© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/04 10. September 2004

Pankraz,
Dionysos und die Gier der Igel nach Nikotin

Sehr beeindruckt hat Pankraz ein neuer Streifen unserer trefflichen Naturfilmer, in dem gezeigt wird, wie Tiere in Rausch verfallen, wie sie gierig nach Rausch sind, welche Tricks sie anwenden, um an Rauschmittel heranzukommen. Man sieht da, daß Volltrunkenheit oder Drogenkonsum keineswegs menschliche Privilegien sind, daß sie offenbar in der Natur angelegt sind.

Zu besichtigen sind nicht nur jene schon länger bekannten Aufnahmen aus der namibischen Etoscha-Pfanne, wo sich Elefanten und anderes Großgetier mit Hilfe bestimmer überreifer, gärender, vom Baum heruntergefallener Früchte einen offenbar äußerst fröhlich machenden Alkoholrausch anessen, sondern z.B. auch spektakuläres Bildmaterial aus Madagaskar, auf dem man Halbaffen beobachten kann, wie sie bestimmte hochgiftige Tausendfüßler am Bauch kitzeln, damit sie von ihnen gestochen werden. Die Lemuren verfallen daraufhin sichtlich in einen Zustand höchsten Behagens und tolldreister Wonne, den das Gift in ihnen auslöst.

Weiter gibt es Adler, die eifrig an hochgiftigen Kräutern zupfen und sogar ihre Jungen im Nest daran zupfen lassen. Es gibt Rentiere, die gierig halluzinogene Fliegenpilze verschlingen, welche sie auch noch aus dem dicksten nordischen Schnee ausgraben. Und es gibt ganz normale mitteleuropäische Gartenigel, die erstaunlich scharf auf Nikotin sind und deshalb regelrecht Jagd auf weggeworfene Zigarettenkippen machen. Die aktuellen Antiraucher-Kampagnen, so lernt man, treffen nicht nur viele menschliche Jugendliche, die sich durch keinerlei Preissteigerung vom Zigarettenkonsum abhalten lassen, sondern nebenbei auch viele erwachsene Igel.

Ein Biologe, mit dem zusammen Pankraz den Film sah, reagierte verärgert. Er glaubte nicht an tierische Rauschgier. "Die Adler", sagte er, "benutzen die Kräuter als Abwehr gegen Milben im Gefieder, und so ähnlich wird es mit den anderen Mitteilungen auch sein. Alles hat seine nützliche Ursache."

Fragt sich nur, woher die Tiere so schnell wissen, was ihnen "nützlich" ist, ihnen also im Überlebenskampf dauerhaft hilft. Ein Lemur, der einige Male zufällig von einem Tausendfüßler gestochen wird und danach in Wonne fällt, mag tatsächlich lernen, daß zwischen Stich und Wonne ein zeitlicher und mithin ursächlicher Zusammenhang besteht. Daß die Wonne aber à la longue seiner Gesundheit schaden könnte, im vorliegenden Falle indessen zunächst einmal gerade nicht schadet, sondern sogar nützt, indem sie die Zecken aus seinem Fell vertreibt - derlei Ursachenketten zu durchschauen und daraus nützliche Schlußfolgerungen zu ziehen, übersteigt wohl die Möglichkeiten eines Lemurenhirns.

Bis zum genauen Beweis des Gegenteils ist Pankraz also geneigt, an die Rauschgier höherer Tiere zu glauben. Die Erfahrung des Rausches ist primärer, ursprünglicher, "tierischer" als planvolle Gesundheitspolitik. Beim Menschen verhält es sich doch um keinen Deut anders! Bevor er lernte, daß Rauchen, Trinken und Koksen seiner eigenen und der Volksgesundheit schaden, genoß er erst einmal die Wonne primärer Erfahrungen. Der Rausch verschaffte ihm Dispens von den Notwendigkeiten des gewöhnlichen Lebens, eröffnete ihm unerahnte Dimensionen individuellen und kollektiven Seins, ja, unmittelbaren Kontakt zu den Göttern; man denke an die Drogeneinnahmen bei Gottesdiensten der "Naturvölker"!

In Rausch fallen bedeutet gegen die eigene Natur agieren, gewisse auf Nützlichkeit und Überleben programmierte Gehirnregionen zeitweise lahmzulegen oder zu verwirren. Selbst wenn das der Gesundheit nicht generell schadet, ist es doch eine momentane Deformation dessen, was die Evolution uns mitgegeben hat, damit wir optimal über die Runden kommen. Es ist ein im Grunde unerhörter Akt der Freiheit, wahrscheinlich die Geburt der Freiheit überhaupt und gleichzeitig der Beweis, daß es sie wirklich gibt. Wir handeln im Rausch gegen unser Gehirn. Wir benutzen es, statt daß es uns benutzt. Wir machen es ohne Wenn und Aber zu dem, was es auch wirklich ist: zum Instrument unseres Handelns (nicht zum Herrn unseres Handelns).

Natürlich ist das ein riskantes Unternehmen, weil kein Lebewesen auf Dauer er­folgreich gegen seinen eigenen Körper agieren kann. Die ungeheu­re Plastizität des menschlichen Gehirns erlaubt zwar vieles, doch allzu häufiges Lahmlegen und Umfunktionieren rächt sich, führt zu bleibenden Aus­fällen und Deformationen, die tödlich sein können.

Trotzdem hat schon der frühe Mensch gewagt, sich phasenweise dem Rausch hinzugeben, und zwar nicht aus zufälligem individuellem Begehren, sondern um in kollektiver Übung direkt mit den Göttern zu reden, spontan und gleichsam vollkörperlich in "übernatürliche", transzendente Bezirke einzutreten. Das ist zweifellos ein außerordentlich vornehmes Pedigree, das der Rausch da für sich reklamieren kann, auch wenn damit allenfalls erst die halbe Wegstrecke zu Freiheit und Verantwortung zurückgelegt war.

Es war, um mit Nietzsche zu sprechen, die "dionysische" Energieebene erreicht, die der formende, "apollinische" Geist braucht, damit der Mensch zu wahrhaft kulturellen Gestalten aufsteigen kann. Dieser apollinische Geist setzt das Gehirn sofort wieder in seine volle Funktionalität ein, auch und gerade im Gottesdienst, der mit Vernunftkategorien untermauert, mit verläßlichen Riten umflankt, mit Behutsamkeit zelebriert werden will. Bloße rauschhaft-dionysische "Vereinigung mit Gott" führt ins Nichts; alle Kleriker wissen das.

Erquickend aber bleibt dennoch die durch schöne Tierfilme bekräftigte Überzeugung, daß es schon im höheren Tierreich einen dionysischen Ansatz zu echter Spiritualität gibt. Dieser zeigt sich u.a. in der Begeisterung von Lemuren für Tausendfüßler-Stiche und in der Sehnsucht von Igeln nach Zigarettenkippen.


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