt hätte, aber man kann wohl davon ausgehen, daß die USA sich nicht auf dasselbe globale Abenteuer im Kampf gegen den Terrorismus eingelassen hätten wie unter Bush.

Unter normalen Umständen gilt die Wirtschaft als Prüfstand amerikanischer Präsidenten. Wie der damalige demokratische Präsident Bill Clinton 1996 bewies, scheitern selbst eher unpopuläre Amtsinhaber selten an der Wiederwahl, wenn die Wirtschaft sich im Auftrieb befindet. Hingegen kann ein starker und bei der Bevölkerung beliebter Präsident eine Wahl verlieren - so erging es Bushs Vaters 1992 -, wenn die wirtschaftliche Entwicklung als schwach wahrgenommen wird. Die Einschränkung "wahrgenommen wird" ist an dieser Stelle wichtig. Statistisch gesehen hat sich die Wirtschaft unter George W. Bush überraschend gut entwickelt.

In Clintons Amtszeit stiegen die Nettoeinkommen um 4,8 Prozent, unter Bush um 7,3 Prozent. Die Gesamtproduktivität nahm unter Clinton um 2,4 Prozent, unter Bush um 14,1 Prozent zu. Auch wenn viele Kritiker die von der Bush-Regierung durchgesetzten Steuererleichterungen und die Erhöhung der Staatsschuld höhnisch kommentiert haben, betrug das Haushaltsdefizit für 2004 etwa vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts und liegt damit um etwa zwei Prozentpunkte unter dem der Regierungszeit von Ronald Reagan. Sieben Billionen Dollar sind sicherlich eine hohe Schuldenlast - in einer Wirtschaft, die im Jahr Waren und Dienstleistungen im Wert von elf Billionen Dollar produziert, läßt sie sich aber bewältigen.

Die meisten Ökonomen halten Wachstumsraten langfristig für wichtiger als die fluktuierende staatliche Verschuldung. Selbst eingedenk der Kosten des Irak-Kriegs ist der Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts, der für die Verteidigung ausgegeben wird, über fünfzig Jahre gesehen seit dem Zweiten Weltkrieg nahezu stabil geblieben. Bushs Problem liegt darin, daß die Wirtschaft als schwach wahrgenommen wird. Zwar liegt die Arbeitslosigkeit nur bei 5,5 Prozent, aber es konnten kaum zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden, und in einer sich in rapidem Wandel befindlichen Wirtschaft verlieren Arbeitnehmer ihre Arbeitsplätze, wenn veraltete Produktionsmodelle umgestellt werden, unproduktive Arbeitsplätze verschwinden und an ihrer Stelle neue entstehen. Wie andere postindustrielle Staaten auch machen die USA derzeit unter dem Einfluß massiven technologischen Fortschritts einen solchen Wandel durch, und die kurzfristigen Negativfolgen treffen die Arbeitnehmer am härtesten.

Auch eine Volksabstimmung über den Irak-Krieg

Die Diskrepanz zwischen der wirtschaftlichen Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung ist ein Grund dafür, daß die guten Wirtschaftsdaten Bush wenig nützen. Der zweite, tiefere liegt darin, daß diese Präsidentschaftswahl sich immer mehr als Volksabstimmung über den Irak-Krieg erweist.

In der amerikanischen Geschichte hat es nur wenige Wahlen gegeben, die sich an der Außenpolitik entschieden. Zuletzt geschah dies 1972 auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges, davor 1940, als Amtsinhaber Franklin D. Roosevelt gegen einen republikanischen Kandidaten, Wendell Wilkie, antrat, der den Achsenmächten wahrscheinlich weniger kompromißlos gegenübergetreten wäre. Um weitere Beispiele zu finden, müßte man bis in die Anfänge der Republik zurückgehen.

Im Frühjahr 2004, als in den Nachrichtensendungen Abend für Abend gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Aufständischen und der US-Armee im Irak und Folterbilder aus dem Gefängnis Abu Ghraib gezeigt wurden, fielen Umfrageergebnissen zufolge die Zustimmungsraten für die Bush-Regierung von siebzig auf unter fünfzig Prozent. Bush weigerte sich, dem Druck auch aus den Reihen der eigenen Partei nachzugeben, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, dessen Stellvertreter Paul Wolfowitz und Douglas Feith zu entlassen oder anstelle von Dick Cheney einen neuen Kandidaten für das Amt des Vize-Präsidenten aufzustellen.

Er hält an der Argumentation fest, die USA hätten entsprechend ihren damaligen Informationen über Saddams militärisches Potential korrekt gehandelt, der Sturz der Baath-Partei habe sowohl dem irakischen Volk als auch der westlichen Welt genützt, und ihm sei im Frühjahr 2003 keine andere Wahl geblieben als zu handeln.

Sein Standardspruch in diesem Wahlkampf zeigt, wie er seine Rolle als Kriegspräsident bewertet: "Ich mußte eine Entscheidung treffen. Vergesse ich die Lehren vom 11. September und vertraue einem Irren, oder ergreife ich Maßnahmen, um Amerika zu verteidigen? Wenn ich vor diese Wahl gestellt werde, werde ich unser Land jedesmal verteidigen." Indem er seine Haltung zum Irak-Krieg um kein Jota ändert, fordert er die Wähler geradezu heraus, ihre Stimme für oder gegen den Krieg abzugeben.

Im Jahr 2000 erklärte der Präsidentschaftskandidat Bush, er wolle das Land nicht spalten, sondern vereinigen. Vier Jahre später ist Amerika gespaltener als je zuvor, und zwar nicht nur in der Irak-Frage. Bushs Innenpolitik ist radikaler, als seine Selbststilisierung als compassionate conservative (mitfühlender Konservativer) vermuten ließe.

Dieser Konservatismus selber enthält seltsame Widersprüche, etwa den "neo-wilsonischen" Eifer, auf der ganzen Welt autoritäre Staaten unter amerikanischer Schirmherrschaft in Demokratien zu verwandeln und gleichzeitig zu Hause eine eindeutig undemokratische Politik zu verfolgen. Sein Justizminister John Ashcroft ist ein religiöser Zelot, der die Bundesstaaten in sozialpolitischen Fragen wie der Dekriminalisierung von Marijuana, aktiver Sterbehilfe und gleichgeschlechtlicher Ehen bekämpft hat.

Durch die Einschränkung der Bürgerrechte im Namen der Terrorismusbekämpfung ist es Ashcroft gelungen, sogar den libertären Flügel der republikanischen Partei gegen sich aufzubringen. Bushs eigene Reden strotzen vor biblischen Metaphern, die als kodierte Botschaften an seine politische Basis aus fundamentalistischen Christen und Sozialkonservativen im Herzen Amerikas zu verstehen sind.

In Fragen der Ökologie hat sich die Bush-Regierung immer wieder auf die Seite der Industrie und der Großkonzerne gegen die Umweltschutzbewegungen gestellt. Sie hat sogar zugelassen, daß die Industrie im Rahmen einer sogenannten Policy Task Force, die Anfang 2001 neunmal unter Vorsitz von Dick Cheney auf Ministerebene zusammenkam, an der Formulierung der Umweltpolitik beteiligt wurde.

Die Republikaner kontrollieren sowohl den Senat als auch den Kongreß, so daß die Demokraten in beiden Kammern der Legislative in die Defensive gedrängt sind. Ohne Beteiligungsmöglichkeit an der Gesetzgebung können sie die republikanische Dampfwalze bestenfalls aufhalten. Im Fall seiner Wiederwahl hätte Bush die Möglichkeit, bis zu vier oberste Richter des Supreme Court durch Konservative zu ersetzen, die das "Roe vs. Wade"-Urteil von 1973, das Abtreibung in den USA legal machte, kippen könnten. All dies hat bei liberalen Wählern tiefe Beunruhigung ausgelöst und dafür gesorgt, daß im November weit mehr auf dem Spiel steht als das persönliche Schicksal des amtierenden Präsidenten.

Um das Wahlergebnis von 2000 zu veranschaulichen, strahlte CNN eine Karte aus, die die USA in rote (republikanische) und blaue (demokratische) Staaten aufteilte. Bush siegte in 29 der 51 US-amerikanischen Bundesstaaten, zu denen der gesamte Süden bis auf New Mexico, aber nur ein einziger Staat im Nordosten, nämlich New Hampshire gehörte. Gore lag dafür in den bevölkerungsreicheren Staaten vorne: Kalifornien und Washington an der Westküste, dem Nordosten von Maryland bis Maine und den Staaten an den Großen Seen, darunter Minnesota, Michigan und Illinois. Florida stand bekanntlich unter Disput. Als der Supreme Court die dortigen Wahlmännerstimmen an Bush vergab, bedeutete dies den Wahlsieg für ihn, obwohl insgesamt mehr Menschen für Gore gestimmt hatten.

Das Auffällige an dieser Karte ist die Konzentration republikanischen Territoriums im Herzen des Landes, während die demokratischen Hochburgen an beiden Küsten liegen. Dieses Bild hat sich ins politische Bewußtsein der Amerikaner gefräst und eine Debatte über die tiefere Bedeutung der Spaltung zwischen den politischen Richtungen geführt. Rätsel gibt etwa die Tatsache auf, daß die Wähler in den roten Staaten durchschnittlich sehr viel ärmer sind als in den blauen Staaten und dennoch eine Partei unterstützen, die den Reichen Steuererleichterungen und andere Vorteile verschafft - ein klassischer Fall von falschem Bewußtsein, wie Marx es nannte.

Liberale Küstenstädte und konservative Zentralstaaten

Die Antwort ist in der Kultur zu suchen. Wähler in den roten Staaten sehen die liberalen Eliten der West- und Ostküstenstädte als säkular, für Homosexuelle und gegen die Familie, gegen Waffenbesitz und für Abtreibung, um nur ein paar der wichtigsten gesellschaftlichen Brennpunkte zu nennen. Die heftige Kritik dieser Eliten am Irak-Krieg und ihre Verachtung für Bush haben Wähler in den roten Staaten in ihrem Patriotismus und Nationalismus sowie in der Bereitschaft bestärkt, die republikanische Regierungspolitik zu verteidigen. Selbst wenn einige dieser Wähler innerlich an der Berechtigung des Irak-Kriegs zweifeln, ist unschwer nachvollziehbar, daß die liberalen Attacken sie um so unnachgiebiger werden lassen.

Guns, gays and God - Gewehre, Schwule und Gott sind deshalb die Symbole, anhand derer sich erklären läßt, warum Bush dem Chaos im Irak und der als schwach wahrgenommenen Wirtschaft zum Trotz in den "roten Staaten" weiterhin so starke Unterstützung genießt. Von kulturellen Fragen einmal abgesehen befürworten selbst Amerikaner der Unterschicht Steuerkürzungen. Denn jeder lebt in der Hoffnung, demnächst im Lotto zu gewinnen oder sonstwie über Nacht reich zu werden. Anders als in Europa sieht der Durchschnittsamerikaner den Wohlfahrtsstaat nicht als Gemeinwohl, sondern als Steuerlast.

Die amerikanische Linke bestreitet den diesjährigen Wahlkampf vor allem mit zwei Themen: soziale Gerechtigkeit und Kritik am Irak-Krieg. Allerdings wissen die Republikaner sehr genau, mit welchen politischen Taktiken die demokratische Offensive zu entschärfen ist. Beide Parteien haben externe Organisationen herangezogen, um an die niedrigsten Instinkte der Wähler zu appellieren. So stellten MoveOn.org und andere liberale Aktivisten Bush als tolpatschigen Idioten, Kriegsverbrecher oder schlimmeres dar, während republikanische Gruppen wie die Swift Boat Veterans Kerrys Verhalten als Soldat in Vietnam und seinen Patriotismus in Zweifel ziehen.

Amerikaner behaupten, Schmierkampagnen unerträglich zu finden, aber Umfragen zeigen immer wieder, wie wirksam sie sind, von ihrem hohen Unterhaltungswert ganz zu schweigen. Daher wird dieser Wahlkampf von Tag zu Tag dreckiger. Der unerwartete Erfolg von Michael Moores neuem Film "Fahrenheit 9/11" - eher Demagogie als Dokumentation - ist ein gutes Beispiel für den öffentlichen Appetit auf politische Schlammschlachten.

Daß die Meinungsforscher einen sehr knappen Wahlausgang vorhersagen, überrascht nicht. Ohne den 2000 für die Grünen und nun als Unabhängiger kandidierenden Ralph Nader stehen Bush und Kerry etwa bei je 48 Prozent. Verbraucheranwalt Nader könnte Kerry zwei Prozent kosten.

Diese Wahl wird sich in einigen wenigen hart umkämpften Bundesstaaten entscheiden. Umfragen zeigen auch, daß in diesem Jahr doppelt so viele Wähler den Wahlkampf mit Interesse verfolgen wie vor vier Jahren und die meisten von ihnen sich bereits für einen der Kandidaten entschieden haben. Dies erklärt, warum die Prozentzahlen relativ stabil scheinen.

In diesen Zahlen spiegelt sich ein Land wider, das nicht nur geteilt ist, sondern sich in zwei verschiedene Länder zu spalten beginnt. Bushs Welt ist provinziell, patriotisch, fromm und traditionell, Kerrys städtisch, kosmopolitisch, säkular und modern (oder postmodern). Diese Wahl wird entscheiden, welches dieser beiden Gesichter Amerika in den nächsten vier Jahren zeigen wird. Deshalb sind die Augen der ganzen Welt auf sie gerichtet.

 

Elliot Neaman, Jahrgang 1957, ist Professor für Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.

Fotos: US-Präsident George W. Bush auf einer Wahlkampfveranstaltung in Columbus, Ohio: Im Fall seiner Wiederwahl hätte er die Möglichkeit, bis zu vier Richter des Supreme Court durch Konservative zu ersetzen / Stimmenverteilung bei der Präsidentschaftswahl 2000: Klare Mehrheit für Bush in den bevölkerungsarmen Flächenstaaten


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