© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/04 01. Oktober 2004

Die Frage nach Gerechtigkeit
von Angelika Willig

Was die Hartz-IV-Demonstranten mit ihrer lautstarken Forderung nach "Gerechtigkeit" meinen, ist nicht schwer zu erraten. Sie meinen letztlich, daß jeder den gleichen Lebensstandard haben sollte, egal, was er oder sie leistet. Zumindest annähernd läßt sich das verwirklichen. Die DDR liefert dafür ein gelungenes Modell. Zwar gab es unter Bonzen ein bißchen Korruption, und es gab diese lästige Sache mit den Intershops, aber ansonsten hat wirklich jeder, vom Industriekader bis zum Dauerkaffeekränzchen, in demselben trüben Mief gelebt und das gleiche farblose Synthetikzeug getragen. Wer unter Gerechtigkeit schlicht Gleichheit versteht, wurde hier gut bedient.

Doch diesen Gerechtigkeitsbegriff pflegen immer nur die, die nichts mehr zu verlieren haben, also derzeit viele Dauerarbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Das ist bei weitem nicht die Mehrheit, und deshalb steht eine Wiedereinrichtung der DDR nicht unmittelbar zur Debatte.

Wer über einen gewissen Wohlstand verfügt, findet diesen Umstand normalerweise ganz gerecht und ist auch bereit, noch größeren Wohlstand bei anderen gerecht zu finden, ohne groß nachzufragen, worin deren besondere Leistung besteht. Wer richtig viel hat, spürt gelegentlich einen gewissen Recht-fertigungsdruck und fängt an, von "Eliten", "Leistungsträgern" oder "Humanressourcen" zu reden.

Kaum jemand macht sich die Mühe, die Frage der Gerechtigkeit philosophisch anzugehen. Überhaupt: Wo bleiben in dieser ernsten Lage die Denker? Sie bleiben in ihrem Elfenbeinturm und tun auch sehr gut daran, denn was die klassische philosophische Tradition - das ist im Zweifelsfall immer Aristoteles - zur Gerechtigkeit sagt, ist nicht sehr ermutigend. Die Frage läßt sich - wie alle großen Fragen - nicht isolieren. Das Gerechte ist im Grunde genommen das Gute, und das Gute ist das Wahre, und das Wahre ist das Göttliche. Mit anderen Worten: Gerechtigkeit läßt sich nur dadurch begreifen, daß man Gott und die Welt begreift.

In der Praxis führt das zur Verwirrung. Einerseits ist das Leben ungerecht, der eine ist schön, der andere häßlich, einer gesund, der andere krank. Andererseits gibt es so etwas wie eine "ausgleichende Gerechtigkeit". Wer häßlich ist, hat vielleicht geerbt; wer körperlich gesund ist, leidet an Einsamkeit etc. Näher betrachtet, ist aber auch diese ausgleichende Gerechtigkeit ungerecht: Beim einen findet der Ausgleich statt, beim anderen nicht. Früher hat man deshalb Gott die endgültige Entscheidung zugeschoben und sich bemüht, das ohnehin Reale irgendwie zu akzeptieren. Das "Jüngste Gericht" würde alles klären.

Seit dem Ende der Metaphysik ist in Deutschland, was die Gerechtigkeit betrifft, eine furchtbare Unsicherheit ausgebrochen. Auffällig wird das in wirtschaftlichen Krisenzeiten. Schon in den 1920er und 1930er Jahren konnte keiner den Leuten erklären, wieso Gott nicht eingreifen wollte.

Die gleiche philosophische Hilflosigkeit zeigt sich auch heute gegenüber den aufwallenden Sozialprotesten. Sie steht den Politikern direkt im Gesicht geschrieben: "Soll ich beschwichtigen oder bestätigen? Schreien diese Menschen eigentlich zu Recht? Gibt es wirklich ein Recht auf Arbeit oder wenigstens auf einen Farbfernseher? Und lohnt sich Leistung, oder habe ich mich nicht eher nach oben geschleimt?" So grübelt man mal wieder im Unlösbaren und merkt nicht, daß die Mitteldeutschen ganz konkret Grund haben, den Staat - unseren Staat - zu hassen, da sie von ihm schlicht betrogen worden sind.

Bei einigen Kommentatoren hört es sich so an, als wollten sie den Montagsdemonstranten noch die göttliche Gerechtigkeit empfehlen: Abwarten und Tee trinken. Sie übersehen dabei, daß wir inzwischen Humanisten geworden sind. Wir definieren unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit selbst und richten die Welt möglichst danach ein. Allerdings existiert der Mensch im Unterschied zu Gott nicht nur im Singular. Verschiedene Vorstellungen führen zu verschiedenen Systemen, in denen jeweils eine andere Definition gilt. Daher haben moderne angelsächsische Philosophen wie John Rawls die Gerechtigkeit als eine Art Spielregel aufgefaßt. Die Fairneß erfordert es, daß die Regeln eingehalten werden. Sonst funktioniert das Spiel nicht, zumindest macht es keinen Spaß mehr. Gerechtigkeit ist also fair play.

So ist es beim Wettrennen "ungerecht", wenn einer früher startet. Ungerecht ist aber nicht, daß manche längere Beine haben, besser trainiert wurden oder mental besser motiviert sind. Denn wenn es solche "Ungerechtigkeiten" ausgeschlossen würden, dann brauchte das Rennen gar nicht erst stattzufinden. Wenn es hingegen, wie in einem Gesellschaftsspiel, nicht um Konkurrenz, sondern um Kooperation geht, sollte man den anderen Teilnehmern seine Überlegenheit möglichst nicht zeigen, sonst droht die Disqualifizierung als "Spiel-verderber".

"Gerechtigkeit" ist also modern nur zu definieren im Bezug auf ein bestimmtes Ziel, auf das man sich geeinigt hat. Beim Sportwettkampf wollen auch die Schwächeren nicht, daß der Sinn des Ganzen durch ständige Mogeleien zerstört wird. Selbst wenn sie heimlich mogeln, bleiben sie Teil des Systems. Eine absolute Gerechtigkeit gibt es nach diesen Maßstäben nicht.

Welche Regeln werden also durch Hartz IV verletzt? Welches Spiel wird hier gespielt, und warum funktioniert es nicht?

Als die Gelegenheit zur Wiedervereinigung eintrat, haben Helmut Kohl und andere führende Politiker den Mitteldeutschen erklärt, wie Marktwirtschaft funktioniert. Nach diesen Erklärungen mußten sie glauben, er brauche nur an der richtigen Stelle sein Kreuz zu machen und wie bisher jeden Morgen pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen und zu tun, was der Vorgesetzte ihm sagt, dann würde es ihm bald so gut gehen wie der Mehrheit der Westdeutschen. Das waren die Regeln. Und daran haben sich die neuen Bundesbürger gehalten. Keiner hat den neuen Staat boykottiert, die meisten wählten demokratisch, und jeder ist pünktlich am Arbeitsplatz erschienen. Doch statt des versprochenen Lohnes verschwanden die Betriebe, und es kam Hartz IV. Kein Wunder, daß die Mitteldeutschen sich ungerecht behandelt fühlen. Sie wurden ungerecht behandelt. Und alle west-lichen Parteien sind an diesem Betrug beteiligt - sie alle haben im Kern das gleiche gesagt wie Kanzler Kohl.

Keiner hat verraten, daß es ein ganz anderes Spiel ist, was unter dem Namen "Marktwirtschaft" stattfindet. Darin geht es vollkommen gerecht zu. Die oberste Regel lautet: Jeder sorgt für sich selbst. Und nach dieser Regel haben im Osten die meisten verloren. Sie haben die Regel auch jetzt noch nicht verstanden. Denn immer noch wird sie gerne verheimlicht. Und man kann nicht erwarten, daß sich Mitspieler an Regeln halten, die nicht in der Spielanleitung stehen.

Es reicht auch nicht, einfach zu sagen: "Jeder soll für sich selbst sorgen." Man muß das erklären. Es heißt nämlich nicht: Du sollst alles richtig machen, dann wirst du belohnt. Es heißt auch nicht: Du sollst dich mehr anstrengen, oder: Du sollst erklären, weshalb du Schwierigkeiten hast, oder: Du sollst eine Eingabe machen. Nein, die Regel heißt, daß jeder jetzt ganz direkt selber Geld verdienen soll. Schon die meisten "Wessis" können sich kaum noch vorstellen, wie das gehen soll, wieviel schwieriger ist es für die neuen Bundesbürger!

Das Wort "Arbeitsplatz" klingt nach etwas Vorhandenem wie "Drei-Raum-Wohnung". In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dem Begriff, daß jemand monatlich Geld auf das Konto eines anderen überweist. Und das tut er normalerweise nur, wenn er etwas davon hat. Das Erscheinen am Arbeitsplatz ist also nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist der Profit. Jemand muß an Ihnen verdienen, nur dann verdienen Sie etwas. Wann hat das jemand einmal so klar formuliert? Auch Ausdrücke wie "Eigeninitiative" oder "Verantwortung" sind noch irreführend. Denn noch so viel Eigeninitiative nützt nichts, wenn sie nicht zum Erfolg - also zum Profit - führt. Eigeninitiative ist eine Empfehlung, aber keine Garantie. Garantien gibt es in diesem Spiel nicht. Und Leistung ist nicht etwas, das dann belohnt wird, wie bei der Olympiade, sondern Leistung besteht - in diesem Spiel - darin, sich die Belohnung zu verschaffen.

Die Situation ähnelt derjenigen von Laborratten, die kürzlich in einem Londoner Slum ausgesetzt wurden. Bislang lebten die rotäugigen Tiere ausschließlich von sogenannten Pellets, gepreßtem Trockenfutter mit dem Geschmack einer volkseigenen Sättigungsbeilage. Ständig kreiste über ihnen die Hand der Schergen. Kein ideales Leben, aber das einzige, was sie kannten. Nun kommt die Wende: Rumpelnd wird der Kasten an den Stadtrand befördert und ausgekippt.

Kaum berühren die Pfoten den ungewohnt nassen und schmutzigen Boden, die kaum benutzte Nase erschnüffelt Schnaps und Dönerreste, da fängt das Herzchen schnell an zu klopfen. Vor Freude? Aus Angst? Jedenfalls ist den Versuchstieren auf einen Schlag klar, daß Spritze und Skalpell der Vergangenheit angehören - daß ihnen aber auch niemand mehr irgendwelche Pellets hinstellen würde. Das ist wohl die Freiheit.

Die Ratten denken nicht darüber nach, ob diese Freiheit nun so sei, wie sie es sich früher erträumt hatten. Oder ob es nicht am Ende in dem Glaskäfig doch besser gewesen sei, jedenfalls manchmal. Denn wer die jeweilige Realität nicht akzeptiert, wird nicht überleben. So lautet die grausame Grundregel. Und wenn es ausschließlich nach diesen sozialdarwinistischen Spielregeln ginge, würden die Montagsdemonstra-tionen bald nicht mehr stattfinden.

Nicht etwa deshalb, weil aufgrund von Billiglöhnen die Jobs aus dem Boden sprießen würden, wie die heuchlerischen oder selbst schon sentimentalen Neoliberalen behaupten. Sondern weil die Betroffenen in Kürze verhungert wären. Innerhalb des "freien Spiels der Kräfte", wie es so schön heißt, gibt es das Problem der Arbeitslosigkeit nicht. Eine arbeitslose Ratte ist eine tote Ratte.

Das ist die Regel. Hartz IV ist die Ausnahmeregelung. Das ist zunächst festzuhalten. Sozialunterstützung gehört nicht zur Gerechtigkeit, sondern ist Willkür. Einstmals Willkür der wohltätigen Reichen, heute des Staates. Während sich der Lohn aus den ökonomischen Notwendigkeiten von selbst ergibt, wird die Unterstützung von den Obereren festgesetzt.

Dafür gibt es edle und weniger edle Gründe. Auch für den Unempfindlichsten ist es keine schöne Vorstellung, daß in Leipzig oder Dresden Menschen am Straßenrand liegen und dahinvegetieren wie im Kalkutta von Mutter Teresa. Manche nennen es Mitleid, meist ist es eher ein Abscheu vor dem Elend. Dann zahlt man schon lieber.

Das andere betrifft die Zukunftsperspektive. Es könnte ja passieren, daß plötzlich wieder viele Arbeitskräfte gebraucht werden, sei es, daß die Konjunktur anspringt oder eine neue Flutwelle kommt. Man nennt das im marxistischen Jargon "Reservearmee". Die sollte man nicht ganz ohne Proviant lassen. Es kann sich aber nicht nur die Lage ändern, sondern auch der Mensch. Auch er kann einen Rappel kriegen und plötzlich loslegen. Angenommen, einer von diesen urtümlichen Hartz-Menschen - oder eines ihrer Kinder - erweist sich als Genie. Dann wäre es doch schade, ihn vorher verhungern zu lassen. Und wenn kein Genie, dann doch brauchbar in einer bestimmten Hinsicht, auf die man vorher nicht gekommen war.

Erst kürzlich erschien wieder eine Untersuchung, die zeigt, wie sehr sich "Eliten", auch in Deutschland, aus dem eigenen Milieu rekrutieren. Eine deutliche Mehrzahl von Spitzenmanagern kommt aus gutsituierten Familien. Auch die formelle Chancengleichheit kann nicht verhindern, daß ein Klassensystem bestehen bleibt.

Doch zugleich zeigen die Lebensläufe von außergewöhnlich kreativen Menschen nicht selten starke Brüche. Als Beispiel kann der ehemalige Bild-Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje dienen, der nach eigener Aussage jahrelang dösend auf dem Sofa verbrachte, weil er einfach nicht wußte, was er aus seinem Leben machen sollte. Irgendwann kam dann über einen Freund die Berührung mit dem Journalismus, und Tiedje sprang von der Couch auf. Es gibt auch Leute, die Hunderte von Ablehnungen auf ihre Bewerbungen erhalten und schließlich in der 101. Firma rasant aufsteigen.

Die Unterstützung der "Nutzlosen" geschieht nicht nur aus Mitleid und Furcht vor Ghettos, Seuchen und Gewalt. Hinzu kommt das Wissen um ein Potential, das in den "Außenseitern" versteckt ist. Elite und Abschaum liegen weit auseinander, aber aus dem "Abschaum" rekrutiert sich auch die Avantgarde. Diese marxistische Denkfigur stimmt zwar nicht mehr als historisches Gesetz, aber als individuelle Möglichkeit bleibt sie vorhanden.

Das amerikanische Märchen "vom Tellerwäscher zum Millionär" gilt hingegen kaum noch. Denn für fast jede Laufbahn ist heute eine Vorbildung erforderlich. Die Sozialunterstützung ermöglicht neben echter Bedürftigkeit auch eine kreative Faulheit, die wichtig ist. Man erinnere sich: Im antiken Rom mußte überhaupt kein Bürger arbeiten. Der Plebs wurde komplett mit Getreide versorgt. Als Gegenleistung unterstützte man Politiker - alles wie gehabt.

 

Dr. Angelika Willig studierte Philosophie und Lateinische Philologie in Freiburg und München und lebt als Journalistin in Berlin.


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