© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/04 03. September 2004

Nagelprobe islamischer Toleranz
Religionen: Die kleine Minderheit der Christen in der Türkei erfährt trotz offizieller Lippenbekenntnisse Repressalien
Karsten Jung

Das Christentum auf dem Gebiet der heutigen Türkei hat eine lange Tradition. Im Jahr 48 nach Christus reist der Apostel Paulus von Antiochia am Orontes aus nach Norden, in die römische Provinz Galatien. Dort gründet er die ersten christlichen Gemeinden.

Abgesehen von Antiochia selbst und wahrscheinlich Rom sind hier die ersten Christen außerhalb Palästinas. Paulus bereist Städte mit so klangvollen Namen wie Ikonion, Lystra, Antiochia ad Pisidiam, Milet, Smyrna und Ephesus. Er arbeitet geschickt: Er predigt zunächst in den Synagogen, in Ephesus auch im Tempel der Diana. Nach dem Bericht der Apostelgeschichte hat er damit sogar so großen Erfolg, daß er die Andenkenhändler im Tempel in wirtschaftliche Probleme stürzt. Das Christentum muß sich gegen die anderen Religionen behaupten. Das tut es mal besser, mal schlechter. Verärgert schreibt Paulus den ersten Christen in Galatien bald nach der Gründung der Gemeinden einen Brief, der heute als eine der Grundquellen christlicher Lehre gilt. Der Galaterbrief ist das erste Dokument dieser neuen christlichen Religion, die sich von jüdischen und heidnischen Wurzeln emanzipiert hat. Die junge Religion des Christentums hat auf heute türkischem Boden ihren Kern entwickelt: Aus dem Verkündiger Jesus von Nazareth wurde der verkündigte Christus. Aus dem gut jüdischen "Liebe den Herrn und deinen Nächsten wie dich selbst" Jesu von Nazareth wird in Ephesus durch den Evangelisten der Anspruch Christi: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben". Gegenüber der Gesetzesreligion des Judentums und dem Eudämonismus der griechischen Philosophie entstand in Galatien durch Paulus die Religion, die Gesetzesfreiheit und Selbstbindung, Glaube und Gnade in einem Konzept zu verbinden wußte, das seitdem von keiner anderen Religion wiederholt wurde.

Von 68,8 Millionen Türken nur etwa 150.000 Christen

Doch wie sieht die Lage der Christen auf dem Nährboden der Christenheit, den Kleinasien einst bildete, heute aus? Etwa 150.000 Christen machen in der Bevölkerung von 68,8 Millionen gut 0,2 Prozent der Bevölkerung aus. Dabei sind die wenigen Christen noch in insgesamt fünf größere Konfessionen aufgespalten. Neben evangelischen und römisch-katholischen Christen gibt es Orthodoxe verschiedener Nationen sowie mit einem nicht geringen relativen Anteil die armenisch-orthodoxe und die syrischen Kirchen. Armenier und Syrer bilden in der christlichen Welt der Türkei insoweit eine Sondergruppe, als daß sie bereits seit 451 eigene Konfessionen mit eigenen Dogmen bilden, was die Zusammenarbeit mit Protestanten, Katholiken und Orthodoxen zusätzlich erschwert.

In der öffentlichen Meinung gilt die Türkei als laizistischer Staat. Gern wird die strikte Trennung von Staat und Religion nicht nur als unerschütterliche Staatsdoktrin vorgestellt, sondern auch als Beispiel eines wandlungs- und an westliche Standards anpassungsfähigen Islam wahrgenommen. Gewiß, verglichen mit manch anderem islamischen Land ist der Einfluß der moslemischen Glaubensgemeinschaften geringer, als es der islamischen Vorstellung der Staatsgestaltung mittels des durch den Koran autorisierten Gesetzes, der Scharia, entspricht. Das darf aber nicht dazu verleiten, daß manches Problem in Deutschland verzerrt oder auch gar nicht wahrgenommen wird. Das Bild von der Türkei als islamischem Musterländle ist in jedem Fall der Nachfrage wert.

Ein Beispiel für die Verzerrung der Wahrnehmung ist das Kopftuchverbot, das an türkischen Schulen, Universitäten, in Ämtern und anderen öffentlichen Einrichtungen gilt. Hierbei handelt es sich in erster Linie nicht etwa darum, daß der Staat seine Unabhängigkeit vom Islam ausdrücken will und daher ein religiöses Symbol verbietet. Das Verbot gilt nicht dem religiösen Symbol, sondern dem auf dem Trittbrett der Religion zum Ausdruck gebrachten politischen Anspruch, eine fundamentale Veränderung hinsichtlich der Rechtsordnung des bestehenden Staates herbeiführen zu wollen. Das türkische Kopftuchverbot ist nicht Zeichen einer religiösen Liberalität, sondern steht in etwa auf der gleichen Ebene, auf der auch in Deutschland das Tragen verfassungsfeindlicher Symbole verboten ist.

Nicht erst seit dem Wahlsieg der islamischen Partei AKP unter Tayyip Erdogan 2003 haben Christen in der vorgeblich laizistischen Türkei einen schweren Stand. Im Gegenteil: Die Befürchtungen, die mit Erdogans Wahl verbunden waren, haben sich nicht bewahrheitet. Erdogan packte kurz nach Regierungsübernahme das heiße Eisen des Christentums an und forderte, daß die Benachteiligung des Christentums ein Ende haben müsse. Wenngleich das wohl ein Lippenbekenntnis war, so hat sich die Situation für die Christen im großen und ganzen weder verbessert noch verschärft. Ihre offensichtliche Schlechterstellung war bereits vorher integraler Bestandteil der türkischen Innenpolitik.

Status der Christen ist nur teilweise gesetzlich garantiert

Die Grenzen zwischen geduldeter und staatlich geförderter islamischer Religiosität waren stets verschwommen. Daß die Türkei eine massive finanzielle Förderung des Islam betreibt, ist in Europa nur wenig bekannt. Um das Bild des Laizismus nach außen zu wahren, werden Förderungen oftmals mit gewissen Auflagen oder Einschränkungen verbunden. Immer wieder haben sich islamistische Parteien gegründet und wurden einige Zeit später verboten (Refah-Partei 1998, Fazilet-Partei 1999). Gleichzeitig ist die Unterstützung des Islam offensichtlich: So finanziert beispielsweise der Staat die religiös ausgerichteten Imam-Hatip-Schulen und bezahlt den Lehrkörper. Gleichzeitig werden Auflagen bezüglich des Tätigkeitsfeldes gemacht. Der Staat fördert den Bau von Moscheen, Strom und Wasser werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, die religiösen Beamten - mindestens 70.000 - werden vom Staat besoldet. Zu diesen religiösen Beamten zählen neben den Fachleuten für den Bau und den Unterhalt von Moscheen auch Imame, Muftis, Prediger, Gebetsrufer und Religionslehrer für Korankurse.

Der Status der Christen in der Türkei ist nur teilweise gesetzlich garantiert. Hier spielen die Konfessionsunterschiede eine große Rolle. Der 1923 geschlossene Lausanner Vertrag, der die völkerrechtliche Grundlage für das damals entstandene Staatsgebilde der Türkei darstellt, unterscheidet den Status der Christen je nach ihrer Konfession. Expliziten Schutz genießen nach türkischer Interpretation nur die Gruppen, die in der Türkei bei Abschluß des Vertrages existierten, also die griechisch-orthodoxe und die armenisch-orthodoxe Kirche sowie die Juden. Religiöse Gruppen, die der Vertrag nicht nennt, sind rechtlicher Unsicherheit ausgeliefert. Dies betrifft Katholiken und Protestanten, deren Stellung faktisch besser ist, weil bei ihnen der Anteil an Ausländern, vor allem Diplomaten und Geschäftsleuten, besonders hoch ist. Es betrifft aber auch die syrisch-orthodoxen Christen, deren Lage ausgesprochen schlecht ist.

Das Problem für viele Christen liegt darin, daß nach Artikel 24 der türkischen Verfassung zwar die individuelle Religionsfreiheit gewährleistet ist - jeder Mensch kann also an dem religiösen Ritus teilnehmen, den er bevorzugt. Die Zugehörigkeit zum Christentum ist im Personalausweis vermerkt. Im Alltag bedeutet das allerdings zunächst einmal, daß der Christ oftmals Diskriminierungen und einem immensen Assimilierungsdruck durch seine Umwelt, vor allem im Kontakt mit Behörden, ausgesetzt ist.

Dieses Recht auf Religionsfreiheit gilt aber nicht für die Religionsgemeinschaft selbst: Das Recht auf Durchführung von Gottesdiensten oder zum Unterhalt der dazu erforderlichen Einrichtung ist nicht verfassungsmäßig garantiert. Dem Neubau, teilweise sogar der Renovierung von Kirchen sind erhebliche Hindernisse entgegengesetzt, die manchem unüberwindlich scheinen.

Es ist also zwar offiziell unproblematisch, sich zu einer anderen Religion als dem sunnitischen Islam zu bekennen, ihre Ausübung aber gestaltet sich teilweise schwierig. Davon betroffen sind nicht allein die Christen, sondern auch die Aleviten, eine heterodoxe islamische Gruppe, die etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmacht und die sich staatlicher Missionierung zum sunnitischen Islam ausgesetzt sieht.

Ausbildung der Geistlichen ist nahezu unmöglich

Wie sieht nun das Leben der einzelnen christlichen Minderheiten aus? Das Leben der größten Gruppe, der armenisch-orthodoxen Kirche (zirka 65.000, davon 60.000 in Istanbul) ist noch immer bestimmt durch den in der Türkei nicht aufgearbeiteten Völkermord an den Armeniern. Ein Teufelskreis ist die Rahmenbedingung ihrer Lage: Wird aus Westeuropa der Ruf laut, die Türkei möge sich endlich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen und die offizielle Leugnung des Völkermordes aufgeben, schlagen Wellen der Empörung hoch, die die Alltagssituation der Armenier nicht verbessert.

Ähnlich unangenehm ergeht es den griechisch-orthodoxen Christen. Der Patriarch von Konstantinopel ist nach griechischem Verständnis bereits seit altkirchlicher Zeit das Oberhaupt der Orthodoxen Kirche, der Papst des Ostens. Diese Funktion wird von der Türkei aber nicht anerkannt, die den Patriarchen lediglich als Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Minderheit anerkennt. Das Problem wird auftauchen, sobald eines Tages ein Nachfolger des jetzigen Patriarchen gewählt werden muß: Nach türkischem Verständnis muß dieser türkischer Staatsbürger sein und seine Ausbildung in der Türkei genossen haben. Da aber die Behörden die theologische Hochschule des Patriarchats, die einzige christliche Hochschule des Landes, bereits 1971 geschlossen haben und trotz starker Proteste daran festhalten, wird die Wahl eines Nachfolgers vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt.

Die Schließung der Hochschule führt dazu, daß die Ausbildung der Geistlichen nahezu unmöglich geworden ist. Das großzügige Angebot der türkischen Regierung, man könne den theologischen Nachwuchs an staatlichen Universitäten, ähnlich in Deutschland, ausbilden lassen, wurde von den Kirchen abgelehnt. Nicht ohne Grund: denn während in Deutschland Theologieprofessoren selbst Christen sein müssen, schwebte der türkischen Regierung vor, die angehenden christlichen Geistlichen durch moslemische Professoren zu unterrichten.

Ein weiteres Problem: Es gibt starke Berufsbeschränkungen für Ausländer. Ein solches Berufsverbot erstreckt sich auch auf den Beruf des Geistlichen, so daß beispielsweise der Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde nur mit Diplomatenpaß als Mitarbeiter des Generalkonsulats einreisen kann. Die Tücken dieser Konstruktion sind dann ersichtlich, wenn es um die Einstellung weiterer Mitarbeiter geht. Das ist in der kleinen deutschen Gemeinde noch erträglich - dem orthodoxen Patriarchen, der als Oberhaupt über dreißig Millionen Menschen eine Reihe von Mitarbeitern unterstellt sind, erwachsen aus dieser Vorschrift massive Probleme. Seine Mitarbeiter müssen alle drei Monate aus der Türkei ausreisen und mit einem Touristenvisum einreisen - das kostet Zeit und Geld. Auch der geistliche Nachwuchs kann nicht aus dem Ausland geholt werden - mit erheblichen Kosten müssen also junge Theologiestudenten mit türkischer Staatsangehörigkeit zum Studium ins Ausland geschickt werden, verbunden mit dem Restrisiko, daß diese dann gleich dort bleiben.

Alle christlichen Organisationen sind zudem von einem weiteren massiven Problem betroffen. Eine noch unter Atatürk erlassene Regierungsverordnung garantiert zwar Alteigentum an Grundstücken, verbietet aber religiösen Organisationen den Neuerwerb. Diese Regelung fand bis 1972, also knapp fünfzig Jahre lang, keine Anwendung. Danach wurde sie zur Diskriminierung der Christen hervorgekramt: Wer nicht nachweisen kann, daß seine Kirche auf Grund steht, der bereits vor 1923 erworben war, wird enteignet.

Die anhaltenden Diskussionen um den EU-Beitritt der Türkei machen es notwendig, die Situation der Christen in dem vermeintlich laizistischen Land genau zu betrachten. Während von staatlichen Stellen und Menschenrechtsorganisationen der Schwerpunkt auf die Benennung von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang des Umgangs mit der kurdischen Minderheit oder bezüglich der immer wieder auftauchenden Foltervorwürfe gegenüber der türkischen Polizei gesetzt wird, führt die Situation der Christen in der Türkei ein mediales Schattendasein. Interesse findet das Thema oftmals nur in kleinen kirchlichen und konservativen Kreisen. Zu schnell läuft man in Deutschland Gefahr, sich dem Vorwurf des Fundamentalismus oder der mangelnden Dialogbereitschaft auszusetzen, wenn man nach der Lage der Christen in der Türkei fragt. Obwohl sich das Messen mit zweierlei Maß im Bereich der Menschenrechte von Grund auf verbieten sollte, sind die Christen in der Türkei beispielsweise neben den Vertriebenen im öffentlichen Diskurs ein gebranntes Kind. Solange aber in Europa weitgehend die Bereitschaft fehlt, die Situation der asiatischen Christen als Problem auch für die Frage eines engeren Verhältnisses der Türkei zum christlichen Abendland wahrzunehmen, steht jeder Dialog auf einem dünnen Fundament. Nichtsdestotrotz darf auch nicht übersehen werden, daß die türkischen Christen große Hoffnungen in einen EU-Beitritt der Türkei setzen, versprechen sie sich doch davon eine Verbesserung ihrer rechtlichen Lage.

 

Karsten Jung ist evangelischer Theologe.

Foto: Betende Christin in der Istanbuler St. Antonius-Kirche: Jeder Dialog steht auf einem dünnen Fundament


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen