© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/04 01. Oktober 2004

„Die Konservativen sind ehrlicher“
EU-Kritiker Hasan Ünal über die Doppelmoral der Befürworter des EU-Beitritts der Türkei, deren Winkelzüge und Schönfärberei
Moritz Schwarz

Herr Professor Ünal, Sie gelten als einer der bekanntesten türkischen Kritiker eines EU-Beitritts der Türkei. Eine „Spezies“, von der man in den deutschen Medien nichts erfährt.

Ünal: Das verwundert kaum, sollten die Zustände denen in der Türkei ähnlich sein. Hierzulande haben die Medien eine Atmosphäre geschaffen, in der es kaum noch möglich ist, diesbezüglich ein kritisches Wort zu äußern: Sofort werden Sie als Anti-Europäer verunglimpft.

Eine EU-Orientierung der Türkei gilt in Deutschland als Chiffre für Demokratisierung.

Ünal: Was die demokratische Debattenkultur angeht, trifft das offensichtlich nicht zu.

Welche Gruppierungen in der Türkei sind gegen einen EU-Beitritt?

Ünal: Es gibt hier keine profilierte politische Person oder Instution, die dagegen ist. Die Nationalisten erhoffen sich von einer EU-Mitgliedschaft eine Aufwertung der Türkei, das Militär eine Stärkung der nationalen Sicherheit und die Islamisten mehr Religionsfreiheit - wie Sie wissen, sind wir seit Atatürk ein streng laizistischer Staat.

Nach dem Scheitern des neuen Ehebruch-Gesetzes auf Druck der EU scheint diese Rechnung allerdings nicht aufzugehen.

Ünal: Es stimmt, daß die jüngsten Entwicklungen die islamische Fraktion enttäuscht haben. Zu nennen wäre hier auch die strikte Politik gegen das Kopftuch zum Beispiel im EU-Land Frankreich. Dennoch gibt es in der Türkei, anders als in den jüngst beigetretenen osteuropäischen Staaten, keine Partei, die grundsätzlich gegen eine EU-Mitgliedschaft ist.

Das sind nicht einmal Sie als einer der prominentesten unter den wenigen Kritikern.

Ünal: Ich bin nicht grundsätzlich gegen eine EU-Mitgliedschaft, aber ich bin gegen den gegenwärtig angestrebten Beitritt und auch gegen jede künftige Politik eines Beitritts-Automatismus. Die EU-Mitgliedschaft der Türkei ist für viele Leute aus dem Establishment eine Obsession. Ich habe diese Obsession nicht. Unglücklicherweise aber sind es diese „Besessenen“, die den entscheidenden Einfluß auf die Massenmedien haben.

Warum sind Sie gegen den gegenwärtig diskutierten Beitritt?

Ünal: Zum Beispiel ist die Bevölkerung der Türkei viel zu groß, um von der EU verkraftet werden zu können.

EU-Mitglied Deutschland hat 81 Millionen Einwohner, die Türkei nur 72 Millionen.

Ünal: Anders als die 72 Millionen Türken sind die 81 Millionen Deutschen bereits integriert. Was deren Integration für die EU bedeuten würde, wird klar, wenn man bedenkt, daß die Bevölkerungszahl aller zehn neuen osteuropäischen EU-Länder zusammengenommen mit 74,7 Millionen etwa der Bevölkerungszahl der Türkei entspricht. Und die zehn neuen Länder sind noch gar nicht „verdaut“. Außerdem wächst die Bevölkerungszahl der Türkei jährlich um etwa eine Million. Bald schon würde sie das mit Abstand bevölkerungsreichste Land in der EU sein.

Das ist die Perspektive der EU-Staaten, müßte man von Ihnen nicht Kritik am Beitritt aus der Perspektive der Türkei erwarten?

Ünal: Sie mißverstehen mich offensichtlich: Zum einen werden die Probleme der EU früher oder später wohl verstärkt auf die Türkei zurückschlagen. Zum anderen ist es verhängnisvoll, daß die Türkei inzwischen völlig auf den Beitritt fixiert ist. Es ist hierzulande gar nicht mehr möglich, über die eigentlichen Ursachen unserer Probleme zu diskutieren, weil stets der Eindruck erweckt wird, allesamt würden sie sich mit dem Beitritt ohnehin lösen. Das lähmt das Land! Gleichzeitig halten uns die europäischen Regierungen hin und sorgen damit dafür, daß wir in dieser Lähmung verharren. Statt uns endlich ehrlich „nein“ zu sagen, kommen sie mit immer neuen fadenscheinigen Entschuldigungen, warum ein Beitritt derzeit noch nicht möglich sei. Dieser höchst ungesunde Zustand muß dringend ein Ende haben!

Sie vermuten, tatsächlich wollen die EU-Politiker den Beitritt gar nicht?

Ünal: Die ganze Diskussion ist von Unaufrichtigkeit durchdrungen, wodurch jedes offene Gespräch offensichtlich unmöglich ist. Brüssel spielt Katz und Maus mit uns, da man dort weiß, was die meisten EU-Politiker über einen Beitritt der Türkei wirklich denken.

Worauf stützt sich Ihre Vermutung? Bundeskanzler Schröder zum Beispiel hat gerade erst wieder betont, daß er den EU-Beitritt der Türkei begrüßt.

Ünal: Kanzler Schröder kann als Führer einer Mitte-Links-Regierung nicht öffentlich gegen den Beitritt sein, das wäre sozusagen eine Verneinung seiner politischen Daseinsberechtigung als Sozialdemokrat. Also betont man die Bereitschaft, die Türkei aufzunehmen, legt ihr aber de facto immer neue Hemmnisse in den Weg.

Das heißt, Sie betrachten Schröders Befürwortung des Türkei-Beitritts nicht als eine außenpolitische, sondern als eine innenpolitische Position?

Ünal: So könnte man es nennen.

Sie fühlen sich mißbraucht?

Ünal: Durchaus. Zumal Fördergelder aus der EU in die Türkei fließen, die hier Leuten zugute kommen, die damit beschäftigt sind, der hiesigen Öffentlichkeit die Gemeinschaft als eine Zukunft, in der Milch und Honig fließen wird, vorzustellen und sie als Generallösung für all unser Probleme präsentiert. Während die EU-Politiker in Brüssel, die von den Propagandisten hierzulande verschwiegenen Probleme des EU-Beitritts der Türkei skeptisch stimmen, fördern sie die Schönfärberei. Ist das nicht schizophren? Ich frage mich im übrigen, wie sie das zum Beispiel in Deutschland ihren Steuerzahlern erklären?

Also halten Sie die Euro-Skeptiker für die besseren Europäer?

Ünal: Im Grunde ja, denn sie könnten die Gespräche endlich aus der Sackgasse führen und einen vielleicht weniger ambitionierten, aber konstruktiven Neuanfang wagen. Die Konservativen in Europa sind mit ihren offen geäußerten Vorbehalten in meinen Augen die Ehrlicheren, weil sie den Türken offen sagen, was sie denken, und wir dadurch in der Lage sind, uns ein Bild davon zu machen, was wir erwarten können.

Allerdings erinnert ein Teil der bürgerlichen Kräfte - so zum Beispiel auch Valéry Giscard d'Estaing - daran, daß die Türkei kein europäisches Land ist.

Ünal: In erster Linie sind die Türken Türken. Aber sie haben auch europäische Ideale und Werte - man kann also schon sagen, daß die Türken auch Europäer sind.

Das mag für die Türken in den Metropolen zutreffen, ist das Bewußtsein auf dem Lande aber nicht eher traditionell orientalisch geprägt?

Ünal: Da sehe ich im Grunde keinen Unterschied zu anderen Ländern - etwa Italien, Griechenland, Bulgarien oder Rumänien -, wo auch ein deutlicher Unterschied zwischen Stadt und Land besteht.

Das heißt, in hundert Jahren, wenn alle Probleme ausgeräumt sind, soll die Türkei der EU betreten?

Ünal: Vielleicht, vielleicht auch nicht, das hängt auch dann von den Umständen ab. Wir sollten uns nicht schon wieder in die Abhängigkeit einer - unter Umständen gegen jede Vernunft - zwingenden Beitritts-Logik bringen.

Kritiker warnen, bei einer EU-Mitgliedschaft der Türkei würden Millionen Türken nach Zentraleuropa einwandern.

Ünal: Kein Zweifel. Doch würde es zunächst sicher Restriktionen geben, wie bei den osteuropäischen Staaten derzeit, die so etwas verhindern.

Diese Auflagen enden 2011.

Ünal: Auch bezüglich der Türkei könnte man solche Restriktionen nicht unbegrenzt aufrechterhalten, sonst würde es sich schließlich nicht um eine gleichberechtigte Mitgliedschaft handeln. Es bleibt zu hoffen, daß es während dieser Restriktionszeit gelingt, die Türkei so weit ökonomisch voranzubringen, daß die Massenwanderung ausbleibt.

Und wenn das nicht gelingt?

Ünal: Das glaube ich nicht, aber dann würden zahllose arbeitslose Türken ihr Glück in anderen EU-Staaten suchen.

Wie würden die Türken reagieren, wenn die europäischen Politiker ein offenes „Nein“ aussprächen?

Ünal: Natürlich wäre die Enttäuschung groß, weil man den Türken so lange so viele Versprechungen gemacht hat. Aber seien wir doch mal ehrlich: Der Grund für den Wunsch, der EU beizutreten ist natürlich nicht eine innere Überzeugung, sondern weil man sich davon materielle Vorteile verspricht - das ist auch völlig verständlich. Wenn sich aber herausstellt, daß sich auch ohne Vollmitgliedschaft, sondern im Rahmen einer besonderen Partnerschaft der Türkei mit der EU eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Türken einstellt, dann wird schließlich auch die besondere Partnerschaft akzeptiert werden.

Werden dann nicht die antidemokratische Kräfte in der Türkei den Prozeß der Demokratisierung gefährden?

Ünal: Da gehen Sie den Propagandisten eines raschen EU-Beitritts auf den Leim. Daß die Dinge sich auch so pragmatisch entwickeln können, wie ich eben geschildert habe, wollen die Wortführer einer obsessiven türkischen EU-Beitrittspolitik natürlich nicht zugeben. Aber das ist ein durchschaubares Spiel: all jene, die einen Beitritt kritisieren, werden mit der Drohung, die Türkei würde sonst „dunklen Kräften“ anheimfallen, moralisch erpreßt. Denken Sie nur an Ministerpräsidentin Tansu Ciller, die den europäischen Regierungschefs ständig mit der Mahnung im Ohr lag, wenn sie sie nicht unterstützten, würden dunkle Mächte an die Regierung gelangen, und dabei in Richtung Necmettin Erbakan deutete. Später aber war sie es, die als erste Erbakan in die Regierung holte!

Es erscheint allerdings durchaus plausibel, daß eine Zurückweisung der Türkei islamistischen oder orthodox-kemalistischen Kräften Vorschub leisten würde.

Ünal: Der einzige Weg, solchen Kräften entgegenzuwirken, ist eine anhaltende ökonomische Stabilisierung der Türkei. Dafür bietet aber die derzeitige Situation, die von überzogenen Erwartungen, falschen Versprechen und hinhaltendem Taktieren geprägt ist, keine Grundlage.

Der Vorsitzende der „Unabhängigen Türkei-Kommission“, der ehemalige finnische Staatspräsident Martti Ahtisaari, erinnerte in dieser Woche daran, daß die EU wortbrüchig werden würde, wenn sie die Türkei nicht aufnimmt.

Ünal: Verabschieden wir uns doch einmal von der naiven Auffassung hochmoralischer Kriterien in der Politik. Diese sind entweder verlogen oder kindisch. Die Beziehungen von Staaten basieren auf einer beiderseitigen Vorteilsnahme, nicht auf selbstloser Freundschaft. Es geht bei Frieden und guten Beziehungen zwischen Nationen nicht um „Völkerfreundschaft“, sondern um praktische Kooperation. Schließlich können Staaten auch nicht - wie etwa Privatpersonen - moralische Konsequenzen ziehen. Sind Sie von jemandem privat enttäuscht, drehen Sie ihm den Rücken zu und reden nie wieder ein Wort mit ihm. Stellen Sie sich vor, die Welt wäre voller beleidigter Staaten! Nein, Staaten müssen auch bei Enttäuschungen weiterhin miteinander auskommen, weiter miteinander Politik treiben. Also laden wir die Beziehungen zwischen Staaten lieber nicht in unverantwortlicher Weise moralisch auf! Als die EU der Türkei 1963 einen künftigen Beitritt in Aussicht gestellt hat, betrug die Bevölkerungszahl unseres Landes 27 Millionen, und die Wirtschaft der damaligen EG-Staaten lief wie geschmiert. Heute ist die Situation eine völlig andere. Es ist absurd, nun die Einlösung dieses Versprechens zu fordern. „Wir haben es versprochen“, solche Worte sind die Rede fragwürdiger politischer Traumtänzer, nicht verantwortungsbewußter Realpolitiker.

Droht eine solch abgeklärte Haltung nicht allzu leicht in Zynismus umzuschlagen?

Ünal: 1963 war die Europäische Gemeinschaft etwas völlig anderes als heute - die EG war nicht die EU! Eines Tages Mitglied der EG zu werden, war grundsätzlich eine realistische Aussicht, weil die Gemeinschaft eine Wirtschaftsgemeinschaft war. Kehren wir zurück, zu dieser, ich möchte sagen, britischen Konzeption der Gemeinschaft als einer Wirtschafts- und Freihandelszone, als ein Europa der Vaterländer. Dann wäre auch für die Türkei Platz in diesem Haus. Solange aber die strengen Vorstellungen der Deutschen und Franzosen vorherrschen, eine politische Integration zu erreichen, sehe ich dafür keine Möglichkeit.

 

Prof. Dr. Hasan Ünal gilt als einer der profiliertesten Kritiker eines EU-Beitritts der Türkei in dem eurasischen Land und ist dort durch zahlreiche Presseveröffentlichungen präsent. Der Historiker lehrt als Assistant Professor am Institut für Internationale Beziehungen an der Bilkent-Universität in Ankara, wo er 1959 geboren wurde.

 

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