© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/04 22. Oktober 2004

Hartz IV auf holländisch
Niederlande: Massenproteste gegen die Sparmaßnahmen der christlich-liberalen Regierung / Strukturelle Probleme wie in anderen westlichen Wohlfahrtsstaaten
Jerker Spits

Nur vereinzelt fuhren am letzten Donnerstag in den Niederlanden Busse und Straßenbahnen. Auf den Bahnhöfen herrschte eine gähnende Leere, auch die Eisenbahn (NS/Nederlandsche Spoorwegen) streikte. Eine Woche zuvor gab es in Amsterdam eine Massendemonstration gegen die Sparmaßnahmen der Regierung. Bei den Gewerkschaftlern herrscht eine große Unzufriedenheit über geplante Einschnitte in der Sozialversicherung und die Abschaffung der Frührente.

Wo normalerweise Tausende Menschen Busse und Bahn nutzen, um zur Arbeit zu fahren, liefen nur ein paar Journalisten der Bahngleise entlang, um über den Protest gegen die Sparmaßnahmen der Regierung zu berichten. Der Streik bei Bus und Bahn war der größte seit fünfzehn Jahren.

Die Demonstration in Amsterdam verlief weitgehend friedlich. Die Polizei meldete keine Vorkommnisse und sprach von einem "idealen Demonstrationspublikum". Doch es gab auch Mißklänge, wofür sich die Gewerkschaften einige Tage später entschuldigten. Radikale Demonstranten führten sogar eine Puppe mit sich, die den enthaupteten niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende darstellen sollte. Es gab auch Transparente, die die Regierungsparteien mit dem Terrornetzwerk al-Qaida verglichen.

Niederländische Zeitungen sprachen von einer Stimmung, die an die siebziger und frühen achtziger Jahre erinnerte. "Die Politik kann diesen Protest nicht einfach ignorieren", meinte Lodewijk de Waal, Vorsitzende der größten Gewerkschaft FNV, am Amsterdamer Museumsplatz, wo sich rund 200.000 Demonstranten versammelt hatten. Diese Kundgebung war die zweitgrößte in der niederländischen Geschichte.

Das niederländische Kabinett hat aber bereits angekündigt, an seinen Plänen festzuhalten. Die Regierung Balkenende, bestehend aus Christdemokraten (CDA), Rechtsliberalen (VVD) und Linksliberalen (D'66), hatte sich bereits bei ihrem Antritt für eine mehrjährige Lohnzurückhaltung ausgesprochen, die einer Verdoppelung der Arbeitslosigkeit bis 2007 entgegenwirken sollte.

Um mehr Menschen in Arbeit zu bringen, hatte die Mitte-Rechts-Koalition im Frühjahr eine Strukturreform des Arbeitsmarktes angekündigt. In den letzten Monaten nahm das Vorhaben der Regierung konkrete Gestalt an. So sollen steuerliche Vergünstigungen zur Frühverrentung in Zukunft stark zurückgefahren werden. Möglichst viele Menschen zwischen 55 und 65 sollen wieder arbeiten, ihnen wird eine Bewerbungspflicht auferlegt.

Einsparungen im Gesundheitswesen

Einen weiteren Schwerpunkt der Regierung bilden die Einschnitte im Gesundheitswesen. Einsparungen bei psychotherapeutischen Behandlungen, Zahnbehandlungen und einigen Medikamenten sind angekündigt worden. Die Krankenkassenbeiträge werden erhöht. Zugleich investiert die Regierung bis 2007 rund 4,7 Milliarden im Gesundheitssektor, um die Qualität zu verbessern und die aufgelaufenen "Wartelisten" abzubauen. Die Regierung geht nach einer strikten Haushaltsdisziplin vor. Laut Koalitionsvereinbarung sollten bis zum Jahr 2007 13,1 Milliarden Euro eingespart werden, um die Ausgaben im Bereich Bildung, Gesundheit, Sicherheit und Infrastruktur zu finanzieren.

Laut Finanzminister Gerrit Zalm (VVD) führten die Gewerkschaftler ein "Rückzugsgefecht". Die Diskussion um die Neustrukturierung des Arbeitsmarkts und die Einsparungen im Gesundheitswesen sei abgeschlossen, meinte Zalm. Das Parlament habe den Maßnahmen bereits zugestimmt. VVD-Fraktionschef Jozias van Aartsen warf den Vertretern der Gewerkschaften Populismus vor. Mit "billigen, geschmacklosen Sprüchen" und "falschen Informationen" hätten die Gewerkschaften die Bevölkerung aufgehetzt. CDA-Fraktionschefin Maxime Verhagen meinte: "Massendemonstrationen bieten keine Lösung für die Probleme, mit denen unsere Wirtschaft zu kämpfen hat. Außerdem sind solche Protestaktionen altmodisch. Die Gewerkschaften sollten ihrer Anhängerschaft deutlich machen, daß Änderungen in den Sozialversicherungsbeiträgen und die Abschaffung der Frührente notwendig sind."

Die Niederlande haben mit einer schwierigen Wirtschaftslage zu kämpfen: wenig Wachstum, zunehmende Arbeitslosigkeit, steigende Löhne, viele Arbeitsunfähige, explodierende Kosten im Gesundheitswesen und schlechte weltwirtschaftliche Entwicklungen. Diese strukturellen Probleme teilen die Niederlande mit anderen westlichen Wohlfahrtsstaaten. Manches erinnert an die Diskussion in Deutschland um die "Hartz IV"-Gesetze. Doch es gibt auch typisch niederländische Probleme: so der nach wie vor hohe Anteil der - echten wie unechten - Arbeitsunfähigen an der Erwerbsbevölkerung. Bereits in den achtziger Jahren meinte der damalige christdemokratische Ministerpräsident Ruud Lubbers, die Niederlande seien "krank".

Ein großes Problem stellt auch - wie in Deutschland - das zunehmende Altern der Bevölkerung dar. Die Anzahl der Menschen über 65 nimmt zu, die Anzahl der Geburten sinkt. Die Geburtenrate ist zu niedrig, die Lebenserwartung steigt deutlich, und die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit erreichen das Rentenalter. Ein Drittel aller Haushalte in den Niederlanden sind Einpersonenhaushalte. Nur die Ausländer weisen hohe Geburtenraten auf. Immer weniger junge Menschen werden immer mehr Alten gegenüberstehen. Diese Verschiebung bringt die Rentenkassen aus dem Gleichgewicht. Wirtschaftsexperten weisen darauf hin, daß harte Maßnahmen notwendig sind, um den Sozialstaat zu sichern. Die linke Opposition spricht hingegen wie in Deutschland vom "Ausverkauf des Sozialstaats". Wichtige Vertreter der Gewerkschaften kritisierten in der letzten Woche den in ihren Augen starren Kurs der Regierung und kündigten weitere Proteste an. Geplant sind neue Streiks bei der Bahn und in Schulen. Den Niederländern droht ein heißer ein Herbst.


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