© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/04 01. Oktober 2004

Im Nebel des Krieges
Kino: Errol Morris' Porträt von Robert S. McNamara
Werner Olles

Obwohl er bereits im Frühjahr 1968 von seinem Posten als Verteidigungsminister der USA zurücktrat, war er das Feindbild Nummer eins der Achtundsechziger. In ihm sahen sie den wichtigsten Strategen der amerikanischen Kriegführung in Vietnam, einen eiskalt berechnenden Technokraten militärischer Gewalt gegen ein kleines, um seine nationale Unabhängigkeit kämpfendes Volk in Südostasien. Im Frühjahr 1965 hatte er mit der "Operation Rolling Thunder" die systematische Bombardierung Nord-Vietnams angeordnet, ein halbes Jahr später jedoch General Westmorelands Bitte um die Entsendung von 200.000 weiteren Soldaten als "vernichtenden Schlag" bezeichnet.

Er genehmigte den Einsatz des dioxinhaltigen Entlaubungsmittels Agent Orange, aber was die Achtundsechziger nicht wußten: Robert Strange McNamara, den Präsident John F. Kennedy 1960 als jüngsten Politiker, der jemals das Amt des Secretary of Defence bekleidete, in seine Regierung berief, gehörte ursprünglich zu den "Tauben". Zwar unterstützte er Kennedys Einschätzung "Vietnam stellt den Eckstein der freien Welt dar, wir können es nicht im Stich lassen!", doch nach dessen Ermordung im November 1963 riet er Lyndon B. Johnson, Kennedys Vizepräsident und Nachfolger, von einem stärkeren militärischen Engagement in Vietnam dringend ab. Johnson ließ sich jedoch nicht überzeugen, und die USA verstrickten sich immer tiefer in den Konflikt.

McNamara war in dieser Zeit - gegen seine Überzeugung - der treue Knappe des 36. US-Präsidenten. Als im August 1964 nord-vietnamesische Patrouillenboote angeblich zwei US-Zerstörer im Golf von Tonkin angriffen, übten die Luftstreitkräfte auf seinen Befehl mit 64 Bombenangriffen harte Vergeltung. Später stellte sich heraus, daß der erste Überfall provoziert war und der zweite vorgetäuscht, ein Geheimdienstmanöver, um den Krieg eskalieren zu lassen. Aber da war die "Tonkin Gulf Resolution", die neue Militäraktionen und die Entsendung weiterer Truppen vorsah, schon vom Kongreß verabschiedet. Die Folgen dürfen als bekannt vorausgesetzt werden.

Regisseur Errol Morris ("Gates of Heaven", "Mr. Death: The Rise and Fall of Fred A. Leuchter Jr.") hat als Student der Universität von Wisconsin und als Princeton-Absolvent gegen den Vietnamkrieg demonstriert. Jahre später las er McNamaras Buch "In Retrospect" und fand die Lektüre faszinierend. Doch es warf mehr Fragen auf, als es beantwortete, und so entstand die Idee, einen Film zu machen, um zum Kern der Dinge vorzustoßen.

Dabei ging es nicht nur um die Frage der individuellen Verantwortung, der sich McNamara durchaus stellt, sondern in erster Linie um dessen ideologische Beziehungen zu verschiedenen Präsidenten und um die menschliche Unfähigkeit, aus der Vergangenheit und aus Fehlern zu lernen.

Aus mehr als 20 Stunden Interviewmaterial wurde so ein 106 Minuten langer Film, der sich um elf einprägsame Lehrsätze rankt, die McNamara aus seiner nachdenklichen Rückschau auf die Ereignisse entwickelt hat. Ausführliche Archivaufnahmen und erst jüngst freigegebene Tonbandaufnahmen aus dem Weißen Haus komplettieren die Aussagen und dienen nebenbei als visuelle Hilfe, das jeweilige Kapitel der Vergangenheit zuzuordnen. Zwar ist "The Fog of War" keineswegs eine Biographie, dennoch erzählt er die Geschichte eines "all- American Boy", der aus einfachsten Verhältnissen zu den Gipfeln der Macht aufsteigt. Von der lähmenden Depression der dreißiger Jahre, der Industrialisierung während des Zweiten Weltkriegs, der Entstehung der amerikanischen Leistungsgesellschaft, in der es selbst idealistische Träumer wie McNamara zu etwas bringen konnten, bis hin zu einer auf Luftherrschaft basierenden neuen Art von Kriegführung, analysiert Morris den Ursprung eines Irrtums, der zum gewaltsamen Tod von 58.000 Amerikanern und über vier Millionen Vietnamesen, insgesamt etwa zehn Prozent der Bevölkerung, führte.

Wer allerdings erwartet, von McNamara eine "Beichte" zu hören, wird enttäuscht. Es ist viel weniger eine Entschuldigung, sondern der Versuch zu verstehen, wie er und so viele andere in diesen vernichtenden Krieg geraten konnten. Indem er zurückblickt auf die Schrecken und Triumphe des 20. Jahrhunderts, zieht er Schlüsse aus seinen Taten, versucht zu lernen und zu verstehen, was passiert ist.

Gleichzeitig fordert er dazu auf, sich der Frage zu stellen, welche Rolle militärische Konflikte und besonders nukleare Krisen in der Gesellschaft der Zukunft spielen werden. Wir hören, wie McNamara Kennedy von der Notwendigkeit, einen Zeitplan für den Abzug der US-Berater in Vietnam aufzustellen, überzeugt. Wir hören, wie Johnson nach Kennedys Ermordung diese Ratschläge zurückweist. Wir hören McNamaras inständiges Drängen, die Bombardierung Nord-Vietnams zu stoppen; doch am Ende vernehmen wir ihn, wie er dem Wunsch des Präsidenten, den Krieg energisch weiterzuführen, zustimmt.

Dieser Krieg dauerte noch bis zur Einnahme Saigons am 30. April 1975. Zu dieser Zeit war McNamara längst Präsident der Weltbank - und erneut Haßobjekt der Linken.

Wer wissen will, wie Entscheidungen getroffen werden und aus welchen Gründen, und was wir von diesen historischen Ereignissen lernen können, sollte sich "The Fog of War" ansehen. Beeindruckender und aufregender als dämliche Interviews über Bill Clintons bewegtes Sexualleben ist Morris' Film allemal.


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