© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/04 22. Oktober 2004

Geschichte
Die vergessenen Gedenktage
Dieter Stein

Der Untergang" von Bernd Eichinger hat bereits über drei Millionen Zuschauer in die deutschen Kinos gelockt. Der Film über die letzten Tage Hitlers im Führerbunker bildet den ersten großen Auftakt zum Jubiläumsjahr 2005, in dem ein Datum im Mittelpunkt stehen wird: der 8. Mai 1945. Der Tag, an dem vor 60 Jahren die Deutsche Wehrmacht die totale Kapitulation erklärte.

Unweigerlich wird wie schon 1995 die Frage diskutiert werden: "Besiegt oder befreit?" Richard von Weizsäcker hatte 1985 als damaliger Bundespräsident in einer umstrittenen Rede vor dem Bundestag, die in liberalen Feuilletons bejubelt wurde, dazu den bedeutendsten Anstoß gegeben.

Inzwischen scheint die Frage entschieden worden zu sein. Den alliierten Erklärungen zum Trotz ("Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat" - so die amerikanische Besatzungsdirektive JCS 1067) entfaltet die offizielle BRD-Geschichtsmystik ein Panorama der selbstlosen Befreiung Deutschlands von der faschistischen Bestie. Ein Ammenmärchen.

Der 8. Mai 2005 wird der wichtigste Tag in der nationalen Buß-Liturgie des kommenden Jahres werden. Nach den bisherigen Plänen soll an diesem Tag zudem das dann fertiggestellte monumentale Holocaust-Mahnmal in Berlin eingeweiht werden, dessen tonnenschwere Betonmasse der deutschen Hauptstadt nicht nur das weltgrößte Kainsmal aufdrückt, sondern auch den Fixpunkt neuer deutscher Identität markieren wird.

Doch zeigen sich nicht erst seit heute Risse an dieser Konstruktion eines homogenen deutschen Täter-Mythos, der schon wieder hybride Züge trägt. Günter Grass' Novelle über den Untergang des ostpreußischen Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff ("Im Krebsgang") und Jörg Friedrichs Buch "Der Brand" über den Bombenkrieg gegen deutsche Städte, der 1944/45 seine infernalische Vernichtungskraft entfaltete, ließen erste Lichtkegel auf andere, vergessene Markierungen der deutschen Geschichte fallen.

Es gibt Anzeichen dafür, daß das Thema der Vernichtung Deutschlands 1945, die alptraumhafte Niederlage in all ihren Facetten und nicht die "Befreiung" stärker ins Visier geraten könnte. Eine Vernichtung, die übrigens nur deshalb nicht vollendet wurde, weil die Teilung in einen westlichen und einen östlichen Teil im Rahmen der eskalierenden Blockkonfrontation dem Rumpf Deutschlands eine neue Aufgabe zuwachsen ließ: als Kampfzone des Westens und der Sowjetunion wieder aufgerüstet zu werden.

Diese Zeitung wird in einer lockeren Serie "Vergessene Gedenktage" an die tragischsten Ereignisse des deutschen Untergangs erinnern: Beginnend mit dem Massaker im ostpreußischen Dörfchen Nemmersdorf (siehe Seite 17) soll in den nächsten Ausgaben u. a. der Bombardierung Swinemündes, der Eroberung Kolbergs und der Vernichtung Dresdens gedacht werden.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen