© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/04 01. Oktober 2004

Konzepte, aber keine Einsicht
Rechtschreibreform, Bildungsmisere: Christian Wulff will die Kultusministerkonferenz aushebeln
Thomas Paulwitz

Der Streit um die Rechtschreibreform geht in die nächste Runde. Die Akteure haben sich nun härtere Bandagen angelegt. Im Clinch mit der Kultusministerkonferenz (KMK) liegend hat der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) jetzt zum K.O.-Schlag ausgeholt: Am Wochenende gab Wulff bekannt, daß Niedersachsen das Länderabkommen über die KMK kündigen wird. Das bedeutet das Ende für die Konferenz in ihrer bisherigen Form.

Damit setzt Wulff wenige Tage vor der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) in Berlin, die am 6. Oktober beginnt und auf der auch über die Rechtschreibreform verhandelt wird, ein deutliches Ausrufezeichen. Für die als Sommerlochthema verunglimpfte Rechtschreibdebatte hat nun ein heißer Herbst begonnen. Im Oktober steht die Frage der deutschen Rechtschreibung auf den Tagesordnungen, sowohl auf den Treffen der MPK und später der KMK als auch auf der Frankfurter Buchmesse, die vom 6. bis 10. Oktober stattfindet.

In Paragraph 6 der Vereinbarung über die Kultusministerkonferenz heißt es unmißverständlich: "Die Kündigung durch ein Land bewirkt, daß das Abkommen mit Wirkung für alle Länder außer Kraft tritt." Das Sekretariat der KMK besteht noch ein Jahr, dann ist Schluß. Niedersachsen will einen Teil der 2,5 Millionen Euro, die es jährlich der KMK zahlt, für die Qualitätsverbesserung an Schulen einsetzen "statt für eine Bürokratie von 250 Leuten, die zum Teil nicht anderes tun, als vom grünen Tisch aus Konzepte theoretisch zu entwerfen und dann gegen gewichtige Einwände rechthaberisch zu verteidigen", so Wulff.

In einem Beitrag für die neueste Ausgabe der Zeitung Deutsche Sprachwelt schreibt der niedersächsische Ministerpräsident: "Es rächt sich heute, daß die Kultusministerkonferenz 1996 nicht die notwendige Einsicht und Kraft hatte, die sogenannte Rechtschreibreform anzuhalten." An Einsicht mangelt es der KMK auch heute noch: Am Montag verkündete sie einen Vorschlag für den Rat für deutsche Rechtschreibung, der nach den Worten der KMK-Präsidentin Doris Ahnen (SPD) "die Entwicklung der Schreibpraxis beobachten und die Rechtschreibung auf der Grundlage des orthographischen Regelwerks im notwendigen Umfang weiterentwickeln soll. Seine Vorschläge sollen durch Beschluß der zuständigen staatlichen Stellen für die Schulen und Verwaltungen verbindlich werden."

Die Kultusministerkonferenz geht damit in unbeschreiblicher Arroganz weiterhin über die Frage hinweg, wer es eigentlich zu verantworten hat, daß die Verordnung eines willkürlichen, fehlerhaften und unausgegorenen Regelwerks fern der "Sprachpraxis" die Einheit der Rechtschreibung zerstörte: sie selber nämlich. Auf der Grundlage der mißlungenen Reform soll nach dem Willen der KMK weiter an der Schriftsprache herumgemurkst werden, die Staatsgewalt soll den Schülern weiter Regeln eintrichtern, die sich nicht an der Sprachentwicklung ausrichten.

Außerdem heißt es: "In dem Rat haben ausdrücklich auch Kritikerinnen und Kritiker der reformierten Rechtschreibung einen Platz." Sieht man sich jedoch die von der Kultusministerkonferenz vorgeschlagenen Institutionen an, so fragt man sich, wo denn diese Kritiker herkommen sollen: Aus dem Institut für deutsche Sprache, das die Reform zum Teil ausgeheckt hat? Aus den Wörterbuchverlagen Duden und Bertelsmann, die an der Reform verdienen? Aus den anderen Institutionen und Lobbyisten, deren Sprecher sich überwiegend bedingungslos für die Reform eingesetzt haben?

Der Rat für deutsche Rechtschreibung ist also kleiner als ein Feigenblatt, das verdecken soll, daß man immer weiter an der Sprache herumfummeln will. Unterdessen hat sich Ende August unter gleichem Namen ein Gegenrat aus Reformgegnern als Verein formiert. Vorsitzender ist der Kulturjournalist Hans Krieger, "Rechtschreib-Rebell" Friedrich Denk eine der treibenden Kräfte (siehe Porträt auf Seite 3 dieser Ausgabe). Der Gegenrat will dem "Grundsatz Geltung verschaffen, daß die Sprache dem Volk gehört, und die orthographische Selbstregulierung zurückgewinnen".

Für den Vorsitz ihres Rates sucht die Kultusministerkonferenz immer noch händeringend "eine ausgewiesene Persönlichkeit des öffentlichen Lebens mit besonderen Bezügen zum Aufgabenfeld des Rates". Diese Persönlichkeit könnte der ehemalige bayerische Wissenschaftsminister Hans Zehetmair (CSU) werden. Ministerpräsident Edmund Stoiber stellte ihn, "einen der Hauptgestalter der Reform", in der Passauer Neuen Presse als Vertreter Bayerns im Rat vor. Stoiber will "das Gute behalten und das Schlechte ändern". Im Münchner Merkur erklärte er, die neue Doppel-s-Schreibweise habe sich bewährt. Er lehne aber die "verwirrenden Regeln zur Getrenntschreibung" ab.

Die Doppel-s-Regelung ist jedoch hauptsächlich dafür verantwortlich, daß die Grundschüler mehr Rechtschreibfehler machen als vor der Reform. Das hat der Leipziger Professor Harald Marx in der einzigen wissenschaftlichen Untersuchung über die Folgen der Rechtschreibreform herausgefunden. Demnach ist die Zahl der Rechtschreibfehler bei Viertkläßlern zwischen 1996 und 2004 um 22 Prozent gestiegen. Nicht ohne Grund ist die vermeintlich moderne Doppel-s-Schreibung in Österreich 1879 eingeführt und 1902 wieder abgeschafft worden.

Die JUNGE FREIHEIT hat das Abenteuer Rechtschreibreform wohlweislich nicht mitgemacht, die Frankfurter Allgemeine kehrte 2000 nach einem Jahr Erprobung wieder zur bewährten Rechtschreibung zurück. Jetzt folgen die Zeitungen der Springer-Presse diesem Vorbild. Symbolträchtig zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober erscheint die Bild am Sonntag in bewährter Rechtschreibung, am Tag darauf folgen Bild, Welt, B.Z., Berliner Morgenpost und Hamburger Abendblatt. Noch im Oktober wird das Nachrichtenmagazin Spiegel umstellen.

Die Süddeutsche Zeitung, die am 6. August noch verkündet hatte, ebenfalls umzusteigen, schwankt indes. Sie steht unter massivem politischen Druck. Die hessische Kultusministerin Karin Wolff (CDU), Vorgängerin von Doris Ahnen als KMK-Präsidentin, hatte am 9. September im Hessen-Fernsehen verkündet, daß sie gegen die Entscheidung der Süddeutschen Zeitung, zur bewährten Rechtschreibung zurückzukehren, einschreitet. Sie sagte: "Daraus wird überhaupt nichts!"

Widerstand gegen die Rechtschreibreform bedeutet also auch Eintreten für die Pressefreiheit. Rückkehrwillige Zeitungsverlage dürfen sich nicht von der Politik erpressen lassen. Christian Wulff schreibt in der Deutschen Sprachwelt: "Die Politik muß auch in der Lage sein, Fehlentscheidungen zu widerrufen." Bleibt zu hoffen, daß sich die Ministerpräsidentenkonferenz dieser Einsicht nicht verschließt.

 

Thomas Paulwitz ist Schriftleiter der vierteljährlich erscheinenden Zeitung "Deutsche Sprachwelt", Postfach 1449, 91004 Erlangen. Internet: www.deutsche-sprachwelt.de


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