© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/04 01. Oktober 2004

Kein Schlußstrich
Nationalfeiertag: Die Deutschen und eine Vergangenheit, die nicht vergeht
Dieter Stein

Gedanken zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober: Wo steht Deutschland vierzehn Jahre nach der Wiedervereinigung? Der Wahlerfolg der NPD in Sachsen, die dort mit 9,2 Prozent der Stimmen eine Landtagsfraktion stellt, hat Irritationen ausgelöst: Über den Aufstieg einer nationalistischen Partei, die unumwunden an Traditionsstränge des Dritten Reiches und des Nationalsozialismus anknüpft. Man muß zu der Frage vorstoßen, inwiefern dies ein Symptom für die Krise ist, in der sich Deutschland befindet. Die "nationale Frage" steht wieder auf der Tagesordnung.

Warum macht der öffentliche Diskurs, die etablierten Parteien einerseits einen Bogen um das Thema der Nation, warum hat eine Angela Merkel beispielsweise nicht den Mut, in ihrer Partei eine nach dem Ausschluß Martin Hohmanns angekündigte "Patriotismusdebatte" zu führen?

Und warum hat andererseits nun aber ausgerechnet eine Partei Erfolg, die auf die "Nationsvergessenheit" der politischen Klasse nicht etwa mit einem vernünftigen Patriotismus antwortet, sondern mit einem viele negative Klischees bestätigenden Nationalismus?

Weil die Deutschen mit ihrer Nation nicht im reinen sind. Blicken wir zurück: Vor genau zehn Jahren erschien die Erst-auflage des Buches "Die selbstbewußte Nation". Den Anstoß gab der Aufsatz des Dramatikers Botho Strauß im Spiegel ("Anschwellender Bocksgesang") von 1993, in dem er eine Kritik des oberflächlichen Gegenwartsdiskurses und die Positionsbeschreibung einer (intellektuellen) Rechten gewagt hatte.

Der von den Welt-Journalisten Ulrich Schacht und Heimo Schwilk herausgegebene Sammelband erlebte mehrere hohe Auflagen und führte zu erhitzten Debatten in den Feuilletons. Liest man im Abstand von zehn Jahren die Beiträge noch einmal, so fällt ins Auge, daß der Schlüssel zu jedem Versuch, die Möglichkeit einer "selbstbewußten deutschen Nation" zu formulieren, der Umgang mit der Vergangenheit ist.

Die Autoren knüpften an den Epochenumbruch von 1989 an: Deutschland hatte seine - zuvor scheinbar unüberwindliche - Spaltung aufgehoben, wurde am 3. Oktober 1990 wiedervereinigt. Es mußte die Frage nach der künftigen Rolle Deutschlands gestellt werden. Bis zum 9. November 1989 hatte die Spaltung Deutschlands bei tonangebenden westdeutschen Intellektuellen als unausweichliche Konsequenz des im Massenmord von Auschwitz gemündeten "deutschen Sonderweges" gegolten - nun sollte doch eine geschichtliche Wende, die Möglichkeit zur Aussöhnung mit sich selbst da sein.

Das Buch "Die selbstbewußte Nation" konnte über seinen Titel - bewußt oder unbewußt - mißverstanden werden. Von vielen Kritikern, aber auch oberflächlichen Lesern ist der programmatische Titel als zu kraftstrotzend, herausfordernd wahrgenommen worden. Dabei benannten die Herausgeber im Vorwort den Kern des Problems: "Das deutsche Selbstvertrauen aber ist gebrochen. Dafür gibt es bösen Grund. Jedes Nachdenken über deutsche Identität muß sich dieses bösen Grundes - als Konsequenz temporärer, nicht dauernder deutscher Selbstverfehlung - bewußt sein."

Diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und deren verantwortungsvolle Einordnung durchzieht die Beiträge von Brigitte Seebacher-Brandt, Karlheinz Weißmann über Eberhard Straub, Wolfgang Templin bis zu Peter Gauweiler und Michael Wolffsohn. Ungewohnt kritisch griffen die Autoren eine im rituellen Leerlauf befindliche Vergangenheitsbewältigung an, die im Formelhaften erstarrt ist und zu "politischen Zwecken" (Martin Walser) mißbraucht wird.

Doch der Ansatz, eine antitotalitäre "neue demokratische Rechte" (Rainer Zitelmann) zu formulieren, endete wenige Monate später - auch unter einem intoleranten Trommelfeuer des bundesdeutschen Feuilletons - in einer Selbstauflösung. Eine vernünftige und affektfreie Diskussion war damals kaum möglich. Wäre sie es heute?

An den Grundbedingungen hat sich jedenfalls bis heute nichts geändert. Gerade wer die Nation bewahren will, muß notwendigerweise eine hohe Sensibilität gegenüber ihrer Geschichte haben: Weil gerade, wenn nicht überhaupt nur derjenige, der einen wenigstens rudimentären Begriff von der Nation, ja, von "nationaler Ehre" hat, Scham als Deutscher empfinden kann, wenn diese durch Mordtaten wie im Dritten Reich besudelt worden ist.

Wenn also eine deutsche "Rechte" die Nation im Munde führt, sie reklamiert und sich um ihren Bestand sorgt, muß sie auch unweigerlich die Verantwortung für den Umgang mit ihrer Vergangenheit übernehmen: "Die Verbrechen der Nazis sind jedoch so gewaltig, daß sie nicht durch moralische Scham oder andere bürgerlichen Empfindungen zu kompensieren sind. Sie stellen den Deutschen in die Erschütterung und belassen ihn dort, unter dem tremendum; ganz gleich, wohin er sein Zittern und Zetern wenden mag, eine über das Menschenmaß hinausgehende Schuld wird nicht von ein, zwei Generationen einfach 'abgearbeitet'" (Botho Strauß).

Rafael Seligmann beklagt dieser Tage, "Deutschland degeneriert zu einer Republik der Betroffenen. Die Menschen neigen in kollektiver Schamhaftigkeit ihr Haupt." Zwischen diesem neurotischen Verhältnis zur eigenen Nation und der Geschichtsverleugnung muß es einen dritten Weg geben.


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