© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/04 08. Oktober 2004

Das deutsche Interesse
Ein politisches Urgestein analysiert die Weltpolitik, lenkt die Aufmerksamkeit auf langfristige Tendenzen und ihre Folgen für die Bundesrepublik
Detlef Kühn

Altbundeskanzler Helmut Schmidt hatte schon in seiner aktiven Zeit die Neigung, seine außenpolitischen Ratschläge auf die ganze Welt auszudehnen. Als er 1982 sein Amt verlor, führte dies zu zahlreichen Buchveröffentlichungen des inzwischen 85jährigen, deren jüngste hier anzuzeigen ist. Da Schmidt immer noch hellwach ist und sich nur noch selten verpflichtet fühlt, politische Rücksichten zu nehmen, ist die Lektüre durchaus anregend. Leider muß bezweifelt werden, daß die heute in Deutschland regierende politische Klasse für seine Hinweise und Ratschläge offen ist.

Schmidt, der sich als "deutscher Europäer" versteht, wagt einen Ausblick auf die zukünftige globale Machtverteilung im 21. Jahrhundert. Dabei ist er sich der Risiken solcher Prognosen durchaus bewußt. Vieles kann auch ganz anders kommen. Aber einige Faktoren scheinen relativ sicher zu sein: Die Weltbevölkerung wird, mit Ausnahme von Europa, weiterhin explosionsartig zunehmen und entsprechend auch der Migrationsdruck. Die USA, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die einzige wirkliche Weltmacht, werden weiterhin eine überragende Rolle spielen. Allerdings hält es Schmidt für wahrscheinlich, daß auch China in eine Weltmachtposition aufrückt. Der Europäischen Union gibt Schmidt keine Chance, eine "Gegenmacht" zur amerikanischen Supermacht zu werden. Das könnten die "imperialistischen Kräfte in Washington" durch eine Politik des divide et impera, nicht zuletzt durch Einsatz finanzieller Hilfen für einzelne Staaten, leicht verhindern.

Etwa ein Drittel seines Buches widmet Schmidt dem "Imperium Americanum", dessen historische Wurzeln, Stärken und Schwächen und strategische Optionen er näher betrachtet. Die globale Dominanz des amerikanischen Kapitalismus beruhe überwiegend auf Leistung. 4,6 Prozent der Weltbevölkerung erzeugten 21 Prozent des Sozialprodukts der ganzen Welt. Die schiere Größe des amerikanischen Markts bewirke eine weitgehende Unabhängigkeit von Exporten (nur sieben Prozent des US-Sozialprodukts). Die einzige wirkliche Gefahr für die Weltmachtposition des amerikanischen Kapitals sieht Schmidt in der von Jahr zu Jahr wachsenden Auslandsverschuldung der USA, die er auf die ebenfalls wachsenden Defizite in der Handelsbilanz zurückführt. Die Auslandsverschuldung der USA betrage gegenwärtig 3.000 Milliarden Dollar. Ein Viertel davon entfalle auf die Währungsreserven Chinas und Japans, mindestens die Hälfte auf Private in Europa, Rußland und im Mittleren Osten. Die Ersparnisse der vergleichsweise armen Chinesen finanzieren die defizitäre amerikanische Handelsbilanz! Die wachsende Abhängigkeit von Finanzspritzen, die die amerikanische Politik nur bedingt beeinflussen kann, bildet für die USA ein großes Risiko.

Kritisch beurteilt Schmidt die Irak- und Mittelost-Politik vor allem der amtierenden Bush-Administration Bush. Nach dem völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak müßten die USA die Stabilisierung des von ihnen besiegten Staates "vornehmlich" selbst bewerkstelligen. Für den ganzen Mittleren Osten sei "die Eindämmung, wenn schon nicht die Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes" eine Schlüsselfrage. Wer die "kompromißunwillige Haltung" der letzten israelischen Regierungen kritisiere, werde des Antisemitismus bezichtigt. Daher sei jeder deutschen Regierung Zurückhaltung anzuraten. Die Regierenden in Paris oder London, zumal aber in Washington seien sehr viel freier; der Vorwurf des Antisemitismus werde an ihnen nicht haften bleiben. Schmidt bedauert, die Politik der USA gegenüber Israel und den Palästinensern sei seit dem Abkommen von Camp David 1977 "schwankend und inkonsistent" geworden: "Die Ursachen liegen erkennbar in der amerikanischen Innenpolitik."

Das Lieblingskapitel des Autors sind offensichtlich die etwa zwanzig Seiten, auf denen er "Amerikas strategische Optionen" erörtert. Bei sieben Problemkreisen sieht er die Notwendigkeit einer amerikanischen Gesamtstrategie, die die "gegenwärtig nahezu ausschließliche Fixierung auf den Terrorismus" ersetzt. Dazu gehören folgende Fragen: Wollen die USA die Charta der Vereinten Nationen weiterhin auch für sich selbst anerkennen, oder wollen sie unilateral handeln? Will Amerika ein vereinigtes Europa als Partner oder Vasall? Was ist aus amerikanischer Sicht der künftige Zweck der EU und der Nato? Will Amerika im Mittleren Osten eine Befriedung oder eine gewaltsame Umgestaltung herbeiführen? Sind die amerikanischen Eliten bereit, dem Islam mit Respekt und Dialogbereitschaft zu begegnen, oder riskieren sie den clash of civilisations? Welche Strategie verfolgen die USA gegenüber Rußland, wegen des Besitzes von Atomwaffen und nach eigenem Verständnis immer noch "Weltmacht"? Wie ist das militärische Verhältnis der USA zu China? - In allen diesen Punkten will Schmidt wohl auch die Diskussion in den USA beeinflussen. Dem deutschen Leser bietet sein Buch genügend Argumente zur Entscheidung, was denn jeweils das deutsche Interesse sein könnte.

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn, von1992 bis 1999 Direktor der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien

Altbundeskanzler Helmut Schmidt (2004): "Will Amerika ein vereinigtes Europa als Partner oder Vasall?"

Helmut Schmidt: Die Mächte der Zukunft. Gewinner und Verlierer in der Welt von morgen. Siedler Verlag, München 2004, 239 Seiten, gebunden, 19,90 Euro


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