© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/04 15. Oktober 2004

Genie an einer Zeitenwende
Ein prachtvoller Band dokumentiert das Werk des fränkischen Bildhauers und Kunstschnitzers Tilman Riemenschneide
Wolfgang Saur

Schönheit war der Tradition die Bekundung göttlicher Herrlichkeit in sinnlicher Erscheinung: daß die Welt auf ihren Ursprung hin transparent werde. "Gottes unsichtbares Wesen, das ist Seine ewige Kraft und Gottheit", so Paulus, "wird ersehen seit der Schöpfung der Welt und wahrgenommen an seinen Werken."

Freilich: Ist für den Christen die Wahrheit "offenbart", so nicht schon deshalb auch "offensichtlich". Heißt: "Registriere" das Lebendige nicht bloß, sondern schaue es geistlich an, erkenne es. Der Schöpfung als Entfaltung Gottes antworte der Mensch mit Er-Innerung, geistiger Umkehr. In ihr stülpt die Welt sich um: Einfalt. Das geschieht in Meditation, durch intellektuelle Erkenntnis, im künstlerischen Schaffen. Selbstüberschreitung zur Mitte hin, Anstrengung des Begriffs und Gestaltung einer Weltordnung von sinnhaft-anschaulicher Evidenz - alle drei sind Pilgerwege und Kampfstraßen: gegen das Chaos der Eindrücke, den Schutt der Tatsachen, die Eitelkeit des Ich, für die Kehre zum Selbst, die Wende ins Wesen.

Der russische Religionsphilosoph Pawel Florenskij hat die Frage theologisch pointiert: Was ist es mit dem menschlichen Gesicht? Er spricht von "Maske - Gesicht - Antlitz". Bezeichnet erstere die Gebärdenkonvention der sozialen Rolle und das "Gesicht" das alltägliche Aussehen, porträtierbar, ist theologisch der Mensch zudem noch "Ebenbild Gottes". Der göttliche Keim, seine "innere Gestalt", existiert indes nur als verborgene Struktur, als Potential, Verheißung. Manifest wird diese, tritt das Antlitz hervor: "Alles Zufällige (...) wird hier durch die göttliche Energie verdrängt, die wie eine Quelle hervorsprudelt, die eine massive Materialschicht durchstoßen hat: das Gesicht ist zum Antlitz geworden. Das Antlitz ist das im Gesicht verwirklichte Ebenbild Gottes."

So mag man Kunst und Glauben aufeinander beziehen. Hier wurzelt jedenfalls Tilman Riemenschneider, frommer Bildschnitzer, dessen Imagination ganz vom menschlichen Gesicht lebt, dem Antlitz zustrebt, der Schau, um "Zeuge der Seligkeiten" zu sein.

Riemenschneider (1460-1531), aus Heiligenstadt, dann Würzburger Bürger, Stern deutscher Plastik und Meister monumentaler Altarkunst um 1500, war ein herbstlicher Mann des Mittelalters, ein spätgotischer Mensch. Seltsam überlappen sich in diesen Jahren alte und neue Zeit: Es sterben die Großen der Renaissance um 1520, Italien erlebt den "Sacco di Roma", die Plünderung Roms 1527, Deutschland die Reformation, das Schisma, den Bauernkrieg (1525), Zerstörung von Kirchengut und Klöstern, Religionskrieg. So endet die "frühe Bürgerzeit" und ihre Kunst. Zeit auch Riemenschneiders und seiner Kollegen: der Maler Dürer, Grünewald, Cranach und Holbein, der Plastiker Veit Stoß, Peter Vischer, Adam Krafft, Michael Pacher.

Fünfzig Jahre hat Meister Till die Kunst Mainfrankens dominiert, als Steinmetz, Bildschnitzer und Gestalter großer Altäre deren Stilperiode (1450-1530) geprägt, hat diese Monumentalform künstlerisch perfektioniert. Aus tiefer Intuition, mit raffinierter Technik schafft er Charaktere, individuell, doch um so geistiger aufgefaßt. Im inneren Gleichklang schwingen die Figuren; die Gebärden und Mienen strahlen milde, feierlich, zeigen Sanftmut, Frieden, Ernst. Und über alle ist tiefe Schwermut hingebreitet.

In höchster Vollendung verkörpert das die Beweinungsgruppe von Maidbronn (1526): Ein plastisch gestalteter Altaraufsatz aus Sandstein, gleich den früheren, herrlich bewegten Gruppen aus Lindenholz, mit denen Riemenschneider fränkische Kirchen ausgeschmückt hat. Der Meister schildert die Beweinung nach der Kreuzabnahme. Es herrscht stumme Trauer, eine ins Erhabene gesteigerte Stille. Die weiche Körpermodellierung führt das sanfte Licht, geschmeidig, fließend - nicht hart, kontrastreich, expressiv. So gewinnt das Beweinungsmotiv - typisch für die Andachtsfrömmigkeit der Zeit, die gern sich in die Passion versenkt - seine ideale Formgestalt. Zwischen dem exaltiert veristischen Grünewald und der Dramatik des Veit Stoß nimmt die Erschütterung sich in gefaßte Ruhe zurück. Hanswernfried Muth schreibt hierzu: "Der tragende Grund des Einsseins ist die gemeinsame Trauer, das gemeinsam ertragene Leid, die innige Verehrung des Erlösers. Die leisen Äußerungen des Schmerzes und die Andacht des Schauens halten sich einem schwebenden Gleichgewicht, aus dem die Stille erwächst, die sich auf die Trauernden senkt."

Das gibt die Quintessenz. Man entnimmt sie einem prachtvollen Bild- und Textband über den Meister, den Julius Echter - parallel zum Stadtjubiläum und den aktuellen Riemenschneider-Ausstellungen in Würzburg (JF 18/04) - jetzt publiziert hat. Dem Kommentar zur Maidbronner Beweinung (aus der Feder des Riemenschneider-Kenners und langjährigen Würzburger Museumsdirektors Muth) korrespondiert linksseitig das Foto des Altarbilds, dessen sorgfältige Ausleuchtung den spezifischen Formcharakter, die malerisch-lyrische Verinnerlichung uns vermittelt. Toni Schneiders, oft ausgezeichnet, bekannt durch zahlreiche Fotobände aus aller Welt, verantwortet die Bildausstattung. Trotz reicher Literatur und Bilddokumentation zu Meister Till seit 150 Jahren hat Echter sein Gesamtwerk neu abgelichtet. Aber wie! Prachtvoll im ganzen, manches davon großartig.

1981 legte der Verlag den "Zeugen der Seligkeiten" vor, einen Band zu Bildern Riemenschneiders. Dessen Gestaltungsprinz übernimmt nun die aktuelle Publikation: Einer ganzseitigen Bildtafel (links) ist je eine Textseite (rechts) mit Werkentstehung, Analyse, ikonographischem Kommentar und einfühlsamen Bildbeschreibungen zugeordnet.

Inhaltlich freilich liegt jetzt ein kunsthistorisches Opus vor, mit neuer Kenntnis das Gesamtwerk erschließend, ohne dabei das Kunsterlebnis fachmännisch zu erdrosseln. Das erreicht eine Disziplin der schlanken Texte und eine fotografischen Intuition, die den Betrachter direkt ins Werk führt. So glückt die schwere Gratwanderung: sachlich die kunsthistorische Dokumentation zu erfüllen und - im Kontrast zur bildästhetischen Öde langweiliger Ausstellungskataloge - qualitativ ein echtes Kunstbuch herzustellen. Riemenschneider zu fotografieren, ist eine Herausforderung. Der Knackpunkt dabei: die rechte Ausleuchtung; von Schneiders fast immer optimal gelöst.

Kunsthistorisch toppt die Novität ältere Titel sowieso. Die Forschung hat dazugelernt seit Gerstenbergs klassischem Werk (1941-55). Das betrifft etwa die Wiederentdeckung des Windsheimer Apostelaltars (Kurpfälzisches Museum, Heidelberg) 1950, Zuschreibungen bislang unbekannter Frühwerke in Alabaster oder die Rekonstruktion des Magdalenenaltars zu Münnerstadt (1979-81).

Seit je hat man Riemenschneiders Realismus, die lyrische Vertiefung und seine individuelle Beseelung gerühmt. Polemisch könnte man die Delikatesse seiner Gestaltung womöglich für "lau" halten. Fehlanzeige! Schon Wilhelm Pinder hat das zurechtgerückt: "Stoß war ein unverbindlicher Einsamer, Riemenschneider ein verbindlicher Anreger und Lenker. (...) Es wäre falsch, aus Gemäßigtheit auf mäßige Leistung, aus Sanftheit auf Schwäche, aus gepflegtem Gefühl für Fläche gar auf Flachheit zu schließen. (...) In aller Sachtheit des Auftretens besitzt er eine bahnbrechende Entschiedenheit." So ist es.

Eine gewaltige Innovation etwa: die Farblosigkeit seiner Altäre. War bislang Buntheit die Regel (auch seine Meisterwerke wurden teils farbig gefaßt), so zielt seine Genie nach der Holzform selbst, die er subtil behandelt: eine sensible Kultur der Fläche. Einzig seine Handschrift: die plastische Haut der Figuren, die Stofflichkeit der Gegenstände. Desto erstaunlicher, wägt man die Materialien: das Lindenholz, der Sandstein; Marmor. Zumal der Verzicht auf Kolorit den Künstler zwingt, "die Arbeit des Faßmalers (zu) integrieren" (Muth). Höchste Kunst der Nuance erreicht er nun selbst, als Schneider, als Metz: lederne Haut über ein Greisenantlitz gespannt, Brokat und Ornament zart ausmodelliert und Raumtiefen plastisch gestaffelt - so die erzählenden Reliefs der Seitenflügel.

Des Meisters Themenkatalog war - für moderne Augen - klein: Kruzifixe, Madonnen, Engel, Heilige, dann Grabdenkmäler für Ritter, Bischöfe; nicht zuletzt sein phänomenales Kaisergrab im Bamberger Dom (1513).

Trotz der Beschränkung ist ein Letztes hier erreicht, ist hier der Kreis des Schöpferischen ausgeschritten. Intensität, Vertiefung, Präzision: vollkommene Gestalt der Figuren wie auch der Gruppen, dann: die großen Altäre als Gesamtkunstwerk. In ihnen zeigt mittelalterliches Weltbild sich als Komplexsymbol. Der Heilig-Blut-Altar in Rothenburg selbst wird zur gewaltigen Monstranz, die "Himmelfahrt Mariens" (Creglingen) führt das Motiv der Himmelsbewegung total durch: Maßwerk, flammende Kielbögen bis in die jubilierende Form des zur Spitze strebenden Gesprenges: das mächtige, kosmologische Panorama einer Himmelsleiter, die Gott und Mensch verbindet.

All das bringt uns der neue Band nah. Er zählt damit zu den schönsten Neuerscheinungen des Jahres.

Ausschnitt der "Beweinung Christi" (Sandstein, 1520-1522): Ins Erhabene gesteigerte Stille

Hanswernfried Muth, Toni Schneiders: Tilman Riemenschneider Bildschnitzer zu Würzburg. Echter Verlag, Würzburg 2004, gebunden, 256 Seiten, 89 ganzseitige Abbildungen, 49 Euro


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