© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/04 15. Oktober 2004

Alte Mythen und neue Gefahr
von Bernd Rabehl

Die Faschismusjäger sind wieder unterwegs. Der fehlende Gleichklang mit der öffentlichen Meinung in Mitteldeutschland und die kleinen Wahlerfolge rechtsorientierter Gruppen und Parteien in Brandenburg und Sachsen machen die Ideologieproduzenten nervös. Sie wittern Aufruhr und Niedergang. Unzählige Sozialarbeiter, Schönredner, Verfassungsschützer, Professoren und Dozenten werden angeheuert und auf das aufmüpfige Volk losgelassen. Sie schreiben Expertisen, Gutachten und Stellungnahmen, erheben empirische Untersuchungen und konzipieren Programme für die Aussteiger, die den "rechten Rand" verlassen sollen. Millionen von Euro werden ausgeschüttet und Hunderte Arbeitsplätze geschaffen, um diesen unangenehmen "Radikalismus" zu bekämpfen. Rechtsradikalismus wird als "soziale Krankheit" betrachtet. Den Infizierten werden Gegenmittel verschrieben, Spritzen gesetzt und Kuren gewährt.

Von "Ewiggestrigen" ist die Rede. Unbelehrbare Reaktionäre oder gar Parteigänger des Nationalsozialismus verstreuten ihre rassistischen und menschenfeindlichen Ansichten. Millionäre und Wundertäter redeten der Jugend falsche Ziele ein. Sie beuteten die Angst der Arbeitslosen und einer hoffnungslosen Jugend aus und trommelten demagogisch ihre Parolen in die Seelen der Menschen. Sie arbeiteten mit allen Tricks der modernen Propaganda. Aufzüge, Lautsprecher, Fackeln, Gesichter, Plakate, Märsche, Symbole würden als Zeichen genutzt, jenseits rationaler Argumentation und Beweisführung reaktionäre Weltsichten zur Geltung zu bringen. So jedenfalls dröhnt die Propaganda etablierter Politik und Medien.

Die Faschismusjäger betrachten nicht nur die Wähler der Rechtsgrup-pierungen als dumm und verführbar. Das ganze Wahlvolk wird als eine infantile Masse gesehen. Die große Mehrheit anerkenne die Fürsorge und die guten Absichten der Staatsparteien, und nur eine Minderheit lasse sich von rechten "Rattenfängern" beeindrucken. Kein Wort wird über die eigene Unfähigkeit, die Borniertheit der Herrschenden, ihre Selbstgerechtigkeit, die Korruption und Inkompetenz verloren. Zur großen Lüge gehört, den Gegner zu dämonisieren. Seit Jahrzehnten wird die Faschismuskeule geschwungen, um jede Form von Radikalismus gleichzusetzen und in die Nähe der NS-Diktatur zu rücken. Geschichte scheint sich einfach wie die großen Krisen zu wiederholen, und stets soll den Anfängen gewehrt werden, um ein neues 1933 zu vermeiden. Diese Sicht von "Faschismus" als Angstmache, Demagogie, Infantilität, Krankheit, Wahnsinn, Wiederholung und Gleichsetzung verrät einen "Extremismus der Mitte", der jedes Maß verloren hat.

Lenin hat in den Revolutionsschrif-ten zwischen 1916 und 1923 einen derartig existentialistischen Radikalismus begründet, der die unterschiedlichen Gegner, ob es sich um Sozialdemokraten, Konservative, Liberale, Anarchisten oder Linksradikale handelte, unter dem Feindbild der Konterrevolution vereint. Die kommunistischen Nachfolger entwickelten nach diesen Vorgaben die unterschiedlichen "Faschismen", die je nach Situation benannt wurden: Sozial- und Klerikalfaschismus, Mussolini- und Linksfaschismus, den "Hitlerfaschismus" und die anderen Varianten von Faschismus, die jeweils die Namen von Pilsudski, Horthy, Franco, Anto-nescu, Vargas oder Perón trugen. Bei dieser Dämonisierung der vielen antikommunistischen Feinde wurden die Ursachen und die Radikalität des Nationalsozialismus fast übersehen. Was bei Lenin vielleicht noch einen Sinn machte - die unterschiedlichen Gegner des bolschewistischen Rußlands als Einheit zu sehen -, wurde bei den Kommunisten zum Unsinn gesteigert, denn diese Faschismusfurcht war Ausdruck der eigenen Unsicherheit und oft der Formidentität mit dem Gegner, und der Kampf gegen den Faschismus traf in den Säuberungen die eigenen Leute. Selbstverständlich wurden Trotzki, Bucharin oder Sinovjev als die Buhlen des europäischen Faschismus gesehen.

Die DDR übernahm diesen Faschismusverdacht und steigerte ihn zum Mythos. Ein Staat, der seine Existenz den russischen Siegen über Hitlerdeutschland verdankte und der aus einer Besatzungsdiktatur hervorging, der keinerlei Souveränität besaß und 1989 einfach aus der sowjetischen Vormundschaft in die deutsche Einheit entlassen wurde, benötigte die antifaschistisch demokratische Neuordnung, um als Neubeginn eine "Revolution" vorzutäuschen. Um antifaschistisch auftrumpfen zu können, wurde nun der deutsche Gegenstaat, die Bundesrepublik, zur imperialistisch faschistischen Restauration mystifiziert. Es wurde so getan, als verkörperten die NS-Beamten in Staat, Verwaltung, Justiz und Bildung die Faschisierung Westdeutschlands. Aber auch die linken Gegner der DDR gerieten in den Geruch faschistischer Umtriebe. Unzählige Kampagnen wurden propagandistisch ins Werk gesetzt, um den Weststaat in die Nachfolge der NS-Diktatur zu setzen. Nur im Gegensatz zu diesem Feindbild konnte die DDR sich zum "besseren" und neuen Deutschland erklären. Dafür gab es kaum Beweise. Die permanente Wiederholung dieser Behauptungen schuf als Scheinrealität einen Mythos, der so lange "Wirklichkeit" gewann, solange die Propaganda lief und diese im eigenen Volk und in der Weltöffentlichkeit Glauben fand. Verlor er diese inszenierte Realität, wurde die Lüge sichtbar.

Über die Sozialdemokratie und die Partei der Grünen fand dieser Mythos nach 1998 eine eigenartige Auferstehung. Die SPD hatte bereits zu diesem Zeitpunkt ihre traditionelle Basis verloren und war zu einer Partei des Mittelstandes und öffentlichen Dienstes mutiert. Eine derartige Veränderung löste die traditionellen sozialdemokratischen Werte auf und ersetzte sie durch die wohlfeilen Sprüche von Werbe-firmen. Die Entpolitisierung rührte an der Substanz einer Partei, die vorgab, den "Wohlstand" zu verwalten. Solange alles im Lot blieb, reichte es aus, Umfrageergebnisse auszuwerten und je nach Lage Parolen zu finden, die die Wähler motivieren sollten, Zuspruch zu geben.

Diese Kooperation von Werbung und Empirie geriet ins Wanken, sobald ein Teil des Volkes in Arbeitslosigkeit und Armut entlassen wurde und Opposition aufkam, die außerhalb der vorgegebenen Rahmens agierte. Solange der Unmut des Volkes nur Wahlent-haltung bedeutete, wurde nicht viel geklagt. Erst im Augenblick der Radikalisierung in Richtung außerparlamentarischer Demonstrationen wurde an die Faschismuskeule erinnert, die irgendwann auch die linken Radikalen von PDS, MLPD oder Attac erreichen wird, sofern sie sich nicht in ein Regierungsbündnis einbinden lassen. Der Faschismus-mythos wurde erfunden, um die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten nicht zu benennen. Eine Partei, die keine politische Substanz mehr besaß, konnte sich auf soziale Widersprüche überhaupt nicht mehr einlassen. Sie war zu einer Mythologisierung von Politik gezwungen.

Die heutigen Führungsspitzen der Grünen, früher einmal organisiert in den unterschiedlichen K-Parteien und Spontigruppen, gerieten in den siebziger und achtziger Jahren unter Fa-schismusverdacht von SPD und DDR. Die "Putztruppen" in Frankfurt mußten mit dem Antisemitismusvorwurf leben, weil ihre Aktionen gegen jüdische Häuserspekulanten gerichtet waren. Die Maoisten wurden mit dem Faschismusverdacht konfrontiert, weil sie der chinesischen Kulturrevolution und dem Terror Pol Pots in Kambodscha ihre Zustimmung gaben. Sie erlangten ihren Zivilstatus erst in dem Augenblick zurück, wo sie Machtpositionen bei den Grünen erobert hatten und diese auf Koalitionen mit der SPD einstimmten. Heute schweigen sie, sicherlich um NPD oder DVU nicht zu entlasten, aber auch um die eigene "faschistoide" Vergangenheit nicht an die Öffentlichkeit zu bringen.

Der Gesinnungswandel damals gibt heute noch immer Rätsel auf. Jedenfalls zahlte sich ihr Schweigen aus. Sie verteidigten Machtpositionen im Staat, und sie konnten in der Krise sogar den Koalitionspartner an den Wahlurnen beerben. Für die Jungwähler leuchteten die alten, grünen Idylle und Utopien. Als zentralistische Führerpartei, die den Direktiven des Außenministers genügt, erinnert sie allerdings eher an die anderen Führerparteien im rechten Lager. Diese Ungereimtheiten werden in der herrschenden Ideologie nicht erwähnt. Zur Mythologisierung des Feindes gehört die Idealisierung des Freundes. So gesehen bilden die Polemiken der SPD gegen Rechts und das Schweigen der Grünen eine Einheit.

Das Lagerdenken entstand im europäischen Bürgerkrieg nach 1917/18. Die Linke stand scheinbar für Demokratie, Menschenrechte und Sozialismus. Selbst der bolschewistische Kommunismus schien in letzter Konsequenz diesen Idealen zu folgen. Die Rechte verkörperte dagegen die Konterrevolution. Ihre Konzeptionen bezogen sich auf Volk, Nation, Rasse, Antisemitismus und Führerdiktatur. Die ideologischen Frontstellungen lebten von dieser Differenz. Sie wurde radikalisiert durch das Nürnberger Tribunal der Siegermächte, das über die deutschen Kriegs- und Diktaturverbrecher zu Gericht saß. Alle rechtsorientierten Gruppen oder Parteien trugen die Last von Massenmord und Holocaust: Ihre Ideologien müßten letztlich im totalen Krieg der NS-Herrschaft münden. Dadurch wurde die Linke freigesprochen. Die Völkermorde in der Sowjetunion zählten nicht. Der totale Krieg der Siegermächte gegen die deutsche Zivilbevölkerung erhielt das Zeichen der Gerechtigkeit. Eine Aufrechnung blieb unstatthaft. Der Aggressor im Zweiten Weltkrieg, also Deutschland, trug die Bürde aller Verbrechen. Er stellte das "auserwählte Volk" der Mörder. Nach diesem Denken gerieten Bemühungen, an die nationale Souveränität oder Selbstbehauptung der Völker zu erinnern, in den Geruch von Faschismus und Verbrechen.

Eine derartige Sichtweise folgte einer Gesellschafts- oder Geschichtsphilosophie, die ein bestimmtes Ziel verfolgte. Sozialer Fortschritt und humanes Recht bildeten die Kernpunkte ihrer Entwicklung. Jede Abweichung von diesen Idealen beschwor Krieg und Verbrechen herauf. Korrespondierte diese Weltanschauung mit der gesellschaftlichen Realität, konnte dagegen nichts eingewandt werden. Die NS-Herrschaft und der Zweite Weltkrieg würden eine Zäsur bedeuten. Jedes Abgleiten in völkische oder rassistische Vorstellungen würde den Extremismus der NS-Diktatur aktualisieren. Aber wie verhalten wir uns, falls dieser Geschichtsopti-mismus keinerlei Gültigkeit besitzt und im Gegenteil im Namen des Fortschritts und der Menschenrechte neue Kriege und Massenmorde durchgeführt oder vorbereitet werden?

Die agierenden Rechts- und Linksgruppen erleichterten uns das Urteil. Sie bewegten sich in ihrer Überzahl in den Legenden der europäischen Bürgerkriege. Die einen imitierten Sprache und Symbole der Kommunistischen Internationale der unterschiedlichen Perioden. Die anderen gefielen sich in den Rangzeichen und Uniformen des Nationalsozialismus. Sie fanden in dieser Aufmachung nur eine geringe Zahl von Parteigängern. Sie blieben eine Randerscheinung.

Nach dem Zusammenbruch der DDR und des sozialistischen Lagers und vor allem nach dem Scheitern des modernen Kapitalismus in den Fragen von Wohlstand und Vollbeschäftigung entstanden vor allem in Mitteldeutschland soziale Milieus, die zwar links oder rechts eingefärbt zu sein schienen, jedoch ein eigenes Format erlangten. Proteste gegen den ideologischen Jargon der Herrschenden und gegen die kulturelle Enteignung eines Volkes entstanden bereits in der DDR und bildeten hier durchaus Tradition. Die Entwertung von Beruf, Qualifikation und Arbeitskraft und vor allem die Entkopplung der persönlichen Existenz von den Lebensbereichen von Arbeit und Kultur schufen einen Pauperis-mus, der außerhalb der sozialen Ordnung lag. Ganze Teile der Jugend von den "gesellschaftlichen Errungenschaften" auszugrenzen, schuf nicht nur Unmut, sondern war Bestandteil einer sozialen Differenzierung, die zwei Stockwerke bzw. zwei "Nationen" schuf. Die einen blieben eingebunden im staatlich oder privatkapitalistisch geregelten Arbeitsmarkt, die anderen standen außerhalb oder wurden staatlichen Zwangsmaßnahmen von Gefängnis, Bewahrung oder Arbeitsdiensten ausgesetzt.

Der dem Faschismus zugeschriebene Totalitarismus legte nun seine Spuren in einer scheinbar demokratisch verfaßten Ordnung. Die Rechtsideologien von NPD und DVU liefern für die Wähler erste Orientierungen, weil die Staatsparteien jeden Bezug zur deutschen Kultur verloren haben. Sie trumpfen als Europa- und Globalisierungs-parteien auf, denen die soziale Angst der Wähler gleichgültig ist. Solange sie Fragen der nationalen Identität ausklammern, schüren sie die breite Bewegung der Nichtwähler und der rechten Sympathisanten. Allerdings wird deutlich, daß dieser "Extremismus" einen Übergang darstellt und sich schnell den Fragen der sozialen Ausgrenzung und der nationalen Minderwertigkeit nähert. Die alten Rechtsideologien haben keine Antworten auf die neuen Probleme.

Radikalisiert wird diese Situation durch die Weltlage. In dem Staatenbündnis, das ein neues Europa schaffen wollte und den Kampf gegen den "internationalen Terrorismus" aufgenommen hatte, hat sich rasch eine Hierarchie gebildet, an deren Spitze die USA stehen und in dessen Mittelfeld Deutschland zu finden ist. Der deutsche Staat hat seine Souveränität nach Brüssel und nach Washington abgegeben. Die USA legen die neue Weltordnung fest und bestimmen die politischen und militärischen Interventionen. Die Konturen von neuen Kriegen werden sichtbar. Diese verlieren das militärische Maß. Paramilitärische Einheiten und Partisanen tragen diese Kriege als Sabotage und Terroraktion in europäische und nordamerikanische Großstädte. Die Art von Krieg als Militäraktion und Partisanenkampf wird in Afghanistan und im Nahen Osten vor allem auch gegen die Zivilbevölkerung geführt. Ein rechtlich und politisch ent-grenzter Krieg erlangt von Anfang an das Ausmaß von Völkermord.

Die "westliche Welt" schien gegen derartige Versuchungen gefeit und folgte weiterhin den Werten von Demokratie und Menschenrechten. Sie schienen eine Barriere gegen alle Versuchungen darzustellen, einen totalen Rassenkrieg zu führen. Aber es hing ab von dem moralischen Zustand der politischen Eliten und von der "Logik" des Krieges, ob diese subtile Totalisierung von Technik und Kampf Staat und Gesellschaft erreichte.

Für die Paupers oder für das ent-grenzte, untere Stockwerk der Gesellschaft galten diese Werte nur bedingt. Der Neoliberalismus birgt offenbar eine Ideologie hinter der Ideologie, die dem Selbstlauf einer globalisierten Wirtschaft folgt. Diese schränkt die verfassungsmäßig verbrieften Freiheits- und Sozialrechte so weit ein, daß sie Zwangsregelungen und Kontrollen weichen. Dadurch wird ein Tor aufgestoßen, das weiteren Ausnahmegesetzen Raum gibt. Genügt das internationale Recht diesen innerstaatlichen Tendenzen, werden die rechtsstaatlichen Ordnungen aufgelöst und weichen Staatstypen mit partiell diktatorischen Ansprüchen. Wurde von dieser aktuellen Zukunft her "Faschismus" diskutiert, gewann er mit den realen und potentiellen Verbrechen eine neue Dimension. Er war nicht länger beschränkt auf den europäischen Faschismus oder auf den deutschen Nationalsozialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Schon aus diesen Gründen sind die herrschenden Parteien in der Bundesrepublik bemüht, den alten Mythos des Faschismus aufrechtzuerhalten. Über die neuen Gefahren, an denen sie selbst beteiligt sind, soll nicht gesprochen werden.

 

Prof. Dr. Bernd Rabehl, Jahrgang 1938, war engster Vertrauter des Studentenführers Rudi Dutschke und einer der wichtigsten Theoretiker der Apo und des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Von 1973 bis 2003 lehrte er Soziologie an der Freien Universität Berlin.


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