© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/04 10. September 2004

Nationales Kulturerbe
Das Brandzeichen von Weimar
Thorsten Hinz

Die Verbindung zum Mittelalter ist nun auch abgebrochen", notierte Ernst Jünger anläßlich der Zerstörung der deutschen Städte durch den Bombenkrieg. Es braucht einen Satz von dieser Qualität, um den Schaden zu benennen, der beim Brand der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar entstanden ist. Ihn in Geld beziffern zu wollen, wäre unsinnig, denn hauptsächlich ist es ein immaterieller Verlust. Eine alte Bibliothek ist mehr als die Summe ihrer Bücher. Sie umfaßt auch die Bezüge, die horizontalen und vertikalen Verbindungslinien zwischen den einzelnen Exemplaren. Eine Bibliothek wie die in Weimar ist ein labyrinthischer Kosmos, dessen Gehalt und Bedeutung niemals ganz ausgeschöpft werden kann und der deshalb jeden Tag eine neue Herausforderung darstellt. Hier war es ein Kosmos deutscher Kultur und Geistigkeit, der den Krieg glücklich überstanden hatte. Mögen jene Bücher, die schon Goethe berührt hatte, in anderer Form - als Fotokopien, Nachdrucke oder Neuausgaben - weiterhin vorhanden sein, der Verlust der Originale ist so unwiderruflich wie herzzerreißend. Dahingegangen ist die Aura, jener schicksalhaltige Atem nämlich, mit dem die alten Bücher den Leser anhauchten. Die Aura ist nach Walter Benjamin die "Erscheinung einer Ferne", die sich in ihr unserer bemächtigt. Über den optischen und taktilen Reiz ergreift den Menschen die Ahnung von Sinn- und Traditionszusammenhängen, von Dauer und Transzendenz. Im auratischen Moment sieht er sich auf die religiösen Ursprünge und Dimensionen von Kunst und Kultur verwiesen.

Bittere Fragen werden zu klären sein: Wie konnte es sein, daß in der Anna-Amalia-Bibliothek, in der Kronjuwelen der deutschen Kultur aufbewahrt wurden, 14 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer keine modernen Elektro- und Brandschutzanlagen installiert waren? Hunderte von Milliarden sind in den "Aufbau Ost" geflossen, unnütze Gewerbegebiete schieben sich heute wie Geröll in die Landschaft, Hunderte Millionen wurden für überflüssige Spaßbäder, überdimensionierte Abwasseranlagen, für Rennpisten und Straßen ausgegeben, die ins Nichts führen. Kruder Ökonomismus und Materialismus hat sich mit einem gesellschaftlichen Bewußtsein verbunden, welches am Horizont der Spaßgesellschaft endet.

Während in Weimar das Geld fehlte, stand und steht es für aberwitzige Denkmalsprojekte reichlich zur Verfügung. Man kann daher den Brand auch als schicksalhaften Nachvollzug des Paradigmenwechsels in der deutschen Kultur- und Gedenkpolitik betrachten, den die politischen Eliten in Gang gesetzt haben. Oder als flammenden Protest, den das kulturelle Erbe selber dagegen einlegt. Man wird auch ernsthaft darüber diskutieren müssen, wie lange Deutschland sich das undurchsichtige Gestrüpp aus Kulturföderalismus, Bundeszuschüssen, Mischfinanzierungen und unklarer Kompetenzverteilung noch leisten will. Man möchte hoffen, daß der Brand von Weimar zu einer Katharsis, zu neuer Ehrfurcht und echten Maßstäben führt.


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