© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/04 17. September 2004

Ende der Illusionen
Polnische Reparationsforderungen belasten das Verhältnis zu Deutschland
Doris Neujahr

Die deutsche Politik erlebt einen Realitätsschock. Die Entschließung des polnischen Parlaments, das die Regierung auffordert, von Deutschland Entschädigung für nie kompensierte "Zerstörungen, die materiellen und nichtmateriellen Schäden" durch "Aggression, Völkermord und Verlust der Unabhängigkeit" zu verlangen, sowie die Gründung einer "Polnischen Treuhand" machen alles zu Makulatur, dessen man sich sicher wähnte - in erster Linie die Überzeugung, Deutschland müsse nur recht viel Buße tun und schon seien alle Konflikte mit den Nachbarn beseitigt.

Der Beschluß des Sejm erfolgte einstimmig, die Abgeordneten erhoben sich von den Plätzen. Es war eine leidenschaftliche, nationalistische Demonstration. Die Regierung in Warschau hat zwar erklärt, Entschädigungsforderungen an Deutschland seien kein Thema für sie, doch die Botschaft ist klar: Wir können auch anders! Und bald finden Wahlen statt, die die nationalistischen Parteien an die Macht spülen könnten.

Juristisch sind die Forderungen haltlos. Polen hat sehr wohl Reparationen erhalten, die aus den Leistungen abgezweigt wurden, die die Sowjetunion aus der SBZ/DDR entnahm. Außerdem haben Deutsche in Polen jahrelang Zwangsarbeit leisten müssen. Der 1953 ausgesprochene polnische Reparationsverzicht betraf ganz Deutschland, nicht nur die DDR. Es gibt den abschließenden Zwei-plus-Vier-Vertrag und den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991. Falls es hart auf hart kommt, müßte man auch die Erträge in Rechnung stellen, die Polen seit 1945 aus schlesischen Bodenschätzen und Industrieanlagen, aus pommerschen Häfen und masurischen Landwirtschaftsbetrieben gezogen hat. Fast vergessen ist das milliardenschwere Paket der "Polenverträge" aus den 1970er Jahren, die das Los der im Osten verbliebenen Deutschen erleichtern sollten und Renten-, Kredit- und Ausreisevereinbarungen umfaßten.

Deutsche Politiker enthalten sich - klugerweise - öffentlicher Polemik. Die meßbaren Reaktionen reichen dennoch über Schock, Ratlosigkeit bis hin zur Empörung. Die deutsche Politik gegenüber Polen befindet sich in einer Orientierungskrise. Hatte Deutschland sich denn nicht zum Vorreiter der EU-Mitgliedschaft Polens gemacht, wohlwissend, daß durch den Beitritt die eigene Nettozahler-Postion zementiert würde? Was bedeutet die beispiellose Aktion des Warschauer Parlaments für Brüssel und den europäischen Einigungsprozeß? War Berlin nicht großzügig bei der Streichung von Altschulden? Hat man nicht kurz nach der Wiedervereinigung für polnische Bürger die Visafreiheit eingeführt, und das sogar gegen die Bedenken der anderen EU-Länder? Auch die polnischen Zwangsarbeiter wurden bedacht, obwohl ihre Ansprüche durch das Rentenabkommen von 1975 bereits abgegolten waren. Und ist man nicht um des lieben Friedens willen bereit gewesen, die deutschen Ostgebiete von der deutschen Nationalgeschichte abzutrennen und sie als Mittelosteuropa-Histoire an die Vertreiberstaaten zu verscherbeln?
Jetzt heißt es, der Bund der Vertriebenen (BdV) mit seiner Forderung nach einem Zentrum gegen Vertreibungen und die angekündigten Restitutionsklagen der Preußischen Treuhand seien schuld an den zerrütteten Beziehungen. Solche Worte zeugen von Realitätsverlust. Der BdV ist einflußlos, und die Treuhand ist ein privater Zusammenschluß, der von allen relevanten Politikern in Deutschland in Acht und Bann getan wurde.

Wenn diese beiden Organisationen tatsächlich in der Lage sind, das deutsch-polnische Verhältnis zu unterminieren, heißt das nur, daß die deutsche Politik über dessen Qualität jahrelang Illusionen verbreitet hat. Sie will davon ablenken, daß der Versuch, aus dem Geist der eigene Schuldversessenheit eine "neue", "moralische", "postnationale" oder "europäische" Außenpolitik zu formulieren, sich als haltlose politische Romantik erwiesen hat.
In Deutschland macht sich Enttäuschung breit. Dabei bestätigt die aktuelle politische Situation nur die Erfahrungen aus der Individualpsychologie. Mit geduckter Haltung, vorauseilendem Gehorsam und Selbstanklagen gewinnt man weder Sympathien noch Vertrauen, sondern erweckt nur den Eindruck der Unaufrichtigkeit und der fehlenden Selbstachtung. Schließlich wird man als Prügelknabe behandelt, und jeder nachträgliche Versuch, diese Situation zu korrigieren, wird von der Gegenseite als Provokation und als Störung des bequemen Gewohnheitsrechts aufgefaßt.

Man wird zwischen Deutschland und Polen zum politischen Prinzip von Leistung und Gegenleistung zurückkehren müssen, wobei Deutschland wegen der politischen, ökonomischen und auch historischen Gegebenheiten mehr leisten muß. Darüber herrscht wohl allgemeiner Konsens. Die deutsche Politik hat die Verletzungen mitzubedenken, die Polen in der Vergangenheit zugefügt wurden, doch von der Mischung aus Naivität, historischem Halbwissen und Schuldbewußtsein muß sie sich endlich verabschieden, denn sie ist das Gegenteil eines politischen Konzepts.

Der Sejm-Beschluß hat klargestellt, daß nicht jede polnische Wortmeldung eine Stimme der geschichtlichen Vernunft oder der verfolgten Unschuld darstellt. Polens idealisiertes Selbstbild geht Hand in Hand mit politischem Kalkül. Könnte es sein, daß der verbale Kraftakt des Sejm auch dazu dient, deutschen Historikern die Lust zu nehmen, sich mit liebgewordenen Mythen, insbesondere aber mit der Politik Polens vor dem Zweiten Weltkrieg, näher zu befassen?
Ohne Ehrlichkeit und Klarheit über die Vergangenheit gibt es keine Zukunft. Der Versöhnungsrhetorik, das zeigt sich dieser Tage, wohnt der zerstörerische Keim der Verlogenheit inne, solange die Vertreibungsproblematik aus dem zwischenstaatlichen Dialog ausgeklammert wird. Das Wort "Versöhnung" hängt etymologisch mit "Sühne" zusammen. Die deutschen Sühneleistungen sind bekannt. Die polnischen Gegenleistungen können und müssen nicht aus Restitutionen bestehen, sie werden vor allem symbolischer Natur sein. Nichts verbittert die Vertriebenen mehr als die Aussicht, daß in den Geschichtsbüchern beider Länder künftig zu lesen sein wird, ihre Vertreibung sei das Normalste der Welt, zumindest aber berechtigt gewesen.

Dieser falschen Normalisierung - unter deren Oberfläche die Ressentiments weiterwuchern würden - hat die Preußische Treuhand einen Riegel vorgeschoben, und das polnische Parlament ist die Antwort darauf nicht schuldig geblieben. Die Nebelschwaden der Illusionen beginnen sich zu verziehen und geben den Blick frei auf die Realitäten. Für den Anfang ist das gar nicht schlecht.

Foto: Polens Staatspräsident Kwasniewski, Bundeskanzler Schröder: Jetzt knirscht es kräftig im Gebälk


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