© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/04 24. September 2004

Im Osten gärt es
Wahlen in den Neuen Ländern: Union und SPD können keine gemeinsame Vision mehr vermitteln/ Das Angebot von rechts- und linksaußen nimmt man deshalb gerne wahr
Doris Neujahr

Kaum flimmerten am Sonntag abend die ersten Wahlprognosen über den Bildschirm und kündigten den Wahlerfolg von DVU und NPD an, da kam auch schon die Erklärungsmaschine auf Touren. Es lag an der Desorientierung der Ostwähler, der von Demagogen geschürten Furcht vor Hartz IV, es lag am Weggang der Flexiblen und Klugen aus den Neuen Ländern und dem Verbleib des dümmlichen Bodensatzes, am Nichtangekommensein in der Bundesrepublik, an der unreflektierten Protesthaltung vor allem der Jugend und an der autoritären Erbschaft von über sechzig Jahren Diktatur sowieso.

Von allem trifft ein wenig zu, doch die Art und Weise, in der diese Binsenwahrheiten präsentiert wurden, verriet wieder eine Westperspektive, deren Verkünder aufgrund ihres numerischen Übergewichts immer noch glauben, eine kritische Prüfung des eigenen Inventars nicht nötig zu haben. Die aber wäre nötig, um die Motivation der Wähler von innen heraus zu verstehen. Um nur die autoritäre Ausprägung aufzugreifen: Die Wähler, soweit sie entsprechend artikulationsfähig sind, würden dieses Argument einfach umkehren und die Tabuisierung "rechter" Parteien, der sich die westdeutschen Wähler bis heute unterwerfen, selber als eine autoritäre, unreflektierte Handlungsweise betrachten, die dazu geführt hat, daß viele wichtige Probleme bis heute nicht angesprochen, geschweige denn gelöst worden sind. Diese Wähler werden ihr Kreuz für die NPD oder DVU als einen antiautoritären Emanzipationsakt interpretieren.

Es entlud sich das Gefühl der Fremdbestimmung

Neun bzw. sechs Prozent Wählerstimmen sind bei einer Wahlbeteiligung von unter sechzig Prozent nicht atemberaubend viel, man soll das Ergebnis deshalb nicht überschätzen. Unterschätzen jedoch auch nicht, denn es ist auch eine andere Deutung möglich: Die Wahlenthaltung erfolgte entgegen den Aufrufen von Politikern, Kirchen, Gewerkschaften, Spitzensportlern und Künstlern, den prozentualen Stimmanteil von DVU und NPD durch einen massiven Urnengang zu reduzieren. Der Überdruß an den etablierten Parteien war allgemein größer als die Furcht vor dem Einzug einer radikalen oder extrem rechten Partei ins Landesparlament. Viele von denen, die sich der Stimme enthielten, haben den Erfolg von DVU bzw. NPD zumindest billigend in Kauf genommen. Vor allem junge Leute haben sie gewählt. Vielen kann man unterstellen, daß ihre Entscheidung eine Stimmung wiedergibt, die sie zu Hause erfahren haben, die ihre Eltern aber nicht artikulieren würden.

Was sich - unter anderem - entlud, war das Gefühl der Fremdbestimmung durch die etablierten, die "West"-Parteien. Es wurde durch die anschließenden Ereignisse bestätigt. SPD-Chef Franz Müntefering erklärte, man müsse den Leuten klarmachen, daß sich die Wahl rechter Parteien nicht gehöre. Da sprach der Oberlehrer aus dem Sauerland, der die Menschen vom sozial-demokratischen Charakter seiner Partei nicht mehr überzeugen kann und nun den Rohrstock hervorholt. Kanzler Schröder und andere hatten zuvor gewarnt, bei einem Erfolg der "Rechtsparteien" blieben internationale Investitionen aus, was bei den potentiellen DVU/NPD-Wählern nur den Verdacht nährte, daß sie sich als Funktionäre des internationalen Finanzkapitals begreifen.

Die Journalisten des öffentlich-rechtlichen Fernsehen versagten vollständig, als sie der kleinen Liane Hesselbarth von der DVU permanent das Wort abschnitten und damit den immerhin 71.000 DVU-Wählern - und Gebührenzahlern - gleichfalls ihre Miß- und Verachtung bezeugten. NPD-Mann Holger Apfel schien nichts anderes erwartet zu haben. Es machte ihm sogar Spaß, seinerseits gegen die kopflose Aufgeregtheit im Studio anzuschreien - was ihm auch außerhalb seiner Wählerschaft ein anerkennendes Kopfnicken eingebracht haben dürfte.

Die unmittelbare politische Wirkung der Erfolge von DVU und NPD mag gering sein. An ihnen entzündet sich aber die Furcht der etablierten Parteien, das unberechenbare Wahlverhalten im Osten könne das Modell für künftige Wahlen im Westen liefern, zumal sich auch dort die sozialen Konflikte verschärfen werden.

Hinter der Annahme, der Osten würde eines Tages das westdeutsche Parteiensystem, seine Inhalte und sein Vokabular übernehmen, und dies sei dann die "Normalisierung", steckte viel unwissende Arroganz. Die lang anhaltende, relative Stabilität von SPD und CDU war vor allem charismatischen Politikern wie Kurt Biedenkopf und Manfred Stolpe zu verdanken. Stolpe agierte als letzter Reichsverweser der DDR und verschaffte der SPD in Brandenburg traumhafte Ergebnisse, worüber ganz vergessen wurde, daß seine Partei nur über 6.000 Mitglieder verfügt. 1999 war es mit der Herrlichkeit vorbei. In Sachsen hielt die CDU-Dominanz dank der überragenden Sachkompetenz Kurz Biedenkopfs noch länger an, bis Hartz IV auch hier die Verhältnisse umstürzte.

Man verweist auf die dünne politische Programmatik der "Rechts"-Parteien. Bei der DVU geht sie in der Tat über ein "Schnauze voll!" nicht hinaus. Die NPD mit ihrem "Grenzen dicht!" hat zur Lösung der ökonomischen Probleme ebenfalls nichts beizutragen. Davon einmal abgesehen ist der Gesellschaftsentwurf der NPD ziemlich klar. Die konzeptionelle Nähe zum Nationalsozialismus ist nicht bloß eine Behauptung des Verfassungsschutzes. Doch Begriffe wie (Neo)-Nazismus, Ausländer-, Demokratiefeindlichkeit usw. vernebeln die Wirkung der Partei auf junge Leute eher, als daß sie sie erklären. Dazu muß man die Logik ihrer Argumentation anhand ihrer Publikationen vorurteilsfrei beschreiben.

Zentral ist die Gemeinschaftsidee, die sie einem als kalt empfundenen Individualismus entgegensetzt. In den Ohren der Verfassungs- und Sprachwächter klingt die Propagierung der "Gemeinschaft" bereits verdächtig, weil dadurch die Würde des Einzelnen gegenüber dem Kollektiv zweitrangig erscheint. Ein geschulter NPD-Funktionär würde mit dem Vorwurf "staatlich geförderter Asozialität" kontern und Meinhard Miegel, einen Wirtschaftsliberalen mit Herz, zitieren: "Menschen sind von Natur aus sozial, zu deutsch gesellige, gesellschaftliche Wesen. Sie sind auf andere Menschen hin angelegt. Sie bedürfen ihrer existentiell. Ohne sie verkümmern sie körperlich, geistig, kulturell. (...) Nicht nur die Würde, auch das Soziale des Menschen, seine Einbettung in die Gesellschaft, ist unantastbar. Wird das Soziale beschädigt, nimmt das Menschsein selbst Schaden."

Dieser Schaden, die Auflösung der sozialen Bindungen, tritt ein durch die Unterordnung der Gesellschaft unter die Logik der Ökonomie und Globalisierung, wie sie zuletzt in den Hartz-IV-Gesetzen zum Ausdruck kommt. Diejenigen gelten als erfolgreich, die jede Bindung von sich streifen, sich als frei flottierende, stets einsatzbereite, verwertbare Funktionen im Wirtschaftsbetrieb begreifen und damit ihrer Beschädigung zustimmen. Es gibt viele, die das nicht können - weil sie über die Eigenschaften, die gerade am Markt gefragt sind, nicht verfügen - oder nicht wollen, weil ihre Vorstellungen von einem erfüllten Leben andere sind.

Bis hierher geht die NPD-Argumentation mit der linken Sozialkritik konform, weshalb das NPD-Blatt Deutsche Stimme keine Schwierigkeiten hat, zustimmend aus dem vormaligen Zentralorgan der FDJ Junge Welt zu zitieren, das Hartz IV als "Enteignung jenes Teil der Bevölkerung" charakterisiert, "der für die Erwirtschaftung der Profite dauerhaft überflüssig geworden ist. (...) Die Millionen Betroffenen stehen dadurch völlig mittellos für Zwangsdienste jedweder Art zur Verfügung. (...) Die sogenannten Reformen sind die erzwungene sozialpolitische Entsprechung der zerstörerischen Wirkung der ökonomischen Gesetze der Gegenwart."

Es kennzeichnet die Armut der Reformdiskussion und der sozialdemokratischen Programmatik im besonderen, daß die Parteien nicht einmal mehr den Versuch unternehmen zu erklären, wie sie die Wirkung ökonomischer Gesetze steuern und begrenzen wollen und welches gesellschaftliche Zukunftsmodell sie haben. Im Osten, wo seit 1989 alle Strukturen umgemodelt wurden und die Menschen praktisch permanent in Bewegung sind, wirkt sich das Fehlen einer Zielbeschreibung verheerend aus.

Die Linke hat fraglos den Nachteil, daß sie aufgrund ihres traditionellen Internationalismus gegen eine Reihe von Erscheinungsformen der Globalisierung kaum Front machen kann. Das gilt insbesondere für die Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme. Dieses Problem trifft auch die PDS, die deshalb die Proteste gegen Hartz IV nur in sehr begrenztem Umfang auf ihre Mühlen leiten konnte. Ihr Internationalismus, der sie für die anderen Parteien - und längst auch für die Wirtschaft - akzeptabel macht, entfernt sie von den potentiellen Wählerschichten.

Die NPD dagegen argumentiert klar national. Für sie ist der Nationalstaat der Grenzzaun, der die Heimat schützt, diesen Ort der sozialen Verwurzelung und Bestätigung, durch die der Einzelne seine Würde erfährt.

Die Heimat ist - wieder aus dem Blickwinkel der NPD - einem Doppelangriff des internationalen Finanzkapitals ausgesetzt. Der vollzieht sich zum einen durch die ökonomische, gesellschafts- und sozialpolitische Entmachtung des Nationalstaats, die von Regierung und Parlament nur noch abgesegnet wird, zweitens durch die tatsächliche oder virtuelle Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen. Beides habe den Zweck, den Menschen zum besitz- und bindungslosen Partikel im Wirtschaftsbetrieb machen. Volkspädagogische Losungen wie "Wir sind alle Ausländer - fast überall!" wirken nicht beruhigend, sondern als Bedrohung, und staatliche Aktionsprogramme "gegen Rechts" lassen sich leicht als parasitäre Subsysteme des parasitären Finanzkapitals abtun.

Materiell auf den Stand von Asylbewerbern reduziert

Hartz IV hat das Gefühl der Entwurzelung in den Neuen Ländern ins Bedrohliche gesteigert und die Empfänglichkeit für die NPD-Argumentation erhöht. Die Versicherung, Arbeitslose würden nicht nur gefordert, auch gefördert, geht zwischen Ostsee und Erzgebirge wegen der fehlenden Arbeitsstellen ins Leere, genauso der Hinweis, die Empfänger von Arbeitslosenhilfe würden zwar schlechter, die von Sozialhilfe dafür besser gestellt. Der Status des Langzeitsarbeitslosen ist in der Ex-DDR weit häufiger als der des Sozialhilfeempfängers. Das hat mit den in der DDR begonnenen Arbeitsbiographien zu tun, die 1990 abrupt endeten und durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Umschulungen, Kurzzeitjobs intervallweise verlängert wurden.

Der Arbeitslosenstatus - wie fiktiv auch immer - stellte wenigstens eine symbolische Verbindung zur Arbeitswelt her, von dort bezogen die Betroffenen ihr Restgefühl an Würde. Dieses dünne Band wird nun gekappt, einen ideellen Ersatz kann ihnen die Gesellschaft nicht bieten, und materiell sehen sie sich im eigenen Land auf den Stand von Asylbewerbern reduziert. Von allen Transformationsgebieten des ehemaligen Ostblocks ist die Ex-DDR seelisch am unglücklichsten.

Wie wenig diese psychische Katastrophe im Westen wahrgenommen wird, zeigt ein Artikel in der FAZ, in dem Jürgen Kaube mit Blick auf die Arbeitspflicht in der DDR befand: "Arbeit war also ein praktisch unterschiedloser Begriff - wie hätte er sich zur Identitätsbildung eignen sollen? Was man nicht verlieren und nicht erwerben kann, definiert kein Selbst."

Im Frankfurter Redaktionsstübchen mögen solche Sätze stimmig wirken, mit der Lebenswirklichkeit haben sie nichts zu tun. Der Arbeitsplatz war in der DDR - in ganz anderer Weise als im Westen, denn Konkurrenz gab es hier nicht - auch der Ort der Kommunikation, der sozialen Kontakte, wo man Bekanntschaften schloß und Freundschaften pflegte. Auf Betroffene wirken solche Sätze daher wie ein Rausschmiß - nun auch noch aus der eigenen Vergangenheit. Da wundert man sich fast, daß NPD und DVU nicht noch mehr Stimmen erhalten haben.

Foto: Ein Dresdner in der Wahlkabine am 19. September: Seelisch am unglücklichsten


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